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55. Das Geheimnis des Häuptlings

Friedrich irrte ziemlich planlos umher, fehlte es ihm doch an jeglichem Anhaltspunkt über die Richtung, in der er den Bruder suchen mußte. Gegen Mittag bemerkte er, daß er sich im Kreise bewegt hatte; denn er befand sich gar nicht weit von dem Wald, in dem das Lager der Napo aufgeschlagen war. Die Stelle, an die er soeben gelangte, betrat er zum erstenmal: es war ein niedriger Hügel, auf dessen Gipfel einige Felsblöcke im Kreise umherlagen, die ihn an die Verschanzung auf dem Islote erinnerten; möglich, daß sie zu ähnlichem Zwecke einmal von Menschenhand hierher gewälzt worden waren. Inmitten dieser Blöcke lagerte sich der Jüngling, denn er war müde und hungrig. Seinen Hunger stillte er aus den mitgenommenen Vorräten; dann streckte er sich aus und verfiel unversehens vor Übermüdung in einen tiefen Schlaf.

Zwei Stunden mochte er so geschlummert haben, als er plötzlich aufwachte, eine Hand hatte seine Stirne berührt, und legte sich nun auf seinen Mund. Friedrich fuhr auf.

»Pst, pst!« machte Schulze. »Seien Sie mäuschenstill! Entschuldigen Sie, mein Ritter Georg und Drachentöter, daß ich Ihre wohlverdiente Ruhe zu unterbrechen wagte; aber ich fürchtete, Sie möchten geräuschvoll aufwachen, wenn es gerade am wenigsten angezeigt wäre. Ich habe nämlich diesen ausgezeichneten Beobachtungs- und Lauscherposten entdeckt, und dort unten sind zwei, die offenbar Geheimnisse miteinander verhandeln. Vielleicht schnappen wir einiges auf, was uns auf Ulrichs Spur bringt.«

»Heimliches Lauschen und Ausspionieren ist nicht mein Geschmack,« erwiderte Friedrich, unwillkürlich in Schulzes Flüsterton verfallend.

»Mag sein; aber in diesem Falle ist es geboten: heimtückische Verschwörer müssen mit List entlarvt werden. Tompaipo hat mir etwas ganz Verdächtiges, er kann einen so sonderbar ansehen, als ob er Dinge wisse und Anschläge im Schilde führe, von denen wir gewöhnliche Sterbliche nichts ahnen. Es kann keinesfalls schaden, wenn wir hinter seine Schliche kommen. Und er verhandelt soeben mit einem Schurken, den ich vom Lager der Guahibo her in unangenehmster Erinnerung habe, und der auch Ihnen mehr als einmal übel mitspielte.«

Friedrich war noch lange nicht mit Schulzes Absicht einverstanden; als er aber einen Blick zwischen den Felsblöcken hindurch warf, sah er am Fuße des Hügels, kaum hundert Schritt von sich entfernt den Mestizen Don Jose de Alvarez, der mit leiser Stimme eifrig auf Tompaipo einredete.

Nun schien ihm die Sache doch wichtig!

Freilich half die äußerste Anspannung der Gehörnerven nichts, der Mestize sprach so vorsichtig, daß kaum hie und da eine Silbe für die Lauscher verständlich wurde, und Tompaipo lag, die Pfeife rauchend, da und hörte ihm mit unbeweglichen Gesichtszügen zu, nur selten ein kurzes Wort dazwischenwerfend.

Endlich schien Alvarez zu Ende zu sein; der Häuptling erhob sich langsam und würdevoll, und da er nicht bloß durch seine Körperlänge, sondern auch durch seinen Standpunkt den Mestizen überragte, mußte dieser zu ihm aufblicken. Man sah, wie lauernd Don Joses Augen sich bemühten, Tompaipos Antwort von dessen Lippen vorwegzunehmen.

Aber Tompaipo antwortete zunächst mit der Hand, eine gewaltige Ohrfeige sauste auf die hagere Wange des Mestizen hernieder, so daß der verblüffte Spanier zur Seite taumelte; alsbald stellte aber eine zweite Ohrfeige auf den andern Backen das Gleichgewicht wieder her. Blitzschnell klatschten nun die Backpfeifen abwechselnd rechts und links auf die sich feuerrot färbenden Wangen des völlig fassungslosen Opfers.

Niemals hatten Schulze und Friedrich gehört oder gesehen, daß diese europäische Art, der höchsten Entrüstung Ausdruck zu geben, bei den würdevollen Söhnen der Wildnis üblich sei. Sie mußten beinahe lachen über das köstliche Schauspiel, das sowohl der Indianer mit seinen raschen Bewegungen, die man gar nicht an ihm gewohnt war, als auch der Mestize in seinem ratlosen Staunen und seinem hilflosen Ingrimm bot.

Dazu kam, daß Tompaipo jede seiner Ohrfeigen mit der Anrufung eines spanischen Heiligen begleitete, wobei seine eigentümliche Aussprache erheiternd wirkte: »San Eschteban, Santiago de Camposchtella, San Schose, San Michel (statt Miguel), San Chrischtophoro!« so donnerte er dazwischen.

Endlich kam der Geohrfeigte so weit zur Besinnung, daß er sich durch eine rasche Flucht weiteren Mißhandlungen entzog. Er lief wie ein Hase, obgleich Tompaipo an keine Verfolgung dachte, sondern sich mit herzlichem Lachen wieder bequem auf die Erde hinstreckte: – ein lachender Indianerhäuptling – schon wieder ein neues Wunder!

Nun aber geschah etwas, was die Lauscher vollends ganz aus der Fassung brachte: Tompaipo begann mit lauter Stimme in abgebrochenen Sätzen ein Selbstgespräch zu führen, und dieses lautete also:

»Na! der Kerle hat sei' Sach! – Aber dees isch emol e saudumme G'schicht mit dene Bube! Der Ulrich hat sich e schlimme Supp' ei'brockt! ... Wann i nur wüßt', wie i den Narakatangetu – e blitzwüschter Nam', der ei'm schier 's Maul verreißt – 'rumkriege könnt'!«

Und sinnend saß er da.

Schulze glaubte den Verstand zu verlieren, er flüsterte Friedrich zu: »Bitte, kneipen Sie mich mal ins Ohr, aber man fest, daß ich total aufwache; so verrückt habe ich im Leben noch nicht geträumt!«

»Es geht mir wie Ihnen,« erwiderte Friedrich ebenso leise. »Nur daß es wahrhaftige, wachende Wirklichkeit ist!«

»Aber hören Sie mal, da hört sich doch alle Wissenschaft und Menschenmöglichkeit auf; das ist ja wohl Bayrisch oder Schwäbisch, was die olle Rothaut da redet? Wo zum Kuckuck soll der Mensch in der tropischen Wildnis das aufgeschnappt haben?«

»Gutes Schwäbisch ist es, und zwar muß der Häuptling ein geborener Schwabe sein. Ich weiß auch nicht mehr, wo wir hier dran sind; gestern redet mich ein Indianerjüngling in mittelalterlichem Hochdeutsch an, heute brummt ein alter Napohäuptling in gemütlichen Schwabenlauten vor sich hin! He da! Herr Professor, halten Sie jetzt überhaupt noch etwas für unmöglich?«

»Nee! Ich bin vollständig auf dem Nil-admirari-Standpunkt angelangt, meinetwegen darf mich jetzt das nächste beste Krokodil anreden und mir ›Mahlzeit‹ wünschen, oder unser Brüllaffe Salvado darf zu mir sagen: ›Mein Name ist Schulze, ich habe die Ehre, mich als entfernten Vetter von Ihnen vorzustellen, indem ich von einer Seitenlinie Ihrer Familie aus der Zeit der Darwinschen Entwicklungsvorgänge stamme.‹ Ich schwöre Ihnen, ich werde das als etwas ganz Natürliches und Selbstverständliches ansehen und dem guten Vetter sofort Schmollis anbieten. Ich glaube in der Tat, wir leben in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht, und überhaupt halte ich die Ereignisse, die in jenen Märchen geschildert werden, für höchst glaubwürdig und wahrscheinlich.«

»Sehen Sie,« lachte Friedrich, »das ist der Fluch der Gegensätze; wenn der eine unhaltbar wird, so verfällt man leicht in den anderen. Ich meinesteils, der ich viel mehr für möglich hielt als Sie, fühle mich trotz alles Erstaunlichen noch lange nicht in ein Märchen versetzt.«

»Aber ich bitte Sie! Eine Rothaut, die schwäbelt! Wenn er wenigstens ...«

»Jebildetes Daitsch' redete,« fiel Friedrich lachend ein. »Nein! eben die Schwaben sind, wie schon ihr Suevenname besagt, das in die Ferne schweifende Volk, und wenn sich schon ein Brahmine in Indien als geborenen Schwaben entpuppt hat, warum nicht auch ein Häuptling der Napoindianer? Aber kommen Sie, wir wollen Tompaipo selber fragen.«

So schritten sie denn den Hügel hinab. Sobald der Häuptling Tritte vernahm, wandte er sich langsam und gemessen um. »Sind die weißen Jäger vergeblich den Spuren ihres Bruders gefolgt?« fragte er auf spanisch, indem er sich vom Boden erhob.

Friedrich jedoch redete den alten Heuchler sofort auf gut Deutsch an. »Dem Mestizen haben Sie aber ordentlich gezeigt, wo er her war.«

Ein kaum merkliches Erstaunen blitzte in den Augen Tompaipos auf; er hatte unter den Indianern gelernt, jede Muskel zu beherrschen. Nun sah er sein Geheimnis entdeckt, mochte auch denken, es habe wenig Wert, vor seinen Landsleuten länger Verstecken zu spielen, zumal es gar nicht mehr möglich war. Er brach daher in ein herzliches Lachen aus und sagte: »Ja! mit sotte Kerles muß mer Deutsch schwätze, und dees verschtandet se bloß, wann mer's handgreiflich macht.«

»Aber eine merkwürdige Gewandtheit haben Sie dabei entwickelt!« lobte Schulze.

»Dees will i meine! Was meinet Sie denn, warum die Rothäut' mi Tompa-ipo g'heiße hent, was so viel bedeute tut, wie Gewitterhand oder Blitzhand? Dees isch nur daher komme, daß i wie's Wetter unter sie 'nei g'fahre bin und Ohrfeige austeilt hab' wie der Blitz, wann s' net pariert hent; dui nuie Mode hat en gewaltig imponiert, und i glaub' alleweil, nur deswege hent se mi so bald zum Häuptling g'wählt.«

»Ha, ha!« lachte Schulze. »Da kann man doch sehen, wie man in diesem Lande zu Ehren kommen kann infolge von Eigenschaften, die bei uns nicht nach Gebühr geschätzt werden! Aber wie zum Kuckuck sind Sie denn als geborener Schwabe unter die Napo geraten?«

»Das ist sehr einfach,« erwiderte Tompaipo, der nun zeigte, daß er auch gebildetes Deutsch, wenn auch nicht »jebildetes Daitsch« reden konnte: »Ich bin als junger Kerl von achtzehn Jahren nach Brasilien ausgewandert, mutterseelenallein; denn ich hatte Vater und Mutter verloren und keine näheren Verwandten, auch schlossen sich mir keine Bekannten an. Zuerst trieb ich mich in den deutschen Kolonien herum; aber die Wanderlust ließ mich nirgends seßhaft werden; so kam ich bis an den oberen Amazonenstrom und wurde einmal in einen Kampf der Weißen mit den Napo verwickelt. Dabei hatte ich das Glück oder Unglück, wie man sagen will, einen Häuptlingssohn zu erschlagen, worauf sich die Rothäute in heller Wut auf mich warfen, mich gefangen nahmen und fortschleppten.

»Na! ich glaubte, meine schlimmste Stunde habe geschlagen, aber der Häuptling, den ich des einzigen Sohnes beraubt hatte, war kein kleinlicher Mensch, der nur an Rache gedacht hätte. Er hielt so eine Art Rede vor den versammelten Kriegern, worin er erklärte, sein Sohn sei in ehrlichem Kampfe gefallen, und der Weiße habe tapfer gefochten und nicht aus böswilliger Absicht, sondern nur aus Notwehr gehandelt; daß er den kriegsgeübten Sohn des Häuptlings überwunden habe, sei ein Zeichen seines Muts und seiner Stärke; wenn er ihm nun den Sohn ersetzen wolle, so solle er, als einer der Ihren, am Leben gelassen und gut gehalten werden – und dergleichen mehr.

»Ich zog natürlich diese Annahme an Kindesstatt dem unangenehmen Martertode vor und habe es nie bereut; der Häuptling war ein guter Mann und hat mich wahrhaft väterlich behandelt. Ich wurde ein echter Napo und bin es gerne; so ein Häuptlingsdasein in der Freiheit hat viel für sich. Unter Weiße komme ich höchst selten; so übe ich denn mein geliebtes Schwäbisch, an dem mein Herz noch hängt, in Selbstgesprächen, so oft ich allein bin.«

»Aber Sie haben auch den Götterglauben der Indianer angenommen?« erkundigte sich Friedrich. »Bei unserm ersten Zusammentreffen stellten Sie ihn ja über das Christentum.«

»Ach, was! Reden! Es macht mir nur Spaß, mich als waschechten Napo zu zeigen; diese Indianer glauben an einen unsichtbaren Gott, den Spender alles Guten, und an einen Teufel; ihre Religion ist gar keine so üble; aber meinen Christenglauben behalte ich unentwegt bei, wenn ich auch die religiösen Indianergebräuche ehre; und wenn tüchtige Missionare in diese von der Mission vergessenen Gegenden kämen, ich wäre der erste, der ihnen die Bahn zu den Napo ebnen würde.«

»Haben Sie nichts über Ulrich in Erfahrung gebracht?« forschte nun der Jüngling weiter, der den schwäbischen Napohäuptling bescheiden erst seinen Bericht hatte zu Ende bringen lassen wollen.

»Doch, doch! Es ist eine faule Sache!« und wieder halb und halb in sein Schwäbisch verfallend fuhr Blitzhand fort: »Ich sage Ihnen, es ist eine saudumme Geschichte, und der Meschtize ist ein Schpitzbub', wo ihn die Haut anregt! Aber i will's schon wieder ins Gleis bringen, seie Sie nur ohne Sorg': mehr kann i Ihne jetzt mit dem beschte Wille net sagen, 's isch e Geheimnis derbei, von dem i selber bloß d' Hälft' ahne; der Oberhäuptling, der Narakatangetu – e saudummer Nam'! – ischt von alle Napo der einzig, wo de ganze Dreck weiß, der schwätzt aber nix aus.«

Einigermaßen beruhigt folgte nun Friedrich mit Schulze dem vortrefflichen Häuptling ins Lager, wo die Indianer den Drachenbesieger, von dessen Heldentat sie sich inzwischen mit eigenen Augen überzeugt hatten, mit Jubel und ehrenden Tänzen empfingen.

Tompaipo hielt es für angezeigt, dem Helden zu Ehren ein Fest zu veranstalten, bei dem der Palmwein in Strömen floß.

Bei diesem Feste wurden Friedrich wahrhaft königliche Ehren bezeigt. Jedem Napo erschien es als eine hohe Auszeichnung, von dem Drachentöter einiger Aufmerksamkeit gewürdigt zu werden. Die roten Männer drängten sich an ihn heran und versicherten ihn, daß sie mit Leib und Leben zu seinen Diensten stünden.

Auch an Heldenliedern zu seinen Ehren fehlte es nicht, die von den Sängern des Stammes aus dem Stegreif gesungen wurden.

Am merkwürdigsten erschien Friedrich ein Sang, der ihn lebhaft an die Kyffhäusersage erinnerte, und den er später aus dem Gedächtnis folgendermaßen übersetzte:

Als die fremden Blaßgesichter
In das Reich der Sonne kamen,
Als sie unser Glück zerstörten,
Als sie unsre Schätze nahmen,
Als zu ihnen sich gewendet,
Weg von seinen roten Söhnen,
Cachimana, den die Sieger
Undankbar und falsch verhöhnen –
Zog der Inkakaiser Manko,
Bess're Zeiten zu erwarten,
In die Höhle Antasuyus,
In der Erde Zaubergarten.
Dort verbarg er seine Krieger
Und des Reiches Kostbarkeiten,
Dort umgibt den greisen Helden
Aller Glanz vergangner Zeiten.
Durch den Stein, an dem er sitzet,
Ist sein Bart im Lauf der Jahre
Durchgewachsen, und es schimmert
Silberweiß die Flut der Haare.
Also harret er der Stunde,
Die der große Geist bestimmet,
Wann erfüllt das Maß des Frevels
Und sein heil'ger Geist ergrimmet.
Dann erscheint der Inka Manko
Mit den roten Heldenscharen,
Alle Weißen zu vertreiben,
Die des Lands Verderber waren.
Und das stolze Reich der Inka
Wird er wieder neu errichten,
Herrlich wie in alten Zeiten:
Niemand wird es mehr vernichten.
Ja, dann kommen goldne Tage
Wieder für die roten Stämme,
Fest und neu erstehn am Meere
Wieder die zerbrochnen Dämme;
Herrlich schimmern die Paläste
Und es blühn die Lande wieder.
Recht und Treue, Glück und Frieden
Senken sich vom Himmel nieder.
Bis zu diesem Tage schlummert
Manko, in dem Fels verborgen;
Aber gestern kam ans Licht er,
Grüßte froh den goldnen Morgen;
Kam, um einem weißen Helden,
Wie noch keiner ward gesehen.
Kämpfend mit Jolokiamos
Wurm, allmächtig beizustehen.
Und er riß herab die Felsen,
Grollend wie im Wirbelsturme,
Und zerschmetterte das grause
Haupt dem niebesiegten Wurme.
Und den jungen weißen Helden
Will er reihn in seine Scharen,
Mit ihm will das Reich er teilen,
Wie er teilte die Gefahren.
Bald wird nun die Zeit erscheinen.
Bald der Sieg, den wir erwarten,
Denn der alte Inkakaiser
Stieg aus seinem Felsengarten.


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