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79. Glück und Unglück

Durch den Wald war ein Weg gebahnt, auf dem unsere Freunde so schnell dahinritten, daß sie in weniger als drei Stunden die Lichtung erreichten, von der aus man eine reizende Aussicht auf den Flatheadsee genoß. An seinen Ufern zeigte sich ein ausgedehntes, umzäuntes Gut, dessen Grenzen nicht zu überschauen waren. Der Urwald war hier erst in der Ausrodung begriffen, gefällte Riesenstämme lagen zu Hunderten umher; da und dort sah man ganze Reihen verkohlter Baumstümpfe, und nur ein ganz kleines Stück Land war schon zum Anbau umgebrochen.

»Hier ist Friedungs Farm,« sagte Ernst Weber, kaum seiner Rührung Herr werdend, und wies auf ein stattliches Blockhaus. »Reiten Sie nur darauf los: das erste Wiedersehen braucht keine Zeugen, so gut befreundet mir Friedung schon seit Jünglingsjahren ist. Ich jage ein Wild, und in zwei bis drei Stunden lade ich mich zum Mittagsmahle ein.«

Damit lenkte er sein Pferd ins Gebüsch.

Hochklopfenden Herzens sprengten die Jünglinge dem Pfahlzaun zu, der den Hofraum der Farm umgab. Das Tor stand offen. Sie sprangen aus den Sätteln, banden die Pferde an zwei Pfosten fest, und dann eilten sie dem Wohngebäude zu mit dem Rufe: »Vater, Vater!«

Und siehe da! Ein stattlicher Mann erschien unter dem Haustor, mit der Hand die Augen gegen die blendenden Sonnenstrahlen schützend. Zuerst schaute er verwundert nach den Ankömmlingen, dann starr, mit aufgerissenen Augen, als sehe er Gespenster. Aber schon hingen die Knaben jubelnd und weinend an seinem Hals. »Vater, Vater! Endlich haben wir dich wieder!«

Friedung war anfangs keines Wortes fähig. Er umarmte und küßte nur wieder und wieder die wiedergefundenen Söhne, während auch ihm die hellen Tränen über die Wangen liefen. Dann richtete er die Blicke gen Himmel und schickte ein stilles, inniges Dankgebet empor. Nun erst fand er die Sprache wieder. »O meine lieben, lieben Söhne, ihr längst als tot Beweinten! Ihr seid mir wahrhaftig von den Toten erweckt! Welches unaussprechliche Wunder, welches Glück in meinem Unglück! – Ach,« fügte er nach einer Pause hinzu, »daß ich gleich einen Schatten auf eure sonnige Freude werfen muß! Ihr trefft mich als einen, der im Begriffe war, seine letzte Erdenfreude zu begraben: eure Mutter liegt im Sterben!«

»Unsere Mutter?!« riefen beide Jünglinge, sich voll jähen Erstaunens aus seinen Armen losreißend. »Großer Gott! Was ist das? Sie ist doch bei unserm Schiffbruch untergegangen?!«

»Nein, nein, Kinder! Sie wurde gerettet; aber nur, um mir allzubald wieder entrissen zu werden.«

Im nächsten Augenblick standen die Söhne tief erschüttert am Bette der sterbenden Mutter. Ein Freudenglanz erleuchtete ihr fieberglühendes Antlitz. Der Anblick ihrer betrauerten Kinder sagte ihr in einem Augenblicke alles, und es bedurfte keiner Worte. Solche hätte auch keiner der Anwesenden gefunden vor Schluchzen und Weinen. Wie nahe liegen doch Glück und Unglück beieinander!

Jetzt begriffen Ulrich und Friedrich das geheimnisvolle Wesen Webers und der Seinigen: das Wiederfinden ihrer Mutter sollte ihnen eine Überraschung sein. Freilich, daß es eine traurige Überraschung wurde, ahnten Webers nicht; denn erst vor wenigen Tagen hatte das heimtückische Fieber Frau Friedung überfallen.

»Weinet und klaget doch nicht,« sagte die Kranke mit schwacher Stimme. »Oh, wie zufrieden scheide ich jetzt aus dem Leben, nachdem ich diese Freudenstunde erlebte, – wenn ich auch gerne noch bei euch bliebe; aber es geht zu Ende!« Sie war die Gefaßteste von allen.

»Mutter, du darfst nicht sterben!« rief Friedrich mit plötzlich erwachender Hoffnung. »Mit Gottes Hilfe wirst du genesen. Gott wollte uns gewiß nicht neu vereinigen, um uns so bald wieder zu trennen!«

Zugleich zog er das Kristallfläschchen hervor, das ihm der alte Inka Manko gegeben hatte, und das er immer bei sich trug, seit er es damals zu Schulzes Heilung aus seinem Gepäck hervorgeholt hatte. »Vater,« sagte er, »bringe rasch ein Glas Wasser! Ich habe hier ein wunderbares Mittel – wer weiß, es möchte helfen?«

Friedung schüttelte den Kopf, er hielt jede Hilfe für ausgeschlossen; dennoch beeilte er sich, der Bitte des Sohnes nachzukommen. Friedrich ließ nur einen Tropfen in das Wasser fallen, aus Sorge, der Trank könnte sonst für die Entkräftete zu stark werden.

Frau Friedung nahm einen Schluck der Arznei. »Ah! das kühlt, ah! das ist köstlich! »flüsterte sie; dann sank sie zurück, schloß die Augen und verfiel in Schlummer.

»Das ist eine Wohltat,« sagte Friedung freudig erstaunt. »So fest und ruhig hat sie seit Tagen nicht mehr geschlafen.« Neue Hoffnung belebte ihn, und er vermochte es jetzt, die Fragen seiner Söhne zu beantworten.

»Als meine Farm in Brasilien von heimtückischen Napo ohne jede Veranlassung meinerseits zerstört wurde,« erzählte er, »wäre ich ohne Zweifel selber den Mordbrennern zum Opfer gefallen. Aber ein Häuptling der Napo, Tompaipo mit Namen, warnte mich zuvor und ermöglichte mir daher, mein Leben und meine wertvollsten Güter zu retten. Das meiste freilich steckte in meinem Rancho. Als ich diesen später wieder heimlich aufsuchte und ihn völlig verwüstet fand, entschloß ich mich, eure Ankunft in Caracas abzuwarten und mich dann mit euch nach Nordamerika zu begeben.

»Schon früher hatte mir mein Jugendfreund Ernst Weber Lust machen wollen, zu ihm zu kommen; allein mich zog es mehr nach Südamerika. Nun wollte ich euch aber doch in eine weniger gefährliche Umgebung bringen; auch hatte ich zu Weber das Zutrauen, daß er mir in jeder Beziehung treu zur Hand gehen werde; denn er hatte Glück mit seinen Unternehmungen, ich aber besaß kaum mehr so viel, um die Reise nach Montana zu bestreiten.

»Ich fuhr den Amazonas hinab und dann übers Meer nach Caracas. Dort vernahm ich die lähmende Botschaft von dem Schiffbruch, und eingetroffene Nachrichten ließen mir keinen Zweifel, daß ihr euch eben auf dem verlorenen Schiffe befunden hattet. Völlig gebrochen unternahm ich nun allein die Reise nach Montana, um mich hier in der Wildnis zu vergraben.

»Wer beschreibt aber meine Freude, als ich auf dem Wege nach New-York in San Domingo eure Mutter fand. Sie war beim Schiffbruch in ein Rettungsboot gelangt, das aber am Felsenriff von Punta Brava, einer öden Insel, zerschellte. Alle Insassen fanden ihren Tod in den Wellen, sie allein wurde auf das Riff geschleudert, wo sie lange besinnungslos lag; mehrere Tage mußte sie auf der kleinen Insel ausharren, ihr Leben kümmerlich durch den Genuß von Austern fristend, bis endlich ein vorbeisegelndes Schiff ihre Notzeichen bemerkte und die Halbverhungerte aufnahm. Der Segler konnte seinen Kurs nicht ihretwegen ändern und landete sie daher auf San Domingo, wo sie sich mit dem Nötigsten versehen konnte, da sie Geld bei sich trug. Sie wartete auf eine Gelegenheit, sich nach Venezuela einzuschiffen, als ich eintraf und sie auf der Landungsbrücke fand.

»Sie erzählte mir, wie sie euren Untergang mit eigenen Augen habe ansehen müssen, als ihr vom Strudel des untersinkenden Schiffes verschlungen wurdet. Sie habe danach eigentlich auf den Tod gehofft, und nur der Gedanke an mich habe ihr Kraft gegeben, weiterzuleben.«

Friedrich und Ulrich berichteten nun ihrerseits in aller Kürze, wie sie den Wellen entrannen, und wie sie das Zerschellen des Bootes beobachteten, in dem sie ihre Mutter wußten, so daß sie an ihrem Tode nicht zweifeln konnten. Auch von den Mestizen und ihrem Anteil an der Zerstörung von Nueva Esperanza erzählten sie.

Aufs höchste erstaunt war der Vater, als er erfuhr, daß Blitzhand, sein edler Warner, ein biederer Schwabe sei.

»Und niemals,« sagte Friedrich, »hat der bescheidene Napohäuptling auch nur ein Wort davon zu uns gesagt, welches Verdienst er selber um die Rettung unseres Vaters hatte!«

Inzwischen war Frau Friedung erwacht und lauschte gespannt den Berichten ihrer Söhne. Friedrich bemerkte zuerst, daß sie nicht mehr schlummerte; er eilte an ihr Lager. »Wie fühlst du dich, liebes Mütterlein?«

»Es ist mir, als ob eine ganz neue, frische Lebenskraft meine Adern durchrinne; ich weiß nicht, ist es die Freude oder der Heiltrank – aber jetzt glaube ich, daß ich noch einmal gesund werde!«

Diese frisch gesprochenen Worte erhöhten die Hoffnung der Ihrigen. Frau Friedung nahm noch einen Schluck des köstlichen Lebenswassers, und als bald darauf Weber eintrat, fand er alle in fröhlicher Stimmung.

Mit lebhaftem Bedauern hörte er von Frau Friedungs schwerer Erkrankung, versicherte aber auch, man sehe ihr an, daß sie sich auf dem Wege der Genesung befinde.

»Ich habe mir übrigens gedacht,« sagte er, »daß die Herrschaften in der Freude des Wiedersehens und bei der Fülle von Mitteilungen, die sie einander zu machen haben, die Vorbereitungen zum Mittagsmahl vergessen könnten, und so habe ich gleich das Wild, das ich erbeutete, über einem Feuer gebraten. Brot und ein frischer Trunk wird ja zu haben sein: also bitte ich, meine Herrschaften, lassen Sie uns schmausen. Ich habe einen Wolfshunger, und die jungen Herren werden unter dem Äquator auch gelernt haben, einen Wildbraten ohne Umstände und ohne viele Beilagen als köstliches Festmahl für den hungrigen Magen zu betrachten.«

Er hatte recht, und beim Anblick des saftigen Bratens regte sich bei allen der bisher vergessene Hunger; sie griffen denn wacker zu, nachdem Friedung herbeigeschafft hatte, was sein Speiseschrank zum Mahle beisteuern konnte.


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