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36. Die Affen

Erst nach Sonnenaufgang ermunterte sich auch Schulze. Er fühlte sich ganz wohl und meinte, er sei nun völlig fieberfrei und kerngesund; als er sich jedoch aufrichten wollte, spürte er eine solche Schwäche in den Gliedmaßen, daß er alsbald wieder zurücksank.

Dennoch wollte er durchaus keinen Anlaß zu weiterem Aufenthalt geben und behauptete, er werde schon wieder reiten können, wenn er nur erst im Sattel sitze. »Ein Frühstück muß ich allerdings zuvor haben,« fügte er hinzu, »das wird mir bald auf die Beine helfen, es ist nichts als Magenschwäche!«

»Hören Sie, Herr Professor,« wandte Ulrich ein, »von Weiterreise ist heute einmal gar keine Rede, vor allem müssen Sie wieder ordentlich zu Kräften kommen; übrigens können wir alle einen Rasttag sehr wohl brauchen und haben es durchaus nicht nötig, die Reise zu überhasten.«

»Morgen ist überdies Sonntag,« fügte Friedrich hinzu, »und der Platz hier ist schön genug, um zu einem zweitägigen Aufenthalte einzuladen; wer weiß, ob wir so bald wieder eine so günstige Gelegenheit zum Lagern finden. Diesmal also wollen wir uns eine besondere Wohltat leisten und die Reize der Wildnis einmal so recht gemütlich durchkosten.«

Alle Einwände halfen Schulze nichts; auch mochte er einsehen, daß er doch noch nicht viel würde leisten können, so nahm er denn die Rücksicht seiner jungen Freunde schließlich mit Dank an, und es blieb dabei, daß der 9. und 10. November hier verbracht werden sollten.

Der Genesende verspürte, wie er sagte, einen Wolfshunger. Kein Wunder! Hatte er doch den Tag zuvor fast nichts genossen. Vor dem Frühstück aber mußte er noch eine Schale Chinatee zu sich nehmen.

»Was ist denn das für eine indianische Medizin?« erkundigte er sich mißtrauisch, als ihm der keineswegs angenehme Duft in die Nase stieg.

»Das ist der berühmte Chinaabsud,« erwiderte Friedrich, »dem auch Sie Ihre Befreiung vom Fieber verdanken.«

»So, so! Das Zeug haben Sie mir in meiner Bewußtlosigkeit eingeschüttet? Na, denn man zu! Hilft's nichts, so schadet's nichts!« Und damit goß er heldenmütig das Gebräu hinunter.

Nach dem Frühmahl, dem Schulze tüchtig zusprach, erzählte er von sonderbar quälenden Fieberträumen, die er in der Nacht gehabt habe: »Es war mir, als sei ich zwischen Schlaf und Wachen, da senkte es sich schwarz und schwer auf mich herab wie ein Alp; zugleich aber fühlte ich mich so angenehm gefächelt und gekühlt, daß ich versucht war, mich rückhaltlos dem einschmeichelnden Gefühle hinzugeben. Anderseits befiel mich eine eigentümliche Angst und ein unerklärlicher Abscheu. Ich hatte die Empfindung, als werde mir von einem teuflischen Geschöpf das Blut ausgesogen; ich wollte aufschreien, aber es stopfte mir jemand einen Knebel in den Mund, so daß ich kaum ein dumpfes Stöhnen hervorbrachte; und mitten in dem Grauen empfand ich immer wieder die merkwürdig lähmende und einschläfernde Luft, die mich zu tatkräftiger Abwehr unfähig machte.«

»Ihr Fiebertraum und Alpdruck waren Tatsachen,« sagte Friedrich lachend und holte einen der erlegten Vampyre herbei. »Sehen Sie, hier ist das satanische Geschöpf, das Ihr Blut saugte. Ich wachte von Ihrem Gestöhn auf und erlegte das Tier nebst zwei anderen, die noch nachkamen; unser indianischer Wächter war nämlich sanft entschlummert.«

» Phyllostoma spectrum!« murmelte Schulze, sich vor Abscheu schüttelnd. »Wo hat mich denn das eklige Vieh angezapft?«

»Mitten an der Stirne.«

»Wahrhaftig! Da ist eine kleine Bißwunde,« sagte der Gelehrte, an die Stirne greifend. »Übrigens kann ich mir jetzt erklären, warum mir wieder so pudelwohl ist. Der Aderlaß hat mir gut getan! Dieser Vampyr hätte keinen so grausamen Lohn verdient für seine ärztlichen Bemühungen. Wahrhaftig, unsere europäische Medizin dürfte von solch einem Naturdoktor lernen; sie tut übel daran, in ihrem Wissensstolz die Kunst ihrer Ahnen so vornehm zu verachten. Nicht umsonst standen einst die Aderlässe in so hohem Ansehen, und wenn es natürlich auch eine verhängnisvolle Übertreibung war, sie sozusagen als Allheilmittel zu betrachten, so haben sie doch Tausenden und aber Tausenden Gesundheit und Leben gerettet. Schlaganfälle kamen damals lange nicht so häufig vor wie heutzutage, und bei starkem Fieber, Blutvergiftungen, Bleichsucht und vielen anderen mehr oder minder gefährlichen Übeln könnte man mit einem Aderlaß Wunder verrichten.«

»Das mag ja sein,« erwiderte Ulrich etwas ungläubig. »Aber in Ihrem Falle scheint mir doch der Chinatee das wahre Rettungsmittel gewesen zu sein, und da haben Sie sich eher bei Unkas als bei dieser blutsaugerischen Fledermaus zu bedanken.«

»Vielleicht hat beides zusammengewirkt; jedenfalls habe ich die Empfindung, als sei die Blutabzapfung zwar etwas schwächend, aber doch äußerst wohltuend gewesen. Übrigens, mit der Chinarinde hat die medizinische Wissenschaft auch ihren Unfug getrieben.«

»Wieso?« fragte Friedrich erstaunt.

»Wieso? Weil sie, statt einfach das natürliche, bewährte Mittel, die Rindenabkochung, zu gebrauchen, wie gewöhnlich meinte, durch Ausscheidung des ›wirksamen Prinzips‹ eine Medizin, das Chinin, herstellen zu müssen. Es ist einmal Tatsache, daß derartige pflanzliche Heilmittel in ihrer natürlichen Zusammensetzung nicht bloß wirksamer, sondern zugleich unschädlicher sind als der Extrakt des Stoffes, den man – meist irrtümlich – für den einzig heilkräftigen hält. Solche ausgeschiedene Einzelstoffe besitzen oft stark schädigende, giftige Eigenschaften, die nicht durch einfache Verdünnung gehoben werden können, sondern nur durch die chemischen Verbindungen, in denen sie in der Natur auftreten. Nun setzt die Wissenschaft, in ihrer Sucht, alles künstlich darzustellen, an Stelle eines erprobt wirksamen und gefahrlosen Hausmittels eine Medizin, die selten so sicher hilft und dabei derart schädigende Nebenwirkungen verursacht, daß sie mehr gefahr- als nutzbringend erscheint.

»So wurde neuerdings erwiesen, daß das gefürchtete Schwarzwasserfieber, dem in Kamerun so viele Menschenleben zum Opfer fallen, lediglich vom übermäßigen Gebrauch des Chinin herrührt. Wahrscheinlich hätte man im gänzlich ›unwissenschaftlichen‹ Chinarindentee auch für Kamerun ein Fiebermittel, das die furchtbaren Folgen der wissenschaftlich dargestellten Arzenei nicht nach sich zöge.

»Aber so ist die Wissenschaft! Seit Jahrhunderten weiß man, daß Obstkuren, namentlich Kirschenkuren, das unfehlbarste Mittel gegen die Gicht sind. Welcher Arzt aber verordnet dieses Mittel? Erst jetzt, da man das ›wirksame Prinzip‹ gegen die Gicht aus den verschiedenen in der Kirsche enthaltenen Stoffen entdeckt zu haben glaubt, wird daraus eine Medizin hergestellt, und nun erst glaubt auch der Arzt, dieses Heilmittel verordnen zu dürfen, weil eine wissenschaftliche Begründung seiner Heilwirkung gegeben wurde. Aber ob diese Medizin so sicher und gefahrlos wirkt wie die Kirschenkur? Ganz eins, sie ist doch ein wissenschaftliches Erzeugnis und kein einfaches Heilmittel! Zum Kuckuck mit diesem Wahn! Wenn etwas hilft, was frage ich nach der wissenschaftlichen Begründung? Heilige Einfalt! Wozu, frage ich, wozu sollen wir denn die Mittel nicht in der Gestalt gebrauchen, in der die Natur sie uns bietet, wenn sie in eben dieser Zusammensetzung sich einmal als heilsam bewähren? Warum wollen wir mit Gewalt gescheiter sein und aus dem Heilmittel ein Gift machen, nur um unsere Wissenschaftlichkeit zu wahren? Eigentlich dürften wir Übergescheiten dann auch kein Brot mehr essen, sondern wir müßten das Mehl in seine Bestandteile auflösen und nur die wirklichen Nährstoffe davon verzehren. Sie werden sehen, es kommt noch so weit, daß die Wissenschaft uns unsere Nahrung in Kolben und Pulvern anpreist. Ein guter Anfang ist damit schon gemacht; bald wird man Stärke, Gummi und Albumine an Stelle des täglichen Brotes setzen; aber der menschliche Organismus ist für die Gaben der Natur und nicht für die Präparate der Chemie eingerichtet. Puh! Ich bin selber ein Mann der Wissenschaft, aber Gott bewahre mich vor solchen Verirrungen eines hypnotisierten Gehirns! Ich bitte Sie um alles, reichen Sie mir noch eine Schnitte Kassavebrot und etwas kalten Braten, damit ich die üblen Vorstellungen loswerde!«

»Oho! Herr Schulze, wie reden Sie nun?« sagte Friedrich, ihm das Gewünschte reichend. »Sie selber sind ja so sehr von Ihrer Wissenschaft eingenommen!«

»Ja, die Naturwissenschaft! Das ist was andres! Die hat immer festen Boden unter den Füßen, aber die Medizin wandelt leider oft auf dem Holzwege!«

Inzwischen begaben sich Unkas und Matatoa zu dem gestern entdeckten Chinabaum, um für alle Zufälle einen ordentlichen Vorrat der kostbaren Rinde mitzunehmen. Ulrich und Friedrich leisteten unterdessen dem Professor Gesellschaft, da sie ihm völlige Ruhe verordnet hatten und ihn vor Langerweile bewahren wollten.

Von solcher konnte übrigens keine Rede sein, denn das bunte, lustige und laute Leben des Urwaldes schien sich an dieser Stelle förmlich zu sammeln. Namentlich waren es zahlreiche Affenherden, die immer wieder, von Baum zu Baum springend, vorüberzogen. Die Wanderlust der Affen ist bekannt, und es ist keine Seltenheit, daß sich in der Nähe von Indianerhütten im Walde ab und zu ganze Banden von Affen zeigen, von denen die Indianer bekennen müssen, daß sie diese Arten noch nie gesehen haben.

Heute schien es, als ob sich sämtliche Affenfamilien des Urwaldes den Herren Europäern nach und nach vorstellen wollten. Da erschien zunächst eine schwarze Brüllaffenart mit rostfarbenen Händen. Da diese düstern Vettern Salvados nicht imstande waren, selber ihren Namen zu nennen, der ihnen überhaupt unbekannt sein dürfte, und den sie wahrscheinlich als einen wenig schmeichelhaften, von den boshaften Menschen ihnen beigelegten Spitznamen gar nicht anerkannt hätten, übernahm der gelehrte Zoologe, als lebendiges Wörterbuch, ihre Vorstellung.

»Das sind die Myceten oder Alouatta Belzebuth, die Teufelsaffen. Wenn wir die in Europa aussetzten, so würde bald mancher abergläubische Bauer darauf schwören, er habe eine Erscheinung des leibhaftigen Satans gehabt.«

Ihnen folgten einige lange, hagere Klammeraffen mit dichtem schwarzem Pelz und fast nackter Brust; ihr fleischfarbenes Gesicht war völlig haarlos, und der Schwanz außerordentlich lang und langbehaart, an der Spitze aber, die zum Anklammern dient, ebenfalls kahl.

» Ateles paniscus,« erklärte Schulze, »auch Coaita genannt: das sind die Gespenster unter den Affen, die ganz naturgemäß das Gefolge Beelzebubs bilden.«

Die dürren Gestalten sahen denn auch gespensterhaft aus. In ihrer Gesellschaft befanden sich einige Marimonda, die der Professor als Ateles Belzebuth bezeichnete, und die sich von ihren ähnlich benannten Vettern durch das violettschwarze Gesicht mit fleischfarbenen Ringen um die Augen, durch die weißbärtigen Backen, sowie durch den hellen Bauch unterschieden.

Kurz nachdem diese »Ausgeburten der Hölle« verschwunden waren, zeigten sich etliche Caparro, mit grauem wolligem Haarkleid und dickem, rundlichem Kopf; sie waren zum Teil so groß wie die Brüllaffen und Kletteraffen, das heißt bis zu sechzig Zentimeter lang. Sie erschienen auffallend kräftig und benutzten auch den Greifschwanz, um sich vorwärts zu schwingen.

» Lagothrix lagotricha« nannte der Naturforscher diese Familie, die sich durch dumpfes Geheul ankündigte.

»All diese Affen, Brüllaffen, Klammeraffen und Wollaffen, sind ein beliebtes Nahrungsmittel bei den Indianern, die sie zu Tausenden verzehren,« fügte er hinzu.

»Abscheulich!« rief Friedrich aus. »Nie könnte ich mich dazu entschließen, solch ein menschenähnliches Geschöpf zu verspeisen; ich käme mir vor wie ein Menschenfresser.«

»Das stimmt!« sagte Schulze. »Die Europäer haben alle einen natürlichen Widerwillen gegen solche Mahlzeiten, namentlich, da die Indianer die Affen nicht zerlegen, sondern an einem Stücke braten und vorlegen, so daß man ordentlich den Eindruck hat, es werde einem ein kleines Kind vorgesetzt. Die Ähnlichkeit wird natürlich dadurch erhöht, daß den armen Tieren das Fell vorher abgezogen wird. Der Hunger hat aber auch hier schon oft aus der Not eine Tugend gemacht, und Prinz Max von Wied zum Beispiel mußte sich monatelang von dem trockenen, zähen Affenfleisch nähren. – Aber sehen Sie, die Hölle hat noch mehr Insassen, die sie uns heute vorführen will. Wahrhaftig! dort kommt ein ganzes Heer von Schweifaffen, Pithecia Satanas

Die Satansaffen, die zu Dutzenden auf einmal erschienen, machten übrigens eher einen komischen als einen unheimlichen Eindruck. Es waren drollige Tierchen, auffallend lang behaart, so daß namentlich ihre Glieder viel dicker erschienen, als sie in Wirklichkeit waren. Ein mächtiger Bart hing ihnen von Wangen und Kinn auf die Brust herab; die nackte Gesichtshaut und der ganze Pelz waren schwarz.

Im Laufe dieses und des folgenden Tages sahen unsre Freunde noch eine Herde Weißkopfaffen, die Schulze » Pithecia leucocephala« nannte, mit einem Kranz wolliger weißer oder hellgelber Haare um das Gesicht, sonst schwarz und am Bauche rötlich schimmernd; ferner Kurzschwanzaffen oder Brachyurus melanocephalus, braun mit schwarzem Gesicht und schwärzlichen Händen, großen braunen Augen und fein geformten, menschenähnlichen Ohren.

Auch eine Bande Chrysothrix sciurea von Eichhörnchengröße ließ sich blicken; dies sind die Titi oder Totenköpfchen, deren Verwandtschaft das zahme Titiäffchen sofort erkannte. Es eilte zu ihnen hinauf, sobald es sie erblickt hatte, und verschwand in ihrer Mitte, so daß unsere Freunde schon über seinen Verlust trauerten. Um so größer war ihre Freude, als es kurz darauf wieder freiwillig zurückkehrte.

In der Dämmerung erschienen dann auch solche Affen, die mehr ein Nachtleben führen, wie der Durukuli, nach Schulze » Nyctipithecus trivirgatus«, der sich tagsüber in hohlen Bäumen verbirgt. Sein kugeliger Kopf fällt besonders durch die großen vorquellenden Augen auf; seinen Scheitel schmücken drei breite gleichlaufende Streifen, Gesicht und Hände sind behaart, der Pelz ist grau und weiß gemischt, an Brust und Bauch orangefarben. Ferner sah man die zierlichen Springaffen, Verwandte der Viudita, und viele Arten von Seiden- oder Krallaffen, mit kugeligem Kopf, plattem Gesicht, kleinen Augen und großen mit Haarbüscheln geschmückten Ohren. Ihre Finger sind mit Krallen bewaffnet, und nur die Daumen der Hinterhände sind merkwürdigerweise mit Nägeln versehen wie bei den anderen Affen; der Pelz ist seidenweich, der Schwanz buschig und länger als der ganze gedrungene Leib, aber kein Greifschwanz. Mehrere dieser Affenarten waren unseren Freunden übrigens schon früher begegnet; auch auf ihrer ferneren Reise trafen sie immer wieder auf einige dieser alten Bekannten, und selten nur wurde ihnen der Anblick einer noch unbekannten Art zuteil, wie etwa des Pinche ( Midas Oedipus) mit der weißen Kopfmähne und des ergötzlichen, aber sehr reizbaren Löwenäffchens oder Leoncito ( Midas leonina).


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