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23. Die Tembladore

Der 20. Oktober, den unsere Freunde im gastfreundlichen Hause des Generals Rodriguez verbrachten, war ein Sonntag. Nachmittags führte sie ihr Beschützer auf sein zwei Stunden entferntes Hato »Los Tamarindos«. »Hato« bedeutet auf spanisch so viel wie Landgut.

Unterwegs machte sich Don Guancho ein Vergnügen daraus, seine Begleiter auf verschiedene merkwürdige Bäume aufmerksam zu machen. »In diesem glücklichen Lande,« sagte er scherzend, »kann man die meisten Handwerker und Fabriken als überflüssig entbehren; denn was die Industrie in Europa mühsam erzeugt, das wächst hier auf den Bäumen, und zwar schon ganz gebrauchsfertig. Man sollte meinen, hier sei das Land Schlaraffia, wenn nur die vielen wilden und giftigen Tiere und Insekten nicht wären: die erinnern einen daran, daß man im Reiche der Wirklichkeit lebt. Die Indianer, die allerdings sehr genügsam sind, bedürfen weder einer Spinnerin noch eines Webers noch eines Schneiders; sie holen sich ihre dürftige Kleidung fertig von den Bäumen. Seht hier diese Palme; auf ihr wachsen die schönsten Hüte, wie man sie sich zum Schutze gegen die Sonnenstrahlen nicht besser ausdenken könnte; dort ist die Dachpalme, die uns die Dächer für unsere Hütten liefert, und da wachsen Besen und Fächer – alles auf Palmen. Die Morichepalme, die ihr dort seht, ist unser Lebensbaum; sie allein könnte einem bescheidenen Menschen für alle Bedürfnisse genügen, ihre Früchte sind ausgezeichnet, ihr Mark ist nahrhaftes Mehl, ihr Saft ist Wein, ihre Rinde besteht aus Fischnetzen und Hängematten, ihre Blätter sind Dachziegel, und sie selber kann als luftige und doch regendichte Sommerwohnung bezogen werden.

»Und unser Filterbaum! Betrachtet einmal die Früchte dieses Baumes: sehen sie nicht aus wie künstlich geschnitzte Trichter? Und da sie mit einem schönen, schwammigen Gewebe ausgepolstert sind, könnt ihr sie zum Filtrieren des trüben Llanoswassers benutzen. Aber jetzt paßt auf: habt ihr schon so etwas gesehen? Das ist unser Bürstenbinder!«

Ulrich und Friedrich mußten laut auflachen, als sie den Baum erblickten, denn es sah gar zu komisch aus, wie er voller striegelartiger Kratzbürsten hing, als sei er in der Tat von einem Bürstenbinder zur Ausstellung seiner Waren benutzt worden.

»Und hier holen wir uns Schüsseln, Teller und Flaschen aller Größen herunter,« fuhr Don Guancho fort, indem er auf eine Crescentia Cujete wies, die von den Eingeborenen »Totumo« genannt wird.

Inzwischen hatten sie den Hato »Los Tamarindos« erreicht und erqickten sich an der herrlichen Milch und dem frischbereiteten Käse, die hier erzeugt wurden. Hierauf zeigte ihnen der General mit dem Stolz eines Großbauern seine Rinderherden und seine Schweine nebst allen anderen Sehenswürdigkeiten des Ranchos. In Hängematten wurde die Nacht verbracht, und da sich unsere Freunde nicht länger halten ließen, schenkte ihnen Don Guancho aus seinen reichen Vorräten, was er für das Notwendigste hielt, nämlich Patronen, sowohl für die deutschen Magazingewehre, deren er selber einige besaß, als auch für die Büchsen, die ihnen in Nueva Valencia verehrt worden waren. Dann verabschiedete er sich aufs herzlichste von ihnen, ihre lebhaften Dankesbezeigungen energisch abwehrend und ihnen viel Glück zur Reise wünschend.

Er hätte sie gern ein Stück Wegs begleitet, aber eine Karte, die ihm die vorübergehende Ankunft eines Freundes mitteilte, berief ihn unverzüglich nach Calabozo zurück.

Äußerst angenehm waren unsere Freunde überrascht, als sie nach halbstündigem Ritt durch die Llanos vor sich einen herrlichen Urwald sahen, dessen Schatten sie bald darauf aufnahm. Wie wohltuend erschien ihnen außer der angenehmen Kühle der liebliche Anblick der blütenreichen Orchideen, die bunt durch die geheimnisvolle Dämmerung leuchteten. Und welche abwechslungsreiche Pracht der Bäume! Hier die zarten Mimosen, deren Blätter sich bei der leisesten Berührung schlossen, dort der Guazimo, aus dessen unregelmäßigen Hauptästen die Nebenäste wie Orgelpfeifen schnurgerade in die Höhe schossen; dann wieder der riesige Algarrobo und der niedrige Samanbaum mit seiner prachtvollen weitverzweigten Krone.

Manuel ritzte die Rinde eines Drachenblutbaums und zeigte seinen jungen Herren den blutigroten Saft, der aus der Wunde floß. Auch den Guazimo schnitt er an, um den unter seiner Rinde befindlichen süßen Gummi zu allseitiger Erquickung zu gewinnen. Salvado wurde sodann auf die Bäume geschickt, um einen reichen Vorrat wohlschmeckender Früchte zu beschaffen.

Und welches Leben in diesem buntfarbigen Waldesdunkel! Der schöne Carpintero, der rotköpfige Specht, hämmerte an den Stämmen herum, zahlreiche Kolibri schwirrten leuchtend, in allen Farben schillernd von Blüte zu Blüte, mit der feinen Zunge die Insekten aus den Kelchen herausholend, ohne sich niederzusetzen. Kleine braune Tauben und blaue Azulejo hüpften durch die Zweige, und der feuerrote Turupial glühte durch das Laub, hinter dem er seinen entzückenden Gesang hervorschallen ließ.

Einen unbeschreiblichen Lärm aber vollführten die zahllosen Papageien aller Arten, die in ganzen Schwärmen den Wald durchzogen und von allen Zweigen ihr prächtiges Gefieder leuchten ließen.

Aber auch das Unangenehme machte sich unter all diesen Herrlichkeiten bemerkbar, das war die Pica-pica, an deren Schoten die Reiter alle Augenblicke vorbeistreiften, wobei ihnen jedesmal eine Anzahl feiner Brennhaare in der Haut stecken blieb, die bei weitem peinlicher juckten als die der europäischen Brennesseln.

Plötzlich war den Reisenden der Weg versperrt: sie standen an einem sieben Meter hohen steilabfallenden Flußufer; unten wälzte sich der etwa dreißig Meter breite trübgelbe Oritucu.

Obgleich Don Guancho sie vor diesem Gewässer ganz besonders gewarnt hatte, wollten sie doch keinen weiten Umweg machen; denn bei der geringen Breite des Stromes hofften sie unangefochten hinüberzukommen. Manuel steckte ein Stück Kautabak zwischen die Zähne, da dieses Mittel, wie er versicherte, unempfindlich mache gegen die Bisse und Schläge der schrecklichen Fische, die sich in diesem Flusse besonders zahlreich vorfinden sollten.

Bald war eine Stelle gefunden, an der sich leicht hinabklimmen ließ. Friedrich wagte sich als der erste ins Wasser; er kam auch glücklich hinüber; nur sein Maultier empfing eine Wunde durch den Biß eines Caribenfisches.

Der nachfolgende Ulrich hatte schon mehr zu leiden: das Blut aus der Wunde von Friedrichs Maultier zog eine Unmenge der bösartigen Cariben an, die mit ihrem kleinen, aber aus sehr scharfen Zähnen bestehenden Gebiß nicht bloß sein Reittier angriffen, sondern auch ihm selbst mehrere schmerzhafte Wunden an den Beinen beibrachten. Diese Cariben sind äußerst blutdürstig und greifen alles Lebende an. Nicht nur Fische, Schildkröten und Wasservögel fallen ihnen zum Opfer, sie wagen sich selbst an den Kaiman, dem sie Zehen und Schwimmhäute abbeißen. Fingerdicke Stecken, ja, feste stählerne Angelhaken durchbeißen sie ohne Schwierigkeit.

Glücklicherweise war Ulrich schon dem jenseitigen Ufer nahe; plötzlich aber schrie er laut auf vor Schmerz: starke elektrische Schläge durchzuckten seinen Körper. Entsetzt blickte er ins Wasser und sah einen fast zwei Meter langen Aal, von dem die elektrischen Entladungen ausgingen, so oft er mit dem Kopf oder Schwanz Ulrichs Beine berührte; noch mehrere dieser elektrischen Gymnoten, von den Venezolanern »Tembladores« genannt, schwammen daher und lähmten das Maultier durch ihre furchtbaren Schläge. Die neugierigen Zitteraale waren aus ihrer Ruhe aufgestört worden, als die Saumtiere im Durchwaten des Flusses das Wasser aufwühlten, und nun griffen sie die Ruhestörer in empfindlicher, ja, gefährlicher Weise an. Ulrich, anfangs von Schrecken und Schmerz gelähmt, gewann bald seine Kaltblütigkeit wieder, mit einem Satze sprang er ans Ufer, wo er erschöpft niedersank, während Friedrich dem Maultiere heraushalf. Auch dieses legte sich sofort zu Boden.

Am schlimmsten war Manuel daran: sein Kautabak erwies sich als völlig unwirksam sowohl gegen die Bisse der Cariben als gegen die Schläge der Tembladore. Er hatte kaum die Mitte des Flusses erreicht, als der Angriff der Cariben erfolgte. Er befand sich in wirklicher Lebensgefahr; zum mindesten schien sein Maultier unrettbar verloren; denn es mußte von Blutverlust erschöpft sein, ehe es das Ufer gewann, dem es mit höchster Eile zustrebte.

Die Gymnoten erschienen hier als Lebensretter, denn ihre große Zahl hatte bald mit den Cariben aufgeräumt, die, von den elektrischen Schlägen betäubt, zum Teil sogar getötet, von ihren Opfern abließen; aber nun wurden Manuel und sein Maultier von ihren Lebensrettern um so übler geplagt. Der Spanier fluchte, schrie und jammerte, während sein Tier fünf Schritt vom Ufer, wie unfähig, sich weiter zu schleppen, stehen blieb und alsbald in die Kniee sank. Es blieb Manuel nichts übrig, als in das Wasser zu springen, obgleich er nun auch am ganzen Leib den Schlägen der Zitteraale ausgesetzt war. Er riß das Maultier empor und war mit ein paar Sätzen so weit, daß Friedrich und Ulrich, der sich wieder aufgerafft hatte, ihm ans Land helfen konnten.

Das Maultier, das sie auch emporzogen, war von den Bissen der Cariben übel zugerichtet. Nachdem Manuels Wunden verbunden waren, erhielten auch die Tiere die beste Pflege. Ulrich war schon zuvor von Friedrich verbunden worden.

Unerklärt ist es, wie es möglich ist, daß die Tembladore gegen die elektrischen Schläge ihres eigenen Körpers, die in voller Stärke durch ihren Leib hindurchgehen, und gegen die ihrer Artgenossen unempfindlich sind.

Doch die Schrecken waren noch keineswegs zu Ende: unfähig sich zu regen lag Manuel da, als plötzlich der Boden unter ihm schwankte und sich hob. Der erschrockene Spanier rollte zur Seite, und ein fast fünfzig Meter langer Kaiman erhob sich aus der Erde, die sich als der eingetrocknete Schlamm erwies, in den sich das Krokodil zum Sommerschlaf vergraben hatte. Das grimmige Amphibium dachte jedoch an keinen Angriff, blöde sah es sich um, sperrte den entsetzlichen Rachen gähnend auf, um ihn gleich wieder zuzuklappen; dann kroch es schwerfällig dem Flusse zu und plumpste vom hohen Ufer hinab ins Wasser, so daß der Gischt hoch aufspritzte.


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