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63. Der Märchenwald

Ulrich war geblendet von dem feurigen Gefunkel der goldenen Gänge, die sie durchwanderten.

»Wenn von diesen Schätzen etwas bekannt würde,« sagte er, »so würden Hunderttausende nach Columbia strömen und ihr Glück hier machen.«

»Ja,« erwiderte Friedrich, »wenn Reichtum das Glück ausmachen könnte.«

»Du weißt wohl, wie ich es meine! Leider kennen ja die meisten Menschen kein höheres Glück als den Besitz dieser glänzenden Metalle.«

Nach etwa zweistündiger Wanderung war der »Fuchsbau« erreicht. So bezeichnete Friedrich die nach oben führende Höhle, obwohl er wußte, daß es schon ein unheimlich großer Fuchs gewesen sein müßte, der solch ein Loch hätte ausgraben können. Im Kamin angelangt, erkletterte Friedrich Ulrichs Schultern, und gelangte auf diese Weise unschwer ins Freie. Dann half er dem Bruder ebenfalls herauf.

»Wir müssen uns die Stelle ganz genau merken,« mahnte Ulrich. »Wer weiß, ob wir nicht in die Lage kommen, fliehen zu müssen, und dann froh sein werden, uns rasch wieder hierher zurückzufinden.«

»Schwer wird das Merken wohl nicht werden,« meinte Friedrich, »denn es hat den Anschein, als befänden wir uns zwischen den Wurzeln eines Riesenbaumes, der kaum seinesgleichen haben dürfte.«

Er hatte mit dieser Vermutung zum Teile recht, sie krochen unter dem Stamme eines Baumes vor, der einen gewaltigen Umfang zu haben schien; das dichte Wurzelwerk, das ihre Köpfe hoch überragte, erlaubte ihnen noch keine Übersicht. Hier verbarg Friedrich den leuchtenden Stein, der ihnen in der Tageshelle überflüssig war.

Jedenfalls aber bedurfte es besonderer Merkmale, um den Eingang der Höhle wiederzufinden, der in dem Gewirre der Wurzeln völlig versteckt war; ein Unkundiger hätte ihn von außen nur durch einen unwahrscheinlichen Zufall entdecken können.

Ulrich schnitt denn auch auf Schritt und Tritt Zeichen in die hohen Wurzeln und bezeichnete auf diese Weise den Weg.

Endlich traten sie zwischen den Wurzeln heraus und befanden sich in einem Wald.

Es dauerte aber eine geraume Weile, bis sie sich überhaupt klar darüber waren, daß es ein Wald sei, der sie umgab, daß diese ungeheuren rauhen Türme, die sich zum Himmel erhoben, wirkliche Bäume seien; denn das waren Stämme von einem Umfang von achtzig bis hundert Metern und einer Höhe bis zum Doppelten des Umfangs! Was wollten dagegen die Eukalypten Australiens besagen? War nicht der Affenbrotbaum Afrikas ein Zwerg gegen diese Riesen? Und selbst die Mammutbäume Kaliforniens, die bis zu siebzig Meter im Umfang und weit über hundert Meter Höhe erreichen, konnten sich noch lange nicht mit diesen Wunderbäumen messen.

Ganz überwältigt von ehrfürchtigem Staunen sahen unsere Freunde an diesen Giganten empor zu den Wipfeln, die in unendlicher Ferne, von Ästen getragen, die selber Stämmen von fabelhaften Größenverhältnissen glichen, ein dämmerndes Dunkel über die Gründe breiteten.

Zwischen den Säulen des Wunderdomes standen Bäume, deren Höhe und Durchmesser sonst überall Aufsehen erregt haben würden, hier aber den Eindruck niederen Buschwerks und junger Nachtriebe machten.

Nicht stumm und tot war es in diesem märchenhaften Walde, wenn man auch nicht die gellenden Schreie der Affen noch das schrille Gekreisch der Papageien vernahm; ein Vogelkonzert erscholl in den Lüften, ein Gesang von solch ungemein herzergreifender Lieblichkeit, daß unsere Freunde sich gestanden, nie etwas gehört zu haben, das solchen Klängen auch nur entfernt ähnlich gewesen wäre.

Und dieses goldene Singen in der sonst lautlosen Stille erhöhte die Feierlichkeit der Stimmung, die die Jünglinge ergriffen hatte, so daß es ihnen wirklich war, als befänden sie sich in einem heiligen Tempel, den der Schöpfer selber besonders geschaffen hätte.

Zu seinen Ehren,
Um uns zu lehren,
Wie sein Vermögen sei mächtig und groß!

Plötzlich rief Ulrich aus: »Der Phönix, der Phönix!«

Ganz in ihrer Nähe schwebte einer der gefiederten Sänger herab und ließ sich auf einer schlangenförmig sich emporbäumenden Wurzel nieder, und da saß er nun, in einer Höhe von kaum zwei Metern, so daß sie ihn genau betrachten und bewundern konnten.

Er wendete anmutsvoll das Köpfchen hin und her, das mit einer wunderbar goldgrün glänzenden Haube von starren seidenartigen Federn in Halbkugelform gekrönt war.

Die klugen, entzückend schönen Augen blickten lebhaft nach den Jünglingen. Über die schwarzblinkenden Schwingen und den schwarzweißen Schwanz wallte das Deckgefieder in schmalen, lanzettförmigen, smaragdgrünen Zungen schillernd hernieder. Ein zarter scharlachroter Flaum bedeckte leuchtend Hals und Brust, und über den Rücken, zwischen den teils schwarzen, teils weißen Steuerfedern des Schwanzes hindurch strömten feingefiederte, schmale und außerordentlich lange Federn von einem unbeschreiblich herrlichen goldgrünen Glanze; einen Meter lang hingen die beiden längsten dieser Federn in graziösem Schwunge hinab und wiegten sich anmutig in der Luft.

Bei jeder Bewegung wechselte das entzückende Farbenspiel des Gefieders, je nach Auffallen des Lichtes: einmal erschien es braunviolett, dann tief stahlblau, dann wieder blitzte ein metallisches Blaugrün auf, das schließlich in goldiges Smaragdgrün überging. Und dazu das rosige Glühen der Purpurbrust mit ihrem zitternden Flaum!

Nun flog der Vogel wieder auf: ach! wie prächtig wogte und wallte dies strahlende Gefieder, wie leuchtend zog der Kometenschwanz dem bunten, lebendigen Meteore nach!

In den Urwäldern Venezuelas hatten die entzückten Jünglinge geglaubt, die Kolibri wiesen die herrlichste blitzende Farbenpracht auf, die überhaupt auf Erden denkbar sei, was der Regenbogen und die funkelnden Edelsteine an Farben und Glanz besäßen, das sei allein auf ihrem Gefieder vereinigt. Nun sahen sie ein Wunder der Schönheit und Lieblichkeit, das jene fliegenden Juwelen unendlich übertraf, einen Glanz und eine Farbenpracht, die keine menschliche Phantasie sich vorzuzaubern vermöchte!

»Ja, das ist der Vogel Phönix!« sagte Friedrich, als der Märchenvogel wie ein Traumbild entschwunden war. »Das ist der sagenhafte Bennu der Ägypter, der wunderbare Bülbül aus Tausendundeiner Nacht; es ist der Quezal, der heilige Sonnenvogel Mexikos, dem selbst unsere so nüchterne Wissenschaft den Namen Paradiesvogel beilegte. Dieser schönste unter den Vögeln, dem die Natur nichts Ähnliches an die Seite zu stellen hat, war im alten, herrlichen Aztekenreiche das Sinnbild des gefeiertsten Gottes, Quezalcoatl.

»Von diesem Vogel ging eine schöne Sage unter den Mexikanern, zur Zeit, da Cortez ihr Reich eroberte. In Tlapallan, dem Lande des Sonnenaufgangs, das wir Europa nennen, wohnte der Gott Quezalcoatl, und es herrschte dort das goldene Zeitalter ewiger Blüte und ewigen Friedens. Aber von den Menschen beleidigt, verließ der Gott seine Heimat und zog sich zurück nach den glücklichen Inseln der Seligen, Atlantis. Und weil er seine Freude darin fand, die Welt zu beglücken, fuhr er von dort auf einem blumenbekränzten Kanu, das aus einer perlmutterschimmernden Riesenmuschel bestand, an die Gestade Mexikos.

»Er hatte ein schönes, mildes Gesicht, und freundliche Sanftmut und Leutseligkeit leuchteten aus seinen blauen Augen. Sein Antlitz war weiß und von blondem Vollbart umrahmt; blutige Tier- und Menschenopfer waren ihm ein Greuel; er verlangte nur Blumen und Früchte. Wohlgerüche aller Art erfüllten seinen Pfad mit lieblichen Düften, und Vögel von nie gesehener Schönheit, von sonnigem Glanz und strahlender Farbenpracht waren seine Begleiter.

»Mit seiner Ankunft begann eine goldene Zeit; die Menschen hatten ohne alle Arbeit und Mühe alles im Überfluß: die reichsten Ernten, die herrlichsten Früchte; und die Baumwolle wuchs auf den Bäumen in allen Abstufungen der Regenbogenfarben.

»Da führten die Menschen ein sonniges Dasein: Friede und Liebe beglückten sie, und sie taten einander alles zur Freude und nichts zuleide.

»Aber der Gott Tezcatlipoca, der Beherrscher der Nacht, war eifersüchtig, daß man ihm nicht mehr diente; er gab Quezalcoatl einen Zaubertrank, der ihn mit unnennbarer Sehnsucht nach seiner Heimat, den Seligen Inseln, erfüllte. Und er fuhr wieder von dannen, und Elend, Mord und Blutvergießen verheerten das Land und brachten Gram und Verzweiflung den unseligen Menschenkindern.

»Der Sonnenvogel Quezal allein blieb zurück als Erinnerung an die selige, goldene Zeit; aber auch er verschwand aus den Städten der Menschen und wohnte fortan in der Wildnis des Urwalds.«

»Welch schöne Sage!« rief Ulrich entzückt.

»Ich glaube,« sagte Friedrich, »es spiegelt sich darin die Erinnerung an uralte Zeiten, da die ersten Weißen, wahrscheinlich Germanen, zu den Roten kamen und ihnen eine blühende Kultur des Friedens brachten, so ganz anders als die späteren goldgierigen und blutdürstigen spanischen Eroberer. – Das merkwürdigste am Vogel Quezal scheint mir aber, daß es unmöglich ist, ihn in der Gefangenschaft zu halten: er stirbt darin unbedingt nach kürzester Frist, und dadurch wird er so recht zum Sinnbild der Freiheit.«


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