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74. Bei den Riesen

Nun waren unsere Freunde schon zwei Monate in Manoa; sie machten häufig Ausflüge in die Umgegend und blieben wohl auch ein bis zwei Tage fort. Dabei war es ihnen nicht bloß darum zu tun, das Land und seine Wunder eingehend kennen zu lernen, sondern sie wollten auch ihre Flucht auf diese Weise vorbereiten. War man gewohnt, sie oft tagelang nicht heimkehren zu sehen, so würde ihre heimliche Entfernung nicht so bald entdeckt werden können, und bis man ihnen etwa nachsetzen wollte, wären sie längst über alle Berge gewesen.

Aus eben diesem Grunde dehnten sie allmählich ihre Reisen weiter aus und blieben auch wohl acht bis zehn Tage fort. Friedrichs Schlangenring öffnete ihnen überall Herzen und Tore, auch vermochten sie sich bereits in der Landessprache auszudrücken.

Nachdem sie die ziemlich ausgedehnte Hochebene mit ihren Dörfern und Städten, mit all ihren Natur- und Kunstwundern, mit ihren verschiedenen Indianerstämmen, unter denen die Omagua, Tayronen und Aturen hervorragten, die Kreuz und Quere durchforscht hatten, drangen sie zuletzt bis an den Felsenwall vor, der das ganze Land umgürtete.

Sobald sie in die Nähe der Felsen gelangten, erschienen Männer von gewaltiger Körpergröße, bis gegen drei Meter hohe Gestalten, aber schön und ebenmäßig gebaut. Sie sahen die Fremdlinge mit Mißtrauen nahen und nahmen eine drohende Haltung an; sowie aber Friedrich seinen Schlangenring zeigte und den Namen Tupak Amaru aussprach, waren sie wie umgewandelt und die Freundlichkeit selbst.

Nachdem unsere Freunde die mächtigen Glieder dieser Enakskinder genügend bewundert hatten, wandten sie ihre Aufmerksamkeit dem Walle selber zu. Man sah deutlich, daß hier der Natur nachgeholfen worden war, denn die Felsen waren nach innen zu so glatt behauen wie eine Wand, und Lücken zwischen ihnen waren künstlich ausgefüllt. So bildeten sie eine mindestens drei Meter hohe ununterbrochene Brüstung, deren Krone jedoch nicht gleichmäßig abgeschnitten war wie bei einer Mauer, sondern vielmehr rauh und wildgezackt; teilweise stiegen turmhohe Felsen von ihr auf, so daß von der Ebene unten das Ganze den Eindruck natürlicher Felsbildungen machen mußte.

Die Riesen konnten, wenn sie auf kleine Felsblöcke stiegen, über die Brüstung wegsehen, wenigstens über ihre niedersten Stellen. Überall war aber die Mauer auch mit Öffnungen versehen, die sich gerade in Augenhöhe der Wächter befanden und ihnen gestatteten, das ganze Land umher weithin zu überschauen, während aus der Tiefe die verhältnismäßig geringfügigen Gucklöcher gar nicht zu bemerken waren.

»Ihr seid aber merkwürdig groß!« sagte Schulze scherzend zu einem der Riesen.

»Weiß Gott,« antwortete dieser, »wenn wir den Inka nicht gebeten hätten innezuhalten, weil wir uns vor uns selbst zu fürchten begannen, er hätte uns bis zum Himmel wachsen lassen!« und er lachte, daß die Felsen erdröhnten.

Als Friedrich den Wunsch äußerte, die Aussicht von dort oben zu genießen, hoben die Riesen bereitwilligst die drei Deutschen empor und setzten sie auf die Brüstung des Walles. Anfangs schwindelte allen dreien, als sie in die jähe Tiefe hinabblickten; bald aber gewöhnten sie sich an den Anblick. Wie sie es schon von unten bemerkt hatten, sahen sie auch hier die Felsen nach außen hin so jäh abfallen, daß eine Ersteigung einfach unmöglich sein mußte und es als eine überflüssige Vorsicht erschien, wenn der natürliche Wall mit zahlreichen losen Felsblöcken belegt war, die im Falle eines Angriffs von den Riesen auf die Stürmenden hinabgeschleudert werden konnten. Auch innerhalb des Walles hatten die Riesen noch ganze Berge von Felsblöcken aufgetürmt, so daß sie die größte Armee mit solchen Vorräten zerschmettern konnten.

Da der Umfassungswall dem ganzen Rande der Hochebene mit allen seinen Einschnitten folgte, so bot er ringsum einen unüberwindlichen Schutz; nur die Felsenschlucht mit der Guacharohöhle konnte der überhängenden Wände wegen von hier aus nicht beobachtet werden, doch lag sie ja verborgen genug, und die engen Zugänge der Schlucht, der Höhle und des weiteren Weges waren mit Leichtigkeit gegen ein ganzes Heer zu verteidigen, sobald ein solches erschienen wäre.

Eine Gefahr für die glücklichen Ansiedler hier oben schien also ausgeschlossen, wenn man auch ihr Geheimnis entdeckt und die ganze Welt einen Eroberungszug gegen sie unternommen hätte.

Unsere Freunde befanden sich am südwestlichen Ende der Hochebene, wo diese sich bei weitem nicht so hoch über das Vorgelände erhob wie im Osten und Norden; man sah sogar deutlich das Flußtal, das von dieser Seite vor Zeiten ganz allmählich zu den Höhen von Manoa emporführte, und durch das seinerzeit der Häuptling Viraratu in den See Manoa gelangt war. Nun aber waren die Quellen des Flusses abgeleitet, und die Wasser stürzten in mächtigem Fall an einer andern Stelle von der senkrechten Felswand herab. Das Tal selber war jedoch durch eine ganz natürlich aussehende Granitmauer derart abgesperrt, daß es keinen Zugang mehr bilden konnte.

Im Westen und im Süden erhob sich in geringer Entfernung die Cordillera de los Pastos, und weiter südlich erblickte man die mächtigen Schneegipfel und Vulkane von Quito. Die Aussicht war großartig! Und welch gute Wächter die Riesen waren, erfuhr Schulze zu seiner höchsten Verwunderung; denn einer der scharfsichtigen Männer, deren Sehkraft ihrer Körpergröße zu entsprechen schien, machte ihn auf einen Andenbär aufmerksam, den der Gelehrte kaum mit seinem guten Fernrohr noch wahrzunehmen vermochte.

An dieser Stelle war der Felsenwall wohl achtzig bis hundert Kilometer von Manoa entfernt, während er im Osten bis auf etwa zehn Kilometer an die Stadt herankam; unsere Freunde unternahmen die Wanderung an dem Wall entlang und schritten den Bogen aus, dessen Sehne demnach etwa neunzig bis hundertundzehn Kilometer betrug. In sechs Tagemärschen legten sie die zweihundert Kilometer dieses Bogens zurück und befanden sich nun wieder in nächster Nähe der Goldstadt, von ihr durch den »Märchenwald« getrennt. Hier konnten sie von dem Walle unmittelbar in die Schlucht hinabschauen, in der noch der von Friedrich bekämpfte Riesenwurm lag, freilich arg zerfleischt von den Zamuro. Einige Stunden gingen sie noch weiter die Felsenmauer entlang, von den überall wachestehenden Riesen stets bereitwilligst emporgehoben, wo sie nur immer Ausschau halten wollten; sie erblickten nun auch aus der Vogelschau Tompaipos und Narakatangetus Lager, ersteres mitten im Walde, letzteres am Eingange eines der zahlreichen Felsentäler, die den Fuß des Berges durchfurchten.

Dann aber kehrten sie nach Manoa zurück.


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