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44. Auf unbetretenen Pfaden

Als unsere Freunde am frühen Morgen des 25. Novembers mit ihrem neuen Führer San Joaquim verließen, sagte Schulze feierlich: »Meine Herren, es ist ein großer Augenblick, ein wissenschaftliches und besonders geographisch bedeutsames Ereignis – nicht etwa, daß wir den Äquator überschritten haben und die südliche Halbkugel betreten, was schon Unzählige vor uns getan haben, sondern daß wir von San Joaquim in südwestlicher Richtung geradeswegs gegen San Paulo de Olivença vordringen und somit eine Gegend durchziehen, die überhaupt von einem Weißen noch nie betreten wurde. In diesen Ländern folgten die Europäer stets den Flußläufen, und nur Männer wie Hutten und Queseda wagten, sie zu verlassen. Ein solches Wagnis aber war mit tausend Gefahren und Schrecknissen verbunden. Nun, dank unsern guten Instrumenten werden wir nicht befürchten müssen, wie Hutten monatelang in der Irre zu gehen, vielmehr dürften wir, wenn nicht besondere Hindernisse eintreten, in neun bis zehn Tagen den Rio Japura erreichen, wenn wir auch nur dreißig Kilometer täglich zurücklegen und zwei volle Rasttage halten. Zwischen hier und diesem Flusse aber ist alles unerforschtes Gebiet, und ebenso unbekannt ist wiederum der ziemlich schmälere Landstreifen zwischen dem Japura und dem Rio Iça. Ich fürchte keine großen Schrecknisse, erwarte auch keine seltsamen Abenteuer, aber mein Herz schwillt in dem Bewußtsein, daß wir eine wissenschaftliche Tat vollführen, und auf alle Fälle die Erdkunde bereichern werden.«

»Und mir schweben große Gefahren vor Augen,« sagte Ulrich, »die uns in diesen Wildnissen erwarten, auf die ich mich aber freue, statt sie zu fürchten.«

»Und ich,« erklärte Friedrich seinerseits, »bin voller Erwartung der wunderbaren Abenteuer, die uns bevorstehen, und an denen ich nicht zweifle.«

Die beiden Brüder sollten mit ihren Ahnungen recht behalten. Vorerst freilich schien die Reise ohne alle Hindernisse vonstatten gehen zu sollen: der Weg führte durch eine baumlose Savanne, die dürr und tot, wie ausgestorben, dalag: kein Vogel ließ sich vernehmen, kein Käfer schwirrte, kein Wild regte sich, und kein Bächlein plätscherte durch den ausgebrannten Grund.

Bald aber sollte ein verhängnisvoller Unfall die Reisenden aus ihrer Sicherheit aufschrecken: sie strebten einem Wäldchen zu, das sich vor ihnen erhob, und als sie es erreicht hatten, sahen sie, daß es die Ufer eines Nebenflusses des Rio Negro säumte. Der Fluß war tief und schwer zu durchwaten: doch kamen alle glücklich hinüber, bis auf Matatoa, der auf dem letzten Maultier saß. Ein riesiges Krokodil tauchte plötzlich auf und verbiß sich im Schenkel des Maultiers. Matatoa sprang rasch mit beiden Füßen auf den Rücken seines Tieres und erreichte von da aus mit einem mächtigen Satz das Ufer. Gleichzeitig zischte aber aus den Zweigen eines überhängenden Baumes eine gewaltige Riesenschlange herab, die, unbekümmert um das Krokodil, dem Maultier ihre mächtigen Ringe um dem Leib schlang.

Dem Kaiman schien dies nicht zu passen, er ließ das Tier los, dem er ein großes Stück Fleisch aus dem Leibe gerissen hatte, und schnappte nach der Boa constrictor, die sich unter seinen scharfen Zähnen wand und sich alsbald um den gepanzerten Feind wickelte, ihn zu zermalmen. Der Biß des Krokodils hatte jedoch die Schlange so schwer verwundet, daß ihr diese Absicht nicht mehr gelang; sie fiel kraftlos ins Wasser, in das auch das zerfleischte Maultier gesunken war.

Nun machte sich der Kaiman zunächst über die Schlange her, zwei wohlgezielte Kugeln aber aus Ulrichs und Friedrichs Magazingewehren bereiteten auch seiner Rachelust ein jähes Ende.

Hatten die jungen Schützen gehofft, wenigstens die Ballen zu retten, die das Maultier trug, da es schon selber im Verenden lag, so hatten sie sich getäuscht: das Blut, das sich mit dem Wasser des Flusses mengte, zog in einem Augenblick Dutzende von Krokodilen an, die wie geschlossene Heerscharen, dicht aneinander gedrängt, sowohl das Maultier als auch die tote Boa und ihren eigenen erlegten Gefährten wütend anfielen und in wenigen Minuten vollständig zerrissen und verschlungen hatten.

Dieses grausige Schauspiel zeigte den entsetzten Zuschauern, welch schrecklicher Gefahr sie selber glücklich entgangen waren; sie beeilten sich, diesen unbehaglichen Ort zu verlassen, und bald nahm sie aufs neue die Savanne auf.

Wieder war kein Baum mehr zu sehen, alles bot den traurigen Anblick einer Wüste. Der Verlust des Maultieres ließ sich verschmerzen; aber unglücklicherweise war es eben dasjenige gewesen, dem fast sämtliche Lebensmittel aufgeladen waren, und da vorerst keine Aussicht vorhanden schien, die Vorräte irgend zu erneuern, war die Lage der Reisenden keine unbedenkliche. Zu spät nahmen sie sich vor, ein andermal die Mundvorräte auf alle Tiere zu verteilen: die augenblickliche Not konnte durch diesen weisen Entschluß nicht mehr gehoben werden.

Der neue Führer, Felipe, verhielt sich äußerst schweigsam. Ulrich hielt ihm vor, daß er versichert habe, die Gegend sei wildreich. Der verdächtige Geselle erwiderte nur: »Morgen werden wir die Wälder erreichen, die von Tieren wimmeln.«

Unkas und Matatoa, die von Anfang an kaum dazu zu bewegen gewesen waren, von San Joaquim noch weiter in ein unbekanntes Gebiet zu gehen, von dem sie unterwegs unheimliche Dinge gehört hatten, verlangten nun ernstlich und dringend zurück; dazu aber mochten sich weder Schulze noch seine jungen Gefährten entschließen: »Jetzt sind wir im Begriffe, Großes zu leisten,« sagte der Professor, »kehren wir um, und wäre es nur, um uns wieder mit Lebensmitteln zu versehen, so dürfen wir uns darauf gefaßt machen, daß uns die feigen Indianer unter keinen Umständen mehr weiter nach Süden folgen. Ob wir neue Diener anwerben könnten, ist sehr fraglich, und es wäre höchst bedenklich, bei einer Reise durch ganz unbekannte Landstriche fremde Leute mitzunehmen, von denen man nicht weiß, wie weit man sich auf sie verlassen kann. Ohne indianische Begleitung möchte ich aber auch nicht das Wagnis unternehmen. Was übrigens unsern schweigsamen Führer betrifft, so kommt er mir immer unheimlicher vor.«

Abends erreichte man endlich wieder den Saum eines Urwaldes. Da aber unsere Freunde nicht wußten, was für Gefahren er möglicherweise für sie barg, übernachteten sie auf Rat des Führers in den Llanos, wo weder wilde Tiere noch giftige Schlangen sie bedrohten, wie sie zur Genüge erfahren hatten. Im Walde, versicherte Felipe, würden sie Wild und eßbare Früchte in Menge finden.

Wer beschreibt aber den Schrecken der Betrogenen, als sie am andern Morgen entdecken mußten, daß ihr verräterischer Führer mitsamt Matatoa sie verlassen hatte. Eines der Maultiere hatten die beiden mitgenommen und ihm alle noch übrigen Lebensmittelvorräte aufgeladen: das war ein Umstand, der für die Reisenden geradezu lebensgefährlich werden konnte; dennoch ließen sie den Mut nicht sinken; denn sie bauten fest darauf, daß ihnen der nahe Wald Wild und Früchte zur Nahrung bieten werde. Ein großes Glück war es nur, daß die Schurken nicht auch die reichen Munitionsvorräte geraubt hatten, die in San Joaquim angeschafft worden waren.

Unkas zeigte eine ehrliche Entrüstung über seines Landsmanns Verrat: »Matatoa hat die Seele eines Hundes,« rief er aus. »Unkas hat ihm nie recht getraut, und Felipe war ein Sohn Jolokiamos, des Satans, und hatte die Zunge einer Schlange. Er wollte auch Unkas überreden, den weißen Männern nicht weiter zu folgen, und Unkas' Herz wurde beinahe verzagt, als der Hund ihm vorstellte, was für Schrecknisse die unbekannte Wildnis berge, und daß sie zum Lande der Amazonen führe, die alle Männer, die ihren Grenzen nahen, mit ihren giftigen Pfeilen erschießen und nur einen Monat im Jahre Männer unter sich dulden. Aber Unkas glaubte nicht, daß es ihm ernst sei, er meinte, der Heuchler wolle ihn nur ängstlich machen, um ihn hernach auszulachen. Aber nun hat er Matatoa verführt, den Sohn eines Hundes. Unkas wird jedoch seinen guten weißen Herren folgen bis ans Ende der Welt und keine Gefahren fürchten, denen seine weißen Brüder, die er lieb hat und bewundert, zu trotzen entschlossen sind!«

Unkas hielt denn auch sein Versprechen getreulich.

Eine große Enttäuschung sollte den ausgehungerten Reitern der Urwald, den sie nun betraten, bereiten: keine Spur von Wild zeigte sich, alles war stumm und ausgestorben. Endlich fanden sich wenigstens einige fruchttragende Bäume, und Friedrich sandte die hierzu wohl abgerichteten Affen hinauf: diese zeigten jedoch einen großen Widerwillen, die Früchte zu berühren, und nur auf wiederholte ermunternde und drohende Rufe hin warfen sie einige herab.

Unkas, dem das Benehmen der Affen sofort auffiel, warnte die Weißen vor dem Genusse der völlig unbekannten und seltsam geformten Früchte. Er sagte, er habe viel gehört von den schrecklichen Folgen, die der Genuß von giftigen Früchten in diesen Gegenden mit sich bringe. In der Tat waren die Äffchen trotz ihres Hungers nicht dazu zu bewegen, die verdächtigen Dinger zu kosten, und ein Maultier, das davon fraß, verendete bald darauf, nachdem ihm alle Haare ausgefallen waren. Damit waren die Reisenden der Hälfte ihrer Lasttiere beraubt.

Immer quälender wurden Hunger und Durst, und es zeigte sich keine Aussicht, sie zu stillen. An eine Umkehr war indes nicht mehr zu denken, da die Wüste hinter ihnen keine Lebensmittel bot und unsere Freunde sich zum Schlachten der Maultiere nur im äußersten Notfalle entschließen wollten.

Plötzlich stieß Unkas einen Freudenruf aus: er hatte einen gewaltigen Ameisenhaufen entdeckt, der von großen Ameisen wimmelte; nicht weit davon sah man noch mehrere solcher Haufen.

»Jetzt haben wir Nahrung genug,« versicherte Unkas, »das sind Bachaco.«

Schulze bestätigte, daß der große Fettknopf, in den der Hinterleib der Ameisen endigte, für sehr nahrhaft gelte, und daß sich in manchen Gegenden die Indianer von nichts anderem nährten.

Auch eine Palme, die sich in der Nähe befand, erregte Unkas' Aufmerksamkeit, und er nickte befriedigt, nachdem er mit seinem Beil ein Stück vom Stamme gehauen und gekostet hatte.

Obgleich unsere Freunde vor dem Verspeisen von Ameisen nicht geringen Abscheu empfanden, so trieb sie doch der Hunger dazu, diese Tiere in Massen einzusammeln.

Unkas hatte auch einen Marimabaum entdeckt, den sogenannten »Hemdbaum«, diesen fällte er und löste zylindrische Stücke der roten faserigen Rinde ab, die er über den Stamm herabstreifte, so daß sie in Form von Röhren gewonnen wurden. Solche Stücke werden von den Indianern mit Armlöchern versehen und als Hemden angezogen, wenn es stark regnet; denn das dichte Gewebe schützt vollständig vor Nässe. Nimmt man noch dazu die spitzen Mützen, die sie aus den weitmaschigen Blumenscheiden gewisser Palmenarten schneiden, so kann man sagen, daß auch vollständige Anzüge auf den Palmen der Tropen wachsen.

Unkas dachte aber nicht an eine solche Verwendung der von ihm geschnittenen »Hemden«, vielmehr verfertigte er Säcke daraus, indem er die untere Öffnung der Röhren zunähte; als Faden diente ihm Palmbast, als Nadel ein Dorn, ebenfalls von einer Palme. Die Säcke, die er auf diese Art herstellte, dienten zunächst zur Aufnahme der gesammelten Bachaco und sodann zum Trocknen und Räuchern derselben über einem rasch entzündeten Feuer.

Während dieser Zubereitung nahm Unkas eine reichliche Menge vom Marke der zuerst entdeckten Palme, das er ebenfalls am Feuer gedörrt hatte, zerrieb es zu Mehl und mischte es mit zerquetschten Ameisen zu einem dicken Teig, aus dem er Kuchen formte.

Als er damit fertig war, rief er zum leckeren Mahle: »Hier! eine vorzügliche Ameisenpaste!« sagte er, mit der Zunge schnalzend, indem er jedem einen fetten Kuchen zuschob.

Mit etwas Selbstüberwindung ließen sich denn die Deutschen das seltsame Mittagessen schmecken und fanden es, wenn nicht gerade besonders wohlschmeckend, doch recht hungerstillend. Mehrere Marimasäcke, zum Teil mit geräucherten Ameisen vollgestopft, zum Teil mit gedörrtem Palmenmark gefüllt, wurden den drei Maultieren aufgeladen. Immer undurchdringlicher wurde der Urwald, und das Vorwärtskommen war nur ganz langsam möglich; denn in einem fort mußte mit Beilen und Messern ein Weg durch Gestrüpp und Schlinggewächse gebahnt werden; an ein Reiten war schon lange nicht mehr zu denken. Wenn alles gut ging, konnte doch der Japura auf diese Weise frühestens in drei Wochen erreicht werden, statt in neun bis zehn Tagen, wie Schulze anfangs gemeint hatte.

Abends wurde nochmals eine »gute Ameisenpaste« bereitet und verzehrt, und dann gab man sich im leblosen, schweigsamen Urwald dem Schlafe hin.


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