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77. Nach Panama!

Am Fuße des Cayambe vorbei näherten sich die Reisenden der herrlichen Hauptstadt der Provinz Imbabura in Ecuador, Ibarro. Da wurden sie unterwegs noch einmal zu einem mehrwöchigen Aufenthalte gezwungen.

Ursache war das böse Fieber, das zunächst Ulrich darnieder warf, dann aber, während der Jüngling langsam genas, den Professor so heftig schüttelte, daß er lange zwischen Leben und Tod schwebte.

Man sollte es nicht für möglich halten, daß in solcher Not keiner an das »Lebenswasser« dachte, das sich in ihren Händen befand. Und doch: die Fülle wunderbarer Ereignisse und erschütternder Zwischenfälle hatte eine Zeitlang die Erinnerung an diesen kostbaren Besitz aus aller Gedächtnis verwischt.

Wie lange war es doch schon her, daß ihnen dies Geschenk überreicht worden war! Wenn die Erlebnisse sich häufen, werden Wochen zu Jahren. Jeder hielt es seither wohl verwahrt und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, seine Zauberkraft zu erproben, sonst wäre es freilich undenkbar gewesen, daß sie die heilkräftige Gabe vergessen hätten.

Mit Schulze schien es zu Ende zu gehen; er sprach im Fieber, und sein Kopf glühte. Alle kalten Wickel wollten nichts helfen, und vergebens wurde die ganze Umgegend nach dem Chinabaume durchforscht.

Trauernd lauschte Friedrich den wilden Fieberworten des älteren Freundes, für den er so gerne das eigene Leben geopfert hätte. Da plötzlich schlugen Worte an sein Ohr, die ihn jäh aufspringen ließen.

»Lebenselixir?« lallte Schulze. »Das ist Schwindel! Da würde sich ja alle Wissenschaft aufhören.«

»Haben wir alle das Gedächtnis verloren?« rief der Jüngling. »Daß wir vergessen konnten, was uns als die wertvollste Mitgift Manoas beständig in der Erinnerung lebendig sein sollte!«

Rasch holte er sein Fläschchen, ließ einen Tropfen seines kristallklaren Inhalts in einen Becher Wasser fallen und flößte dem Fiebernden einen Schluck des geheimnisvollen Trankes ein.

Die Wirkung war wirklich zauberhaft: der Professor wurde ruhig, und seine Bewußtlosigkeit ging in einen tiefen Schlaf über.

Als er nach einer Stunde erwachte, hatte das Fieber merklich abgenommen, und seit mehreren Tagen zum ersten Male zeigte er sich wieder bei klarem Bewußtsein.

Ein zweiter Schluck aus dem Becher erquickte ihn dergestalt, daß er ausrief: »Das ist wahrhaftig ein Lebenswasser! Freunde, ich werde gesund!« Und von nun an machte seine Genesung die raschesten Fortschritte.

Wer beschreibt die Freude seiner Begleiter, als sie sich der bangen Sorge um sein Leben ledig sahen und nun zur ganzen Erkenntnis des wertvollen Besitzes kamen, den sie in Händen hatten.

Schon dachten sie an den Aufbruch, als sie plötzlich in der Nacht von einer Horde Indianer überfallen und gefangen genommen wurden.

Beim Scheine aufblitzender Fackeln erkannten sie ihre Freunde, die Napo, die sich aber finster und durchaus feindselig zeigten.

Dies war folgendermaßen gekommen: Als nach Verlauf von vier Wochen unsere Freunde nicht wieder nach Manoa zurückgekehrt waren, fand es Tupak Amaru an der Zeit, sich nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Bei dem vorzüglichen Posten- und Nachrichtendienste, der im Reiche Manoas eingerichtet war, hatte er schon nach drei Tagen die Gewißheit, daß die Weißen seit eben vier Wochen im ganzen Reiche nicht mehr gesehen worden waren. Es blieb ihm daher kein Zweifel, daß ihnen die Flucht geglückt sei, so rätselhaft es ihm auch erscheinen mußte, wie sie ihnen möglich geworden sein könne.

Tupak Amaru war verpflichtet, seinen Vater sofort von dem unerhörten Ereignisse zu verständigen, und dieser sandte unverzüglich Botschaft an Narakatangetu mit dem Auftrag, den Flüchtigen nachzusetzen und sie zurückzuführen, unter allen Umständen aber darüber zu wachen, daß ihnen nicht das geringste Leid zugefügt werde.

Narakatangetu ließ alsbald Tompaipo kommen und teilte ihm den Befehl mit.

»Mein Bruder weiß von der Flucht!« sagte er, da seinen scharfen Augen ein verräterisches Lächeln um die Lippen des Unterhäuptlings nicht entging.

»Tompaipo weiß, was er weiß; allein Inka Manko hat einen Umstand nicht bedacht, der selbst Narakatangetu hindert, seinen Befehl auszuführen.«

»Niemand wird den Roten Papagei hindern können, dem Befehle des großen Inka zu folgen, und wenn Jolokiamo selber es versuchte. Nur wenn der herrschende Kaiser selber einen Gegenbefehl gäbe, wäre Narakatangetu seiner Pflicht entbunden. Tompaipo aber wird Rechenschaft geben müssen, warum er die Flucht nicht hinderte, da er von ihr wußte, und warum er versäumte, seinem Oberhäuptling Anzeige zu erstatten, wie er es hätte tun müssen.«

»Tompaipo wird sich rechtfertigen,« erwiderte Blitzhand kurz und übermittelte gleich darauf seinen Untergebenen den Befehl des Oberhäuptlings, ohne Verzug aufzubrechen und den Spuren der Flüchtigen zu folgen.

Die beiden Indianerlager vereinigten sich zu einem stattlichen Heer; nur Weiber, Greise und Kinder blieben zurück; die andern jagten in Gewaltmärschen den Weißen auf dem von Tompaipo angegebenen Wege nach.

Daß es äußerst fraglich war, ob man sie bei ihrem gewaltigen Vorsprung noch einholen könne, verhehlte sich Narakatangetu nicht; allein das Menschenmögliche mußte versucht werden.

Wir wissen, welcher unfreiwillige Aufenthalt das Unternehmen gelingen ließ und unsere Freunde in die Gefangenschaft der Napo brachte.

Sobald der Anschlag gelungen war, ließ Narakatangetu sich die Gefangenen vorführen. Triumphierend blickte er Tompaipo an; denn es freute ihn, daß er zustande gebracht hatte, was Blitzhand für unmöglich hielt. Dieser aber lächelte still vor sich hin. Er hatte zuvor seine Freunde begrüßt und für die unliebsame Überraschung um Entschuldigung gebeten, zugleich Friedrich erinnert, wie er sich zu verhalten habe.

Als der Oberhäuptling die Gefangenen, die übrigens nicht gefesselt waren, vor sich sah, hub er an: »Die weißen Männer haben unrecht getan. Sie haben Geheimnisse der Napo erkundet, deren Erforschung mit dem Tode bestraft wird. Cachimana weiß, wie sie der gerechten Strafe entgingen und entfliehen konnten. Nun aber werden sie mir folgen zu den großen Richtern.«

»Nein!« erwiderte Friedrich kühn. »Sie werden dir nicht folgen, vielmehr wirst du uns sofort frei lassen, das befehle ich dir!«

Narakatangetu sah den Jüngling verblüfft an, dann aber sagte er spöttisch: »Glaubt der weiße Knabe einen grauen Häuptling der Napo durch törichte Reden einschüchtern zu können? Narakatangetu folgt dem Befehle des Inka Manko.«

»Inka Manko ist längst nicht mehr euer oberster Herr. Ich gebiete dir, uns auf der Stelle frei zu geben, im Namen des einzigen Kaisers, des Sonnensohnes, Tupak Amaru.«

Damit hielt er dem betroffenen Häuptling seine Hand mit dem Schlangenring vor die Augen.

»Bei Cachimana, der Ring der glänzenden Schlange!« mit diesem Ausruf fiel Narakatangetu in höchster Verehrung auf sein Angesicht nieder.

Blitzhand aber sprach: »Tompaipo hat es dem großen Häuptling gesagt, er werde sich rechtfertigen: hier ist seine Rechtfertigung! Diese Weißen sind Brüder des Kapak Inka Intiptschurin, wer darf es wagen, ihnen zuwider zu sein?«

Narakatangetu erhob sich und sagte demütig: »Mein weißer Gebieter verzeihe, was der Rote Papagei unwissend tat. Er hatte Befehl von Inka Manko. Ein Größerer aber steht diesem Befehl entgegen. Meine Brüder mögen in Frieden ziehen, Cachimana wird mit ihnen sein, und wenn sie etwas zu gebieten haben, Narakatangetu ist ihr Knecht.«

»Kehre heim und entbiete unsern Gruß meinem Vater Manko und meinem Bruder Tupak Amaru,« entgegnete Friedrich. »Das Geheimnis der Omagua wird sicher ruhen in unsern verschwiegenen Herzen.«

Tompaipo verabschiedete sich nochmals aufs herzlichste von den Weißen, Narakatangetu aber aufs ehrerbietigste. Dann zogen die Indianer ab, und dieser Zwischenfall war erledigt.

Unsere Freunde brachen bald hernach auf und sahen nach kurzem Marsche die Stadt Ibarro vor sich liegen. Der majestätische 4672 Meter hohe Berg Imbabura umschließt mit seinen steil abfallenden frühlingsgrünen Geländen die Stadt wie mit einem gewaltigen, prächtigen Mantel.

Aber zahlreiche Risse und Spalten im Erdreich erinnern noch an das entsetzliche Erdbeben, das im August 1868 die Stadt fast völlig vernichtete. Und unsere Freunde gedachten der vielen ähnlichen schrecklichen Ereignisse, die wie die Rache des Himmels immer wieder Tausende und aber Tausende der weißen Eindringlinge in schauervoller Weise ums Leben brachten, während die Eingeborenen in ihren leichten Hütten verschont blieben und sich wohl heimlich, oft aber auch ohne allen Hehl, des Verderbens der Räuber ihres Landes freuten.

Während sich Friedrich und Ulrich solchen Betrachtungen hingaben und auch Schulze – aber mehr mit den Augen des Gelehrten – den Erdspalten seine ganze Aufmerksamkeit widmete, erscholl plötzlich eine Stimme:

»Ah, meine Freunde, meine jungen Lebensretter! Welche Überraschung, welches Wunder! So darf ich Ihnen in Ecuador wieder die Hand drücken! Wer hätte das gedacht!«

»Wahrhaftig, Herr Professor Lemaistre!« rief Friedrich aus, den alten Bekannten von Hamburg her freudig begrüßend. »Herr Professor Schulze!« fügte er bei, nachdem Lemaistre auch Ulrich begrüßt hatte und fragend auf den ihm noch nicht bekannten Gelehrten blickte.

»Welches Vergnügen, ein deutscher Kollege! Oh, meine Herren, kommen Sie, seien Sie meine Gäste in Ibarro. Mit der Gradmessung eilt es nicht: sie schreitet langsam genug voran. Es ist ein Jammer, das Volk hat hier kein Verständnis dafür, und die Indianer wittern gar allerlei Gefahren dahinter in ihrem törichten Aberglauben. Ich sage Ihnen, die meisten Signalbauten zu unseren Messungsarbeiten fand ich schon bei meiner Ankunft zerstört, und auf Schritt und Tritt bereitet uns der Unverstand der Bevölkerung und das Mißtrauen der Wilden die unglaublichsten Schwierigkeiten. Daß man aber auch gerade in diesem tollen Lande die Vermessung vornehmen soll! Ein schönes Land im übrigen, ein herrliches Land! Nur daß kein Mensch einen versteht; man sollte Spanisch können, aber, mein Gott! diese Sprache mit ihren rrr und rrrx und xrrr zerreißt einem den Kehlkopf.«

Unter solchen Gesprächen begleitete Professor Lemaistre unsere Freunde in seine Wohnung, wo er sie aufs üppigste bewirtete, während die Lama in Stallungen untergebracht wurden.

»Übrigens was ich sagen wollte. Ich habe Herrn Friedung in Caracas getroffen ...«

»Wie? Was?! Unsern Vater?!« riefen Friedrich und Ulrich wie aus einem Munde.

»Gewiß! Es war ein merkwürdiger Zufall, ich freute mich, ihn kennen zu lernen; aber er war in Verzweiflung, ganz niedergeschmettert: er hatte erfahren, daß das Schiff, mit dem Sie und Ihre Mutter kommen sollten, mit Mann und Maus untergegangen sei. Wie wird er sich gefreut haben, der gute Mann, daß es nicht so war! Aber, wie kommen Sie nach Ecuador?«

»Ach! wir sind ja auf der Suche nach unserem Vater: sagen Sie doch, wo hält er sich auf, wo ist er?«

»Sie suchen Ihren Vater? In Ecuador?!«

»Ja, wir haben uns aus dem Schiffbruch gerettet, dem unsere arme Mutter zum Opfer fiel; da sind wir nun den Orinoko hinaufgewandert und bis an den Amazonas vorgedrungen, fanden aber die Farm unseres Vaters verwüstet, und falsche Nachrichten führten uns in diese Gegend.«

»Ja, ja! Herr Friedung erzählte, seine Farm sei von Rapoindianern verwüstet worden; er fuhr dann den Amazonas hinab und langte im Dezember gleichzeitig mit mir in Caracas an, wo ihn die Nachricht von dem schrecklichen Unglück erwartete. – Und Sie haben diese entsetzliche Reise unternommen?!«

»Gewiß! Aber ums Himmels willen, sagen Sie uns doch, wo ist unser Vater, wie geht es ihm?«

»Als ich von ihm Abschied nahm, reiste er eben nach Nordamerika, den Tod im Herzen. Er sagte, er wolle nun der früheren Einladung eines Freundes, namens Weber, folgen. Dieser Weber besitze eine Farm im Staate Montana, und dorthin wolle er sich zurückziehen, um in der Nähe des Freundes, in der Wildnis als Trapper oder dergleichen sein Leben zu beschließen.«

»Und wo befindet sich diese Farm Webers?«

»Wahrhaftig! da bin ich überfragt! So ein nordamerikanischer Staat ist freilich groß; aber, soviel Herr Friedung sagte, muß der Yellowstone Nationalpark nicht weit von der Farm liegen.«

»Also dorthin!« rief Friedrich. »Endlich haben wir doch eine sichere Spur!«

Nun mußten unsere Freunde noch die Erlebnisse ihrer wunderbaren Reisen berichten; und obgleich sie die Hauptsache verschwiegen und von Manoa und El Dorado kein Wörtlein ausplauderten, dachte der Franzose doch bei sich: »Es ist merkwürdig, welch lebhafte Phantasie diese Deutschen besitzen: Jules Verne kann nicht ärger fabeln, und das alles erzählen sie so treuherzig, als seien es wirkliche Erlebnisse!«

Er war aber zu höflich, seine Gedanken zu äußern und sagte nur, als der Bericht zu Ende war: »Wie Sie doch anschaulich und poetisch zu schildern vermögen, meine Herren! Wahrhaftig, ich glaube mehr und mehr, jeder Deutsche ist ein geborener Dichter – die Gelehrten nicht ausgenommen,« fügte er mit einer geziertigen Verbeugung gegen Schulze hinzu, da dieser auch hier und da seinen Beitrag zu den Erzählungen gegeben hatte.

So sehr Professor Lemaistre die Herren bat, ihm noch einige Tage das Vergnügen ihrer Gesellschaft zu gönnen, so konnte doch nichts mehr Ulrich und Friedrich zurückhalten.

Sie entließen die beiden Napo und schenkten ihnen die Lama und alles entbehrliche Gepäck, kauften sich zwei gute Reitpferde und reisten gleich andern Tags über Quito nach Guayaquil. Hier nahmen sie Abschied von Schulze, der nach der Heimat wollte und sich nur mit größtem Bedauern von den Gefährten trennte, mit denen er so lange Freud und Leid getragen hatte. Den Brüdern wurde der Abschied nicht minder schwer – aber es mußte sein!

Sie telegraphierten nach Puerto Cabello an Herrn Lehmann, daß sie Anfang Juli in Panama eintreffen und sich freuen würden, ihm noch einmal die Hand drücken zu können, wenn es ihm keine Umstände mache, dorthin zu kommen. Dann schifften sie sich mitsamt ihren Pferden und den drei Äffchen, die sie nicht zurücklassen mochten, ein.

Als sie in Panama anlangten, stand Lehmann bereits auf der Landungsbrücke und neben ihm sein Töchterlein, das lebhaft mit dem Taschentuche winkte.

Lehmann bezeugte eine große Freude, daß sie ihm ihre Ankunft angezeigt hatten, und bedauerte nur, daß sie sich nicht länger aufhielten und seine Hacienda nicht wieder besuchen konnten.

»Freilich,« sagte er, »sind die Zustände in Venezuela nicht einladend: ich bin überzeugt, es gibt bald einen großen Krach, und es wird eine schwere Zeit kommen.«

»Und du bist auch mitgekommen?« fragte Friedrich die liebliche Kleine.

»Ja, ich bin gekommen, meine Lebensretter zu küssen,« sagte das Kind und führte dieses Vorhaben auch alsbald mit kindlicher Zärtlichkeit aus.

Lehmann ließ sich nun von seinen jungen Freunden ihre merkwürdigen Schicksale erzählen, soweit Manuel sie ihm nicht hatte berichten können.

»Ich war immer in großer Sorge um Sie,« sagte er, »zumal, nachdem ich von Manuel erfuhr, welche Gefahren Sie schon in Nueva Valencia und Calabozo überstanden.«

Er konnte nicht genug staunen über die Abenteuer, die sie im Urwald erlebt hatten, und namentlich über die Wunder des Amazonenreiches. Doch auch er sollte nichts von Manoa und El Dorado erfahren; denn unsere Freunde wollten das Geheimnis der Omagua strengstens wahren.

Schon am folgenden Tag hatten sie Gelegenheit, sich nach San Francisco einzuschiffen, und trotz der Freude, Herrn Lehmann wiedergesehen zu haben, war ihnen dies lieb; denn sie sehnten sich danach, ihren Vater endlich zu finden.


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