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29. Die Playa

Beizeiten wurde am Montag aufgebrochen; die Reise ging stets am Ufer des Orinoko hin. Mitten im Strome erschienen von Zeit zu Zeit ausgedehnte Inseln. »Das sind die berühmten Playa,« sagte Schulze, »das heißt seichte Stellen, die bei niedrigem Wasserstande als Inseln im Flusse auftauchen. Die Playa, die Sie hier sehen, sind durch die Schildkröten berühmt geworden. Wahrhaftig! da krabbelt ja schon so ein Tier!«

Es war eine riesige Schildkröte, deren Rückenschild wohl dreiviertel Meter lang war. Sie bewegte sich schwerfällig am Ufer hin, verschwand aber bald darauf im Wasser.

»Ihre Zeit ist noch nicht gekommen,« lachte Schulze. »Wenn wir aber so etwa zwei Monate später vorbeikämen, würden wir unser Wunder erleben: das muß wirklich jeder Vorstellung spotten! Denken Sie sich ein paar Hunderttausend solcher Arahuschildkröten, die in langen Prozessionen von allen Seiten her diese Sandinseln aufsuchen! Alle Schildkröten des Orinokogebietes versammeln sich alljährlich nach Neujahr an dieser Stelle.«

»Ja wozu denn?« fragte Ulrich verwundert.

»Wozu? Das ist ja eben das Tolle: um ihre Eier hier abzulegen! Man sollte wirklich meinen, diese Tiere stehen unter dem Einfluß eines altüberlieferten Aberglaubens, nach dem sie zu diesem Geschäft aber auch kein anderes Plätzchen aussuchen dürfen als eben die paar Orinokoinseln zwischen dem Rio Meta und dem Apure. Warum sie so hartnäckig hieran festhalten und die weitesten Reisen zu diesem Zweck unternehmen, ist und bleibt ein Rätsel. Dann graben sie tiefe Löcher in den Sand, die reinsten Bergwerkstollen, und dort unten legen sie Ei an Ei: keine ist zufrieden, ehe sie's nicht auf zweihundert Stück gebracht hat. Die Eier sind kleiner als unsere Hühnereier, aber so hartschalig, daß die Indianerkinder sich belustigen, damit Ball zu spielen.«

»Da müssen ja die Schildkröten riesig überhandnehmen,« bemerkte Friedrich.

»Tun sie auch! Das heißt, sie nehmen wenigstens nicht merklich ab. Freilich, die Menschen werden in ihrer tollen Habgier es dennoch fertig bringen, auch diese nützlichen Tiere auszurotten; denn abgesehen davon, daß die Schildkröten zu Tausenden ihren Feinden aus der Tierwelt zum Opfer fallen, werden Millionen ihrer Eier alljährlich ausgegraben. In der Zeit der Eierernte gleicht dann diese öde Gegend einem Jahrmarkt zu Groß-Nowgorod: ganze Indianerstämme schlagen ihre Zeltlager hier auf, und die Händler strömen von ferne herbei.«

»Sind denn die Eier solch außerordentliche Leckerbissen?« fragte Ulrich.

»Das nun gerade nicht; aber sie bestehen zu zwei Dritteilen ihres ganzen Inhaltes aus einem vorzüglichen Speiseöl, das man mit Vorliebe auch zum Backen benutzt. Mit Stöcken stupsen die Indianer in den Sand, um zu untersuchen, an welchen Stellen Eier zu finden sind. Die erbeuteten Eiermassen werden in Holztrögen zerstampft, das Öl oben abgeschöpft und der Haltbarkeit wegen gekocht, und damit ist es fertig. Man kann sich keinen leichteren Verdienst denken.«

»Man sollte aber doch glauben, daß die Tiere bald solche Plätze mieden, wo ihre Brut in solcher Menge geraubt und vernichtet wird,« wandte Friedrich ein.

»Tun sie eben nicht! Instinkt, alles Instinkt! Geradezu lächerlich! Die Schildkröte kommt und legt ihre Eier, und damit basta! Da mag der gefräßige Jaguar hereinbrechen, da mögen die Krokodile nach ihr schnappen – nichts bringt sie draus. Und wenn sich eine verspätet hat, wird sie geradezu närrisch: die Kameraden, die ihre Pflicht erledigt haben, machen sich aus dem Staube; die wenigen aber, die zurückbleiben, legen krampfhaft weiter, wenn auch schon die Indianer zur Eierernte kommen. Man kann diese ›närrischen Schildkröten‹ dann mit den Händen fangen.«

»Haben Sie denn das alles schon einmal mitangesehen, daß Sie so genau darüber unterrichtet sind?«

»Nee! Aber das erzählt Ihnen jeder Indianer und jeder Orinokoreisende. Eine besondere Merkwürdigkeit ist noch, daß sich die ausgeschlüpften jungen Schildkröten – denn die Sonne brütet manches Ei aus, bevor der große Raub beginnt, und viele bleiben auch unentdeckt – in seichten Lachen aufhalten und sich erst, wenn sie größer sind, in den Fluß wagen.«

»Nun! daran sehe ich doch weiter nichts Merkwürdiges,« sagte Ulrich lachend.

»Na! glauben Sie, solche Lachen laufen im Taglohn umher? Sie wollen ausgesucht und gefunden werden, und da ist es wunderbar, wie die kleinen Tiere ohne irgendwelche Führung oft weite Strecken zurücklegen, bis sie an eine solche Pfütze gelangen, aber verfehlen tun sie diese nicht. Natürlich Instinkt, alles Instinkt! Die alten Schildkröten begnügen sich nämlich mit der Eierablage und erkennen keine weiteren Elternpflichten an; da zeigt sich das Krokodil viel gesitteter: es kehrt zur rechten Zeit an den Platz zurück, wo es seine Eier in die Erde legte; dann beginnt es zu brüllen, worauf die Jungen in den Eiern unter der Erde bedeutend piepen; hierauf gräbt die Mutter schleunigst die Eier aus dem Boden und nimmt sich auch späterhin ihres Nachwuchses ernstlich an.«

Unter solchen Gesprächen erreichten die Reiter Conception de Uruana, ebenfalls eine frühere Mission, woselbst sie Mittagsrast hielten.

Schulze hatte sich ins Gebüsch begeben, während die Vorbereitungen zum schlichten Mahle stattfanden; plötzlich aber kam er laut schreiend daher: »Ein Krokodil, ein junges Krokodil!« Gleichzeitig sah man ein schlankes, etwa anderthalb Meter langes Tier mit grünem, bläulich schimmerndem Rücken, das, den Rachen weit aufgesperrt, am Rande des Busches verharrte. Über den Rücken und Schwanz zog sich ein Kamm hin, der den Kundigen sofort erkennen ließ, daß es sich um kein Krokodil, sondern um eine Rieseneidechse, den Leguan oder die Iguana, handelte. Wäre Schulze nicht vom plötzlichen Schrecken verwirrt gewesen und überdies so kurzsichtig, so hätte er als Naturforscher dies zuallererst erkennen müssen; immerhin war seine Flucht wohl angebracht, denn das Tier ist bissig.

Matatoa hatte beim Anblick des Leguans sofort nach seinem Lasso gegriffen und mit einem geschickten Wurf die Schlinge um den Hals der Eidechse geworfen, denn mit dem Lasso wußte er besser umzugehen als mit dem Schießgewehr.

Beide Indianer jauchzten auf, als sie den Fang geglückt sahen; das sich heftig wehrende Tier wurde erschlagen und als besonderer Leckerbissen dem Speisezettel einverleibt.

»So laß ich mir's gefallen!« meinte Schulze schmunzelnd, als er das köstliche Fleisch verzehrte. »Sie werden sehen, meine jungen Herren, ich bilde mich im Urwald noch zum gewandten Jäger aus.« Er mußte eine starke Einbildungskraft besitzen, um seine Flucht vor der Eidechse als eine Jägertat anzusehen. Immerhin sollte sich bald zeigen, daß er sich wirklich Mühe gab, die Jagd zu üben.

Nach gehaltenem Mahle wurden einige Höhlen besucht, die sich in den Granitfelsen bei Uruana finden, und in denen hieroglyphenartige Bildwerke in die Wände gehauen sind, die späteren Forschern vielleicht Aufschlüsse über eine untergegangene Kultur geben mögen.

Nachdem der Rio Capanaparo überschritten war, erhob sich vor den Reisenden ein ansehnlicher Bergzug, der in der Sonnenhitze mühsam zu ersteigen war. Doch auch dieses Hindernis wurde überwunden, und herrlich war der Blick von der Höhe des Passes von Baraguan, wo die Felswände senkrecht in das eingeengte Bett des Orinoko abfallen. Mächtige Granitsäulen strebten wie Ruinen eines Riesentempels gen Himmel, und kaum eine Spur von Pflanzenwuchs war hier zu sehen. Dagegen zeigten sich zahlreiche Leguane, die mit weit aufgesperrtem Rachen bewegungslos die Karawane vorüberziehen sahen. Schulze, dem der Braten von Uruana in angenehmster Erinnerung war, gab einen Schuß auf eines der Tiere ab, fehlte jedoch, und die Indianer rieten, mit der Jagd noch zuzuwarten, da das Fleisch bei der herrschenden Hitze bis zum Abend schon verdorben sein könnte, wenn man jetzt ein erlegtes Tier mitnehmen wollte. Nachdem die Hügelkette überschritten war, gelangte man an die Ufer des Rio Suapure oder Sivapari, der dem Sinaruco gegenüber in den Orinoko mündet.

Schulze wußte aus seinen Büchern, daß die Wälder des Suapure durch ihren Honigreichtum berühmt sind, und tatsächlich fanden sich gewaltige Stöcke der Meliponen an den Baumästen hängend. Matatoa und Unkas verstanden es denn auch, einen reichen Vorrat Honig zu erbeuten, der in leere Konservenbüchsen gefüllt wurde und in der Folgezeit mit dem Kassavebrot, das die Indianer aus den reichlich vorhandenen Maniokwurzeln bereiteten, eine angenehme Abwechslung in den Speisezettel brachte.

Aber Schulze sollte heute abend noch besonderes Jagdglück haben. Als er, seiner Gewohnheit gemäß, noch etwas umherstreifte, während die Indianer das Nachtmahl bereiteten, sah er ein eigentümliches Tier aus dem Flusse auftauchen, das er vermöge seiner zoologischen Kenntnisse für einen Manati oder Lamantin hielt. Und er täuschte sich nicht: es war wirklich eine Seekuh, das grasfressende Wassersäugetier, das in diesen Gegenden vor Zeiten massenhaft auftrat, nun aber als ein leicht jagdbares Wild schon beinahe ausgerottet ist.

Schulze jagte dem Tier sofort eine Kugel durch den Kopf, und er hätte auf seinen Meisterschuß stolz sein dürfen, wenn er sich nicht wohl bewußt gewesen wäre, daß er es nur einem Zufall zu danken hatte, daß er bei seiner mangelhaften Schießkunst das Tier überhaupt getroffen hatte, und noch dazu gleich tödlich!

»Matatoa!« rief der Professor erfreut und doch wieder besorgt, da das Tier sofort untertauchte, das Wasser mit seinem Blute färbend.

Der Gerufene erschien. »Mein Bruder sieht, wie sich das Wasser mit dem Blute der Seekuh färbt, die meine nie fehlende Büchse erlegt hat; doch meine Seele fürchtet, das gute Nachtessen wird mir entrinnen.«

»Der Avia hat Lungen wie Blasebälge, doch sie nützen ihm nichts: er steigt in kurzen Zwischenräumen empor, neue Luft zu schöpfen. Matatoa wird ihn harpunieren.«

Mit diesen Worten eilte der Indianer zum Lagerplatz zurück und erschien gleich darauf wieder mit seinem Wurfspieß, an dessen Schaft er den Lasso befestigt hatte. Soeben tauchte die Seekuh auf, und alsbald bohrte sich auch der Speer in ihren Rücken, und sie wurde verendend ans Ufer gezogen.

Der Lamantin lieferte nicht bloß einen schmackhaften Braten zum Nachtessen, sondern auch Lederstricke von ausnehmender Zähigkeit, die Unkas und Matatoa aus seiner Haut schnitten.


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