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26. Das Grauen der Einsamkeit

Nachdem die Maultiere zweckentsprechend bepackt worden waren, wobei den zum Reiten bestimmten Tieren nur die notwendigsten Mundvorräte und Munition, dem dritten aber das übrige Gepäck aufgeladen wurden, begann der Ritt durch den majestätischen Urwald.

Salvado, der Affe, befand sich meist bei Friedrich oder Ulrich, zuweilen machte er sich's auch auf dem Packtier bequem, das, stets von einem der Brüder an einer Leine geführt, hinter den Reitern herschritt. Hier und da vergnügte sich das Äffchen damit, einen überhängenden Zweig zu erhaschen und blitzschnell daran emporzuklettern, um dann von Ast zu Ast, von einem Baum zum anderen über den Köpfen der kleinen Karawane hinweg weiterzuturnen und sich gelegentlich wieder auf eines der Maultiere herabzulassen. Hierbei brachte es öfters die eine oder andere genießbare Frucht mit sich und trug somit nicht bloß zur Unterhaltung, sondern auch zur Lebensmittelversorgung bei.

Übrigens erwies sich Salvado auch als ein guter Warner; denn der Brüllaffe ist so furchtsam, daß er jede Gefahr durch ein klägliches Geschrei ankündigt.

Soviel als möglich ritten unsere Freunde am Flußufer hin, da dies der einzige Weg in jenen Urwäldern ist, die noch kein Weißer im Innern erforscht hat. Gebahnte Wege oder gar Straßen gab es freilich auch da nicht, und oft bildeten Gebüsch und Lianen solche Hindernisse, daß abgestiegen werden mußte und das Vorwärtskommen sich nur mühsam erkämpfen ließ. Sich zu weit vom Flusse entfernen bedeutet aber so viel, als sich im Urwald verirren, und in welch verzweifelter Lage ein Mensch sein muß, der sich in einem schier undurchdringlichen Walde verirrt hat, der eine Fläche bedeckt, die etwa viermal so groß ist wie das Deutsche Reich – das läßt sich denken!

So waren unsere Freunde nicht gar weit gekommen, als der Tag sich neigte, und da sie die Nacht in der Wildnis zubringen mußten, machten sie beizeiten halt, um sich für ein solches Wagnis gehörig vorzusehen.

Zunächst wurden die Maultiere entlastet und mit Futter und Wasser versorgt; dann wurde Holz und Reisig in Menge zusammengetragen, um ein Feuer zu unterhalten, das die Raubtiere in achtungsvoller Entfernung halten sollte.

Zu zweit war nicht wohl an Nachtwachen zu denken, da sonst entweder die Ruhezeit allzusehr verlängert oder die Kräfte übermäßig in Anspruch genommen werden mußten. Doch hatte Manuel versichert, daß die wilden Tiere das Feuer mieden außer den Krokodilen, die dadurch angezogen würden, immerhin aber ohne sich in gefahrbringende Nähe zu wagen; auch werde der Mensch in der Hängematte von keinem Vierfüßler des Urwalds angegriffen.

So zündeten denn die Jünglinge zu beiden Seiten ihrer Hängematten große Feuer an, indem sie die Vorsicht gebrauchten, langgestreckte Holzbeigen zu errichten, die nur nach und nach von den langsam fortschreitenden Flammen verzehrt werden konnten und mehrere Stunden zu brennen vermochten; nachdem sie dann aus ihren Vorräten eine Nachtmahlzeit gehalten hatten, empfahlen sie sich dem Schutze Gottes, um alsbald friedlich einzuschlafen.

Doch sollte ihre Nachtruhe nicht ungestört bleiben: kurz nach Mitternacht wurden sie durch einen furchtbaren Lärm jäh aus dem Schlummer geschreckt.

Die Feuer waren ziemlich herabgebrannt; der rote Glutschimmer, der von ihnen ausging, machte die Finsternis ringsum nur noch unheimlicher. Und in dieser Finsternis schien die Hölle los zu sein: ein Seufzen, Stöhnen, Flöten, Brüllen und Kreischen scholl wild durcheinander, als sei die ganze Tierwelt des Urwaldes in Streit miteinander geraten.

Salvado schrie ängstlich und flüchtete sich in Friedrichs Hängematte; die Maultiere waren unruhig, und selbst den mutigen Knaben zitterte das Herz; ein solcher Aufruhr, solch furchtbare Laute in hundertstimmigem Chor, – das war ihnen etwas zu Ungewohntes und Unerwartetes, um ihnen keine Besorgnis einzuflößen. Das Mark und Bein erschütternde Gebrüll ertönte in solcher Nähe, daß sie jeden Augenblick erwarteten, eine rasende Herde von Tigern, Jaguaren, Pumaen und wer weiß was sonst noch für Ungeheuern auf sich zustürzen zu sehen.

Sie strengten ihre Augen aufs äußerste an, um das Dunkel zu durchdringen; aber zu sehen war nichts, während das Brüllen, Wüten und Toben noch zuzunehmen schien: es mußte ein wilder Kampf zwischen den Beherrschern der Wälder entbrannt sein, deren Wutgeheul die furchtsameren Tiere zu Schreckensrufen veranlaßte. So oft das dumpfe, grollende Gebrüll der größeren Raubtiere einigermaßen verstummte, gellte das Geschrei des Faultiers, des Bisamschweines, das Kreischen der Vögel und das schrille Gepfeif der flüchtenden Affen, das bisher im allgemeinen Lärm nicht zu unterscheiden gewesen war, durchdringend in die Ohren der betäubten Jünglinge.

»Ich will das Feuer heller anfachen!« rief Ulrich dem Bruder zu, als einmal ein kurzes Nachlassen des Lärms ihm gestattete, sich vernehmlich zu machen.

»Halt, halt!« rief Friedrich: er hatte in den Ästen eines Baumes über Ulrichs Hängematte eine dunkle Masse erblickt, die katzenartig vorwärts schlich und mit glühenden Augen hinunterspähte.

Sofort griff Friedrich zum Gewehr, das er vorsorglich so gelegt hatte, daß er es von der Hängematte aus ergreifen konnte. Schon sah er das Raubtier zum Sprunge auf Ulrich ansetzen, woraus ersichtlich war, daß die Matte keinen so zuverlässigen Schutz gegen derartige Angriffe bietet, wie die Eingeborenen versichern; da drückte Friedrich los. Mit dumpfem Brüllen stürzte das schwergetroffene Tier dicht an Ulrichs Matte vorbei zu Boden, überschlug sich, machte einen verzweifelten Satz und kollerte gerade in die Glut des Feuers. Gräßlich klang das Schmerzgeheul des gequälten Pumas, denn im Schein der Flammen erkannten unsere Freunde ein besonders großes Exemplar dieses mähnenlosen Löwen des tropischen Amerika, der auch Kuguar genannt wird. Mit einer krampfhaften Anstrengung wälzte sich der sterbende Löwe aus dem Bereich der Gluten, und nun sprang Ulrich zur Erde und warf dem sinkenden Feuer neue Nahrung zu, so daß es bald wieder hell aufflammte.

Ulrich streckte den Puma, der sich immer noch in Todeszuckungen wand, durch einen Schuß vollends nieder; dann machten sich die Knaben daran, die besten Stücke seines Fleisches herausschneiden, um einen saftigen Frühstücksbraten zu erhalten. Es ging zwar erst gegen zwei Uhr, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken und, wie es gewöhnlich geht, wenn man sich mitten in der Nacht ermuntert, der Hunger begann sich bereits mächtig in ihnen zu regen.

»Hör einmal, Ulrich,« sagte Friedrich, während er den Braten über dem Feuer drehte, »ist es nicht ein erhabenes Gefühl, sich so als die einzigen menschlichen Wesen in einer endlosen Wildnis zu wissen? Sieh! So hell unser Feuer aufflackert, so leuchtet es doch kaum bis an die untersten Blätter des Laubdachs, und ebenso ringsum zeigt es in zweifelhaft wechselndem Licht einige mächtige Stämme, und dahinter und darüber ist alles in undurchdringliches Dunkel gehüllt. Das ist wie ein gewaltiger Dom, dessen Ende weder in der Höhe noch in der Länge und Breite abzusehen ist, alles verdämmert im Unendlichen. Und da befinden wir uns mitten darinnen, als winzige Zwerglein. Wir kommen überhaupt nicht in Betracht im Vergleich zu diesen ungeheuren Maßstäben – und doch! getrost im Vertrauen auf den göttlichen Schutz und kühn im Bewußtsein unserer menschlichen Gaben können wir durch die Unendlichkeit hinschreiten und den Schrecken, die uns umgeben, Trotz bieten, als seien wir Herren und Könige dieser Wildnis.«

»Sehr schön gesagt!« erwiderte Ulrich, nicht ohne Anflug von Spott. »Mir aber wäre es lieber, die Einsamkeit wäre nicht so groß; nur noch ein paar Menschen um uns her, so wäre mir viel wohler! Furcht habe ich ja nicht gerade, aber es liegt doch etwas Grauenhaftes darin, sich in seiner Kleinheit und Schwäche so verlassen zu fühlen in einer solchen Wildnis, voller feindlicher Wesen, von denen ein einziges unser Leben auslöschen kann, wenn es ihm gelingt, uns unversehens zu überraschen!«

»Auf den Schutz der Hängematte und des Feuers dürfen wir freilich nach den letzten Erfahrungen nicht allzufest vertrauen,« entgegnete Friedrich, »um so mehr aber auf den göttlichen Schutz, der uns bisher schon so oft zuteil wurde.«

»Gewiß! Aber ich sage dir, ich sehne mich bereits nach Menschen, obgleich wir erst einen halben Tag allein wandern, es war doch etwas ganz anderes, als Manuel noch bei uns war; schon der Gedanke, daß so ein Mann, als Sohn des Landes, mit den Gefahren und den nötigen Vorsichtsmaßregeln vertrauter sei als wir, flößte ein gewisses beruhigendes Gefühl der Sicherheit ein.«

Die Brüder unterhielten sich ziemlich laut; denn wenn auch der Lärm im Walde sich merklich entfernte, so war er doch noch stark genug, um ein Erheben der Stimmen notwendig zu machen.

Friedrich meinte: »Ich glaube, wir gewöhnen uns bald an die Einsamkeit; käme es aber bloß auf den Wunsch an, so würde ich mir gewiß auch menschliche Reisegesellschaft wünschen.«

»Na! Da könnte ja vielleicht Rat werden,« rief eine Stimme aus nächster Nähe.

Aufs höchste erstaunt, fast erschrocken sahen sich unsere Freunde um.

Ein schlanker Mann mit braunem Vollbart, eine Brille auf der Nase, trat herzu. Er hielt eine Fackel in der Hand und war von einem Indianer gefolgt, der ebenfalls eine Fackel trug.

»Mein Name ist Schulze,« sagte der Ankömmling, als die Jünglinge ihn immer noch verblüfft anstarrten. »Jawohl, Schulze aus Berlin. – Na! Von Berlin werden Sie doch schon gehört haben? Berlin an der Spree, gar nicht weit von Potsdam. Ich bin nämlich ein wenig naturforschen gegangen; aber es ist wirklich kolossal, was es hier alles gibt in der Natur: es ist nicht damit fertig zu werden; es ist klüger, man fängt erst gar nicht damit an und erforscht nur, was es hier nicht gibt, und das ist auch der eigentliche Zweck meiner Reise. – Aber ich schwatze und weiß noch gar nicht, mit wem ich die Ehre habe!«

»Ulrich Friedung – und hier mein Bruder Friedrich.«

»Hübsch! Ulrich und Friedrich Friedung, na ja! Ganz in der Ordnung, wenn Sie sich mir im Tiergarten oder Unter den Linden, meinetwegen bei Dressel oder in einer Abendgesellschaft so vorstellten! Aber wieso im Urwald am Orinoko? Bei Gott, wenn ich nicht die uns Berlinern angeborene Redegabe hätte, ich wäre einfach sprachlos. Und ich versichere Sie, ich bin es! Ich meine, Sie sollten in Prima oder Sekunda stecken, aber nicht im Urwald. Wenn ich das in Berlin wiedererzähle, etwa so: Treffe ich da eines Nachts, mitten im Urwald am Orinoko, zwei deutsche Jünglinge mutterseelenallein, die sich gemütlich in der Muttersprache unterhalten ... Ne! da würden meine Zuhörer sagen: Paßt mal auf, Schulze fängt an zu flunkern, und mit den wissenschaftlichen Ergebnissen seiner Reise ist ihm dann auch nicht zu trauen; er ist gewiß nicht weiter gekommen als bis in den Spreewald und hat sich da ausgesonnen, was er uns über seine Reise in die Tropen aufbinden will.«

So neugierig der Naturforscher Schulze auch war, ihm stieg in diesem Augenblick ein Bratenduft in die Nase, der ihn eine Antwort nicht abwarten ließ.

»Oho!« rief er aus. »Da gibt's Rostbraten oder ähnliches. Hören Sie mal, meine jungen Freunde, da lassen Sie mich mithalten, nicht? Ich schwöre Ihnen, alle Leckerbissen, die ich mit mir führe, stehen Ihnen dafür zur Verfügung. Braten habe ich nämlich schon seit sechs Wochen nicht mehr gekostet. Sie sehen wohl, ich trage eine Flinte, bin aber elend kurzsichtig, und obgleich ich letzthin ein riesiges Krokodil auf drei Schritt Entfernung mitten in seinen ungeheuren Rachen getroffen habe, gelang es mir doch sonst noch nie, ein Stück Wild zur Strecke zu bringen. Und die zwei Indianer, die ich mit mir führe, oder die mich führen, wie man sagen will, sind leider zivilisiert und stammen aus Bolivar. Von der Jagd haben sie keine viel größere Ahnung als meine Wenigkeit. Aber was ist das wohl für Braten?«

Friedrich wies auf den in der Nähe liegenden Kuguar, und Schulze wich erschrocken einen Schritt zurück: »Was seh ich! Felis concolor! Alle Achtung, den haben Sie erlegt? Oder wohl zufällig verendet gefunden?«

»Nein, nein! Friedrich hat ihm eine Kugel zwischen die Rippen gejagt, als er mich in meiner Hängematte überfallen wollte.«

»In der Hängematte? Ich danke! Die Indianer versichern, in der Hängematte sei man sicher vor solchen Überfällen, und überdies hieß es, der Puma sei feige und falle keinen Menschen an.«

»Keine Regel ohne Ausnahme, wie Sie sehen, Herr Schulze.«

»Ist mir höchst unangenehm! Ich wünsche nämlich nicht, ein Märtyrer der Wissenschaft zu werden, so berühmt mich das machen würde. Na! und bisher verließ ich mich auf die Schwindelaussagen der Indianer. Jetzt aber werde ich nicht mehr ruhig schlafen können. Ist ja schauerlich, dieser sogenannte Urwald! War doch ein Höllengelärm, den die Fauna vorhin zu nachtschlafender Zeit verführte. Ich sage Ihnen, wenn so etwas in Berlin vorgekommen wäre, alle Beteiligten säßen bereits hinter Schloß und Riegel; denn Nachtruhestörung, das gibt's nicht! Dazu haben wir unsere Polizei. Aber hier in diesem Urwald ist mir noch kein Schutzmann begegnet: einfach scheußliche Zustände, was? Na! und wie wir dem Schauerkonzert lauschen und unser Feuer höher schrauben, hör' ich einen Schuß fallen, ganz in der Nähe. Freunde, sag' ich zu den Indianern, euer Vater – sie nennen mich nämlich ›Vater der vier Augen‹ wegen meiner Brillengläser –, euer Vater hat die Stimme einer Büchse vernommen. Ich liebe es nämlich, mit diesen Kindern der Wildnis in ihrer bilderreichen Sprache zu verkehren. ›Deine Söhne vernahmen sie auch!‹ erwiderten die Roten. Hierauf begab ich mich in Begleitung von Unkas hierher. Er nennt sich zwar Luciano, aber ich bitte Sie! das ist doch kein Indianername! Ich habe ihn also Unkas getauft, und er hört bereits darauf; ebenso nenne ich den andern, der sich den prosaischen Namen Celestino beilegt, Matatoa: das klingt viel echter. Übrigens können Sie sich meine Verblüffung und Freude denken, wie ich da mitten in der Einöde zwei junge Herren erblicke, die sich in deutscher Sprache unterhalten!«

»Wir sind wahrhaftig nicht weniger freudig überrascht worden durch Ihre Erscheinung, Herr Professor,« nahm Friedrich das Wort.

»Professor? Na! nennen Sie mich immerhin Professor, ich gedenke es bald zu werden, und hierzulande legt man sich gern des Respektes halber einen schönen Titel bei. – Aber wohin geht denn die Reise, meine jungen Herren?«

»Das sollen Sie gleich hören; aber jetzt bitte ich zu Tische, der Braten ist fertig!« mahnte Friedrich.

Schulze beauftragte »Unkas«, den andern Indianer mit den Lasttieren und seinem Gepäck herbeizuholen, während Friedrich noch zwei saftige Fleischstücke vom erlegten Wilde herunterschnitt und sie übers Feuer setzte, damit auch die Indianer den Braten zu kosten bekämen.

Diese erschienen bald, denn Schutzes Lagerplatz lag nur wenige hundert Schritt entfernt, und wenn das Gebüsch nicht so dicht gewesen wäre, hätte von jedem der Lager aus der Feuerschein des Nachbarlagers bemerkt werden müssen.

Unkas und Matatoa drehten mit Vergnügen ihre Bratenstücke über dem Feuer, während die drei Deutschen sich ihr köstliches Frühstück munden ließen, zu dem Schulze das Kassavebrot, und, zur Feier des festlichen Ereignisses, wie er sagte, eine Flasche Wein spendete.

Da sowohl Celestino wie Luciano stolz waren auf die wohlklingenden Namen, die Schulze ihnen beigelegt hatte, und sich selber nicht anders mehr nannten, so werden auch wir sie künftig nur Matatoa und Unkas heißen.


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