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49. Die verwüstete Farm

Die drei Mestizen hatten in San Joaquim das seltene Glück gehabt, ein Dampfschiff zu treffen, das handeltreibend den Amazonas und den Rio Negro hinaufgefahren war und nun nach Santarem zurückkehrte. In Manaos sanden sie einen Regierungsdampfer, der nach San Paulo de Olivença hinauffuhr, und dessen Kapitän sie gerne als Reisende mitnahm, um sich ein Trinkgeld zu verdienen. So legten sie in vier Wochen einen Weg zurück, zu dem sie in einer gewöhnlichen Pirogue wohl drei bis vier Monate gebraucht hätten, ohne wahrscheinlich dabei billiger wegzukommen.

Von San Paulo aus schlugen sie den Weg nach Nueva Esperanza ein, der Stätte, wo früher Friedungs Farm gestanden war. Dort hielten sie sich einen Tag auf, um einen heimtückischen Anschlag vorzubereiten. Dann ging es weiter gegen Westen den Kordilleren zu.

Inzwischen setzten unsere Freunde in dem Gebiete zwischen dem Japura und dem Rio Iça ihre Reise fort. Es ging wiederum durch einen wildarmen Urwald, und sie waren herzlich froh an den reichen Fleischvorräten, die sie ihrer denkwürdigen Pekarijagd verdankten.

Dienstag, den 24. Dezember, schlugen sie frühzeitig ihr Lager auf; so wünschten es Ulrich und Friedrich, die viel im geheimen miteinander geflüstert hatten und offenbar irgend etwas vorhatten; denn während Unkas das Nachtessen bereitete, entfernten sie sich und baten Schulze, der sich anschließen wollte, er möchte diesmal zurückbleiben, es handle sich um eine geringfügige Überraschung. Nach etwa einer Stunde war es völlig dunkel geworden; da kehrten die Brüder zurück und baten den Professor und Unkas, ihnen zu folgen. Bald schimmerte ein heller Glanz durch das Gebüsch, und als sie auf eine Lichtung hinaustraten, zeigte sich den überraschten und geblendeten Augen Schulzes und des Indianers ein strahlender Weihnachtsbaum. Friedrich hatte ein junges Bäumchen ausgewählt, das in seinem Wuchse einer Tanne möglichst ähnlich erschien. An den Zweigspitzen hatte er mit Ulrichs Hilfe harzreiche Holzstücke befestigt, die durch zahlreiche seitliche Einschnitte in hellbrennende, kleine Fackeln verwandelt worden waren. Dann hatten die Jünglinge bunte Früchte und Blumen – was nur Farbenschimmerndes und Glänzendes zu finden war, vor allem auch die prächtigen Amazonensteine an das Bäumchen gehängt, und nun leuchtete, glitzerte und funkelte der Stegreif-Christbaum wie nur je einer in der deutschen Heimat.

Schulze stand ganz ergriffen da, Unkas aber war schier närrisch über die wunderbare Pracht und vollführte einen Freudentanz rings um den Baum herum.

Nun begann Friedrich auf seiner Nephritorgel einen Weihnachtschoral zu spielen, den die drei Deutschen mit ihrem Gesang begleiteten, während Unkas ganz feierlich gestimmt den Tönen lauschte. Hierauf sagte Ulrich das Weihnachtsevangelium her, fast wortgetreu, wie er es im Gedächtnis hatte. Und als dann bald darauf die Fackeln zu erlöschen begannen, wurde das Bäumchen geleert und das Lager wieder aufgesucht. Nach dem Nachtmahl wurde der Heilige Abend mit ernsten Gesprächen beschlossen.

Der folgende Tag wurde als Weihnachtsfest und Ruhetag gefeiert, und der Urwald hallte schon am frühen Morgen von all den alten, trauten, herzerfreuenden deutschen Weihnachtschorälen wider, die Ulrich und Friedrich auswendig wußten, während Schulze meist nur bei den ersten Versen miteinzustimmen vermochte.

Dann erzählte Friedrich dem aufhorchenden Unkas die ganze Weihnachtsgeschichte, die dem Indianer, obgleich er sich zum katholischen Glauben bekannte, bei der in der venezolanischen Republik herrschenden religiösen Gleichgültigkeit fast völlig neu war.

Der Professor war ganz gerührt: »Unsereiner,« sagte er, »macht sich in der Heimat vor lauter Gelehrsamkeit oft gar zu wenig aus der Religion. Hier aber im weiten Urwald, wo man keine Gelegenheit zum Kirchenbesuch mehr hat, erkennt man viel eher, welch herrlichen, unvergleichlichen Schatz wir an unserm trostreichen und erhabenen Christenglauben besitzen, und wie selbst die großartigsten Naturwunder und alle menschliche Größe und Herrlichkeit der unsterblichen Seele keinen solch köstlichen und unverwüstlichen Eindruck hinterlassen können wie der schlichte Ausdruck dieser ewigen Gotteswahrheiten, wie vor allem die liebliche Weihnachtsbotschaft von der schuldvergebenden Liebe eines himmlischen Vaters! Nur schade, daß die biblischen Berichte mit so viel Wundergeschichten durchsetzt sind, daß sie dem gebildeten Menschen zum Teil ungenießbar werden.«

»Sie glauben wohl nicht an Wunder?« fragte Ulrich.

»Als Mann der Wissenschaft – ne! gewiß nicht!«

»Was verstehen Sie denn unter einem Wunder, Herr Schulze?«

»Nun, alles was mit dem geordneten Laufe der Natur nicht übereinstimmt, was den Naturgesetzen widerspricht.«

»Hören Sie, Herr Professor,« erwiderte Ulrich, »wenn man genauer zusieht, so ist das nichts. Den geordneten Lauf der Natur kennen wir eben nur zum Teil, und die Naturgesetze überhaupt nicht.«

»Na, na, junger Mann!«

»Gewiß, gewiß! Naturgesetze – was wir Naturgesetze nennen – sind doch nur menschliche Ausdrücke, um bestimmte regelmäßige Tatsachen zu erklären. Da keine Beobachtungen lückenlos sind und wir ohnedies nicht wissen, ob unser Ausdruck für das anscheinende Gesetz irrtumslos richtig ist, so können wir für die unbedingte Richtigkeit eines Naturgesetzes, wie wir es aufgestellt haben, niemals Gewähr leisten. Sie sagen zum Beispiel ›Wärme dehnt die Körper aus‹. Feuchtigkeithaltende Körper aber werden von der Wärme zusammengezogen, und das Gesetz gilt überhaupt nur bis zu einem gewissen Grad; endlich erklärt es so gut wie nichts. Was ist Wärme? Ein Wunder! Was ist Ausdehnung? Ein Wunder; denn die Molekel- und Atomentheorie mit der Isolierungstendenz sind eben unbeweisbare Erklärungsversuche, die uns überdies nur neue Wunder darbieten. Und schließlich: Warum dehnt Wärme die Körper aus? Wenn Sie nun auch die Elektrizität zu Hilfe nehmen – Sie setzen stets nur wieder etwas Erklärungsbedürftiges an Stelle desjenigen, das Sie erklären wollen.«

»Das gebe ich zu, daß wir den letzten Grund der natürlichen Erscheinungen nie werden beweisen können.«

»Nun frage ich Sie: Wasser in Wein verwandeln, das halten Sie wohl für ein Wunder und daher für unmöglich?«

»Na, und ob!«

»Der Weinstock besorgt aber diese Verwandlung in jeder Minute seines Daseins, und jede Pflanze leistet ähnliches, indem sie die aus dem Erdboden aufgenommenen Zersetzungstoffe in fabelhaft kurzer Zeit in ihren eigentümlichen Saft umwandelt und zur Bildung neuer Zellen benutzt; gibt es doch Pflanzen, deren Wachstum man von Minute zu Minute beobachten kann.«

»Ja, das ist etwas andres; man weiß jetzt, daß Bazillen diese Umwandlungen vornehmen.«

»Ist das weniger wunderbar? Und merkwürdig, daß die gleichen Bazillen die gleichen Stoffe im Birnbaum in Birnensaft, im Apfelbaum in Apfelsaft, in der Tollkirsche in tödliches Gift verwandeln.«

»Halt, halt! Es werden nicht gerade immer die gleichen Bazillen sein, auch wird eine Auswahl der Stoffe getroffen werden; freilich spielt jedenfalls auch die Eigenart der Pflanze eine Rolle.«

»Dies alles zugegeben: sind nicht diese Bazillen mit ihrer wunderbaren Tätigkeit Wunder? Ist nicht die Umwandlung der Stoffe ein Wunder? Ist nicht die folgenreiche Eigenart der Pflanze ein Wunder?«

»In gewissem Sinne wohl: das sind aber natürliche Wunder.«

»Warum natürliche

»Weil sie im Laufe der Natur Vorkommen.«

»Also, alles, was wirklich vorkommt, ist natürlich?«

»Gewiß!«

»Also ist es natürlich, wenn ein Toter erweckt wird?«

»He! he! Das kommt nicht vor!«

»Es gibt aber doch Berichte über solche Erweckungen.«

»Freilich! Das sind aber Fabeln!«

»So? und warum denn?«

»Weil eine Totenerweckung unmöglich ist.«

»O, Herr Professor, nun habe ich Sie: sehen Sie, so sind Ihre Schlußfolgerungen. Sie sagen, eine Totenerweckung ist unmöglich, weil sie im Laufe der Natur nicht vorkommt, und wiederum: sie kommt nicht vor, weil sie unmöglich ist. Das ist der bekannte Kreistrugschluß, wo 1 durch 2 und 2 wiederum durch 1 bewiesen wird, so daß keines von beiden wirklich bewiesen ist. Meiner Ansicht nach gibt es für die Wissenschaft überhaupt nichts Unmögliches, also auch kein Wunder. Sie hat nur die Aufgabe, das tatsächlich Vorkommende zu durchforschen und zur Grundlage ihrer Schlußfolgerungen zu machen. Sie müßte sich aber immer bewußt bleiben, daß diese Schlußfolgerungen selbst zweifelhafte Notbehelfe sind, und daß immer noch neue Tatsachen entdeckt werden. Die Tatsachen sind an und für sich alle wunderbar. Ob sich eine Raupe verpuppt und in einen Schmetterling verwandelt, ob ein Käfer oder ein kleineres Insekt erst drei, vier oder noch mehr Umwandlungsstufen durchmacht, wobei Geschöpfe von den verschiedenartigsten Lebensbedingungen entstehen und ineinander übergehen, das ist an und für sich nicht weniger wunderbar, als wenn eine Leiche wieder zum Leben käme. Der einzige Unterschied ist der: das eine hat man täglich vor Augen, das andere nicht.

»Nehmen Sie an, ein Gelehrter, wie Aristoteles, träte plötzlich in unser Zeitalter herein. Um ihm die Eisenbahnen, Telegraphen, Röntgenstrahlen und so weiter als etwas Natürliches glaubwürdig und begreiflich zu machen, brauchte es eine große Arbeit mit unendlichen wissenschaftlichen Belehrungen und Erklärungen nebst Experimenten. Und dennoch stünde das alles dem Stand der damaligen Wissenschaft so fern, daß zuletzt wohl alles umsonst wäre und er sich nach wie vor in eine Welt der Wunder versetzt fühlen würde. Nehmen Sie dagegen einen modernen Menschen, der weder so viel weiß, noch so gescheit ist wie Aristoteles: ihm kommen alle jene Dinge ganz natürlich vor – auch ohne Beweise und Erklärungen, nur deshalb, weil sie ihm zum Teil von Kind auf als vorhanden bekannt sind, oder weil er ihre Entdeckung mit erlebt hat.

»Die ganze Unterscheidung von ›Wunder‹ und ›Natur‹ ist bei Licht betrachtet Schwindel; denn wenn man lange Zeit etwas geleugnet hat als ein unwissenschaftliches Wunder und kann es schließlich eben doch nicht mehr leugnen, so erfindet man ein neues Naturgesetz – und siehe da! das Wunder ist jetzt ganz natürlich und wird anstandslos von der Wissenschaft in ihren Bestand eingereiht.«

»Oho!« rief Schulze. »Da behaupten Sie doch etwas viel, mein junger Freund!«

»Nicht zu viel!« erwiderte Ulrich ruhig. »Vor wenigen Jahrzehnten verwies zum Beispiel die Wissenschaft alle hypnotischen Erscheinungen ins Reich der Fabel: sie stimmten nicht mit der Reihe der damals festgesetzten Naturgesetze. Als sich die Sache nicht mehr wohl leugnen ließ, erfand man den Namen ›Hypnose‹, stellte deren Naturgesetze auf, und nun sind die betreffenden Erscheinungen ›ganz natürlich‹. Sind sie deshalb etwa weniger wunderbar? Dinge, die zum Teil heute noch als wider alle Naturgesetze streitend für unmöglich erklärt werden, beginnt man bereits, weil sie allzugut und häufig bezeugt sind, unter dem Namen ›Hellsehen‹, ›Fernsehen‹, ›Fernwirkung‹ und dergleichen in die Wissenschaft einzubürgern. Man erfindet für die Tatsachen einen Namen, stellt einige neue Naturgesetze auf, und nun sind diese ›Wunder‹ ganz natürlich geworden! Wer verbürgt Ihnen, daß nicht in zehn Jahren als Naturgesetz erkannt ist, daß die Willenskraft oder Glaubenskraft Elemente zu verwandeln vermag und dergleichen mehr? Über die Macht der Einbildung weiß man bereits Wunder zu berichten, sollten Glauben und Willen weniger vermögen?«

»Über die Entdeckungen der Zukunft steht uns allerdings kein Urteil zu, und niemand kann wissen, was in zehn und zwanzig Jahren wissenschaftlich feststehen wird.«

»Das ist es ja, was ich sagen will,« nahm Ulrich wieder das Wort. »Die Wissenschaft hat einfach festzustellen, was wirklich da ist und vorgeht, zu erforschen, wie alles zugeht, sie hat es nur mit dem Tatsächlichen zu tun. Sobald sie aber ihre Befugnisse überschreitet und von ihrer immerhin beschränkten Erkenntnis aus über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ein bestimmtes Urteil fällen will, so täuscht sie sich völlig über ihre Befähigung. Wer auf Grund der Wissenschaft, der Naturgesetze und so weiter irgend etwas für ein Wunder erklärt, für unmöglich hält, der zeigt, daß er vom Wesen der Wissenschaft keine Ahnung hat, in kindischem Selbstbewußtsein einen Tümpel fürs Weltmeer hält und sich einbildet, hinter dem Horizont, der seine Aussicht begrenzt, gebe es nichts mehr. Aber die Wissenschaft steigt und steigt, und ihr Gesichtskreis erweitert sich, so daß sie immer wieder imstande und genötigt ist, ihre früheren Ansichten zu verbessern.«

»Es gibt aber doch vieles, das für alle Zeiten feststeht.«

»Sehr wohl, Herr Professor! Aber wer ist dessen sicher? Eben das, was wir für feststehend hielten, wird sich vielleicht mit der Zeit als irrig erweisen. Geben Sie mir doch nur so viel zu, daß die Wissenschaft nur über Tatsachen berichten darf, sonst aber keinen sichern Grund unter den Füßen hat; die Naturwissenschaft beispielsweise kann weder ein Geschöpf erfinden noch leugnen: ist es da, so ist es eben nicht unmöglich, so wenig es mit den Naturgesetzen übereinstimmen mag, die man lediglich aus den bisher gemachten Beobachtungen gefolgert hat; ist es nicht da – so kann es gewesen sein oder noch entdeckt werden, aber unmöglich ist es nicht. Alles, was die Naturwissenschaft sagen kann, ist: zu meinen bisherigen Beobachtungen stimmt ein solches Geschöpf nicht! Aber wieviel Tausende von Geschöpfen stimmten damit nicht und sind eben doch da oder waren vor Zeiten da.«

»Wollte ich Ihnen das zugeben, mein junger Freund, dann allerdings hörten alle wissenschaftlichen Behauptungen auf, und es blieben nur noch die Tatsachen übrig; denn wer nur einigermaßen in die Naturwissenschaft einen Einblick gewonnen hat, der weiß sehr wohl, daß die Fülle des Unbekannten, namentlich in der Kleinlebewelt und bei den Wassertieren, alles weit übertrifft, was bisher beobachtet und beschrieben ist; und doch ist das letztere schon so viel, daß kein Menschenleben ausreicht, um auch nur einen umfassenden Überblick darüber zu gewinnen.«

»Da haben wir die wahren Wunder, Herr Professor: diese Mannigfaltigkeit der Geschöpfe, das Leben, die Tatsache, daß überhaupt etwas vorhanden ist, das ist das wahrhaft Unerklärliche. Wie das Vorhandene nun aussieht, wie es sich entwickelt, verändert und verhält, das haben wir einfach zu beobachten. Für mich gibt es nur ein Wunder, das ist der Schöpfer. Aus ihm aber läßt sich alles begreifen, außer ihm gibt es kein Wunder mehr. Wer natürlich den Schöpfer leugnet – wozu, meiner Ansicht nach, eine bedeutende Verstandesschwäche gehört, der setzt an die Stelle dieses einzigen Wunders tausend andere, die einfach nicht zu erklären sind.«

»Darin gebe ich Ihnen recht,« stimmte Schulze bei. »Nur logisches Unvermögen und hohle Halbbildung können im Ernste an den Blödsinn glauben, daß der Stoff ewig war oder von selbst entstand, daß er ohne Ursache in Bewegung kam, daß alle Naturgesetze, die aus Bewegung Wärme, aus Wärme Leben und schließlich eine so wundervolle Weltentwicklung herbeiführten, eben auch ganz von selber und von Ewigkeit her waren. Der krasseste Aberglaube und Wunderglaube stehen ganz gewiß nicht auf einer solch niedern Stufe des Verstandes und des Urteils als der Glaube an diese materialistischen Hirngespinste.«

»Nun,« fuhr Ulrich fort, »da sich im Schöpfer alle Wunder und Naturgesetze erklären, so hat es für mich nichts Unmögliches, daß unter bestimmten Umständen nach des Schöpfers Willen ein Toter lebendig werden kann oder das Altern und die Sterblichkeit völlig aufgehoben werden könnten und dergleichen; das Wunder liegt in der Schaffung des Lebens überhaupt, und das Leben ist da, wir können's nicht wegleugnen. Die fortwährende Erhaltung des Lebens oder die Wiederbelebung ist dagegen eine Kleinigkeit, gar nichts so Wunderbares!«

»Freilich wunderbar nur insofern, als sie noch nicht oder nur sehr selten beobachtet wurde.«

»Also, an und für sich ist das, was da ist und nicht geleugnet werden kann, weil es eben da ist, viel wunderbarer als alles, was wir nicht oder noch nicht kennen. Wie töricht, dieses nun als unmöglich zu leugnen, nur weil es im Zusammenhang unserer beschränkten Beobachtungen und Erfahrungen noch nicht vorkommt! Ich war vor Jahren einmal im Zirkus; neben mir saß ein biederer Bauer mit seinem Buben. Der Vater wohnte zum ersten Male einer Vorstellung bei, während der Sohn bereits überall Bescheid wußte. ›Jetzt wird das Fräulein durch den Reif springen‹, sagte der Knabe. ›Sei doch nicht so dumm‹, erwiderte der Vater. ›Das ist ja gar nicht möglich!‹ Aber die Kunstreiterin sprang durch den Reif. ›Gib auf den Hanswurst acht!‹ fuhr der Sohn fort. ›Der springt dem andern auf den Kopf, überschlägt sich in der Luft und kommt wieder auf den Kopf zu stehen.‹ ›Dummkopf!‹ entgegnete der Alte. ›Schwatze doch keinen solchen Blödsinn, so etwas werd' ich dir nie glauben.‹ So ging es fort: alles, was der Bursche vorhersagte, wurde vom Vater für Unsinn und Unmöglichkeit erklärt, der Bube wurde stets als Dummkopf behandelt, weil er solchen Schwindel behaupte; und obgleich er immer recht behielt, so kam der alte Bauer doch nie zur Einsicht, daß sein Sohn Glauben verdiene. Nun, wie dieser Bauer im Zirkus kommen mir diejenigen Vertreter der Wissenschaft vor, die immer und immer wieder dieses und jenes für unmöglich erklären, und wenn es dann doch als tatsächlich erwiesen ist, nicht lernen, mit ihrem Urteil bescheidener zu werden, sondern mit ihren Behauptungen fort- und fortfahren und dabei verächtlich auf die vermeintlich beschränkten Köpfe herabblicken, die für möglich halten, was ihnen unmöglich erscheint.

»Kolumbus wird von den gelehrten Professoren in Salamanca ausgelacht, wissenschaftlich widerlegt und für einen Narren erklärt. Er aber fährt den ›Wasserberg hinab und hinauf‹ und entdeckt Amerika. Galilei wird von den Vertretern der Wissenschaft gezwungen, die Bewegungstheorie der Erde zu widerrufen – und sie bewegt sich doch! Die Weisen Europas spotten über das Märchen vom australischen Bumerang; einer von diesen Überklugen wird durch die Tatsachen in gehörige Angst getrieben. Die Akademie der Wissenschaften in Paris verkündigt, es sei unmöglich, daß Steine vom Himmel fallen: hoppla! da hagelt es gleich darauf Meteorsteine. Der Erfinder des Dampfschiffes wird für das Irrenhaus reif erachtet; das Gesetz von der Erhaltung der Kraft erscheint der Wissenschaft so unmöglich, daß keine wissenschaftliche Zeitschrift einen Artikel darüber aufnehmen will; die Erfindung einer Setzmaschine wird für unmöglich erklärt, da der menschliche Geist sich nicht durch eine Maschine ersetzen lasse; die Luftschifferabteilung in Berlin entscheidet, daß nach mathematischer Berechnung das Schwarzsche Aluminiumluftschiff überhaupt nicht steigen könne: es steigt jedoch dem mathematischen Beweis zum Trotz mit rasender Geschwindigkeit. Graf Zeppelin wird für schwachsinnig gehalten, weil er glaubt, ein lenkbares Luftschiff erfinden zu können, das alle Sachverständigen für unmöglich erklären. Die Berichte über afrikanische Zwergvölker bringen Schweinfurth in den Ruf eines Schwindlers, wie Marco Polo und andere lange Zeit wissenschaftlich über die Achsel angesehen wurden. Über die Nachrichten betreffs der Brontosauren-Knochenfunde spöttelte die ganze europäische Gelehrtenwelt: solche fabelhaften Größenverhältnisse seien wissenschaftlich einfach unmöglich! In allen diesen Fällen und in tausend andern hat sich die Wissenschaft mit ihren überlegenen Zweifeln gründlich bloßgestellt, und dennoch gibt es wissenschaftlich gebildete Leute, die nichts, gar nichts aus diesen Erfahrungen gelernt haben und meinen, nach wie vor dürften sie sich erlauben, mit einem Schein von Wissenschaftlichkeit diese und jene Berichte ohne weiteres in das Reich der Fabeln zu verweisen. – Kurz und gut, vom Standpunkt einer wahren, vernünftigen Wissenschaft aus muß einfach alles für möglich gehalten werden, und statt über tausend Dinge als Fabeln und Hirngespinste zu spotten, sollte alles und jedes unparteiisch und ernstlich auf seine Tatsächlichkeit hin geprüft werden: denn das voreilige Verwerfen von Dingen, die für unmöglich gehalten werden, hindert in unglaublicher Weise den Fortschritt der Wissenschaft und der Kultur.«

»Hören Sie,« meinte Schulze, »Sie reden da über die Grenzen der Wissenschaft wie ein alter Fachmann. Ich kann Ihnen noch lange nicht in allem beistimmen, aber die Fülle Ihrer Gründe setzt mich in Erstaunen.«

»Sie hören aus mir meinen Vater reden,« sagte Ulrich lachend. »Es lag ihm immer sehr am Herzen, daß wir die wahre Wissenschaft schätzen und uns so viel als möglich davon aneignen, aber daß wir ihr ja nicht die Stellung eines Götzen einräumen sollten, sondern uns stets darüber klar blieben, daß sie uns im letzten Grunde kein sicheres Wissen, sondern höchstens zweifelhafte Wahrscheinlichkeiten vermitteln könne, sobald es sich nicht um die einfache Feststellung von Tatsachen handelt, sondern um Schlüsse und Urteile.«

So wenig Schulze es zugab, so machte doch die innere Wahrheit so vieler von Ulrichs Bemerkungen einen nachhaltigen Eindruck auf ihn; freilich bedurfte es noch einer Reihe beschämender Erfahrungen, bis sein Wissensstolz genügend gebrochen war, daß er ein für allemal die Wertschätzung der Wissenschaft auf das richtige Maß herabschrauben lernte.

Am 26. Dezember wurde die Reise mit neuer Kraft und Frische fortgesetzt, und drei Tage darauf erreichten unsere Freunde die Ufer des Rio Iça. Hier stießen sie auf ein Indianerdorf und konnten von den Eingeborenen den genauen Weg nach Nueva Esperanza erkunden. Zugleich aber erhielten sie sehr entmutigende Nachrichten. Die Zerstörung von Friedungs Rancho durch die Napoindianer fand ihre Bestätigung, von einer Wiederherstellung der Farm wußten die Indianer jedoch nichts; auch konnte keiner sagen, was aus Friedung selber geworden sei.

Die Reise ging nun teils durch Urwalddickicht, teils durch Steppen weiter, den Umweg über San Paulo de Olivença konnten sich die Reisenden ersparen, da sie nun über die Richtung belehrt waren, die sie einschlagen mußten, um die Pflanzung zu finden.

Je näher sie aber dem Ziele ihrer Reise kamen, desto niedergeschlagener wurden Ulrich und Friedrich. Drückende Sorgen umdüsterten ihr Gemüt. Nach den am Rio Iça erhaltenen Nachrichten war es mehr als wahrscheinlich, daß ihr Vater die Stätte einer bittern Enttäuschung verlassen hatte, wenn er überhaupt mit dem Leben davongekommen war.

Und war er je allen Gefahren und Mühsalen entronnen, wer mochte sagen, wo er sich zur Zeit aufhielt?

Nach der Küste hatte er jedenfalls Nachricht gesandt, damit die Seinigen wüßten, wo er zu finden sei: er hatte sie ja aufgefordert, ihm nachzukommen. Freilich, so bald hatte er sie nicht erwartet; aber fast wollte es nun die besorgten Söhne bedünken, sie hätten besser getan, an der Küste zu bleiben, bis sie sichere Kunde über den gegenwärtigen Aufenthalt ihres Vaters erhalten hätten. Andererseits, wer konnte wissen, wie lange sie da hätten warten müssen? Wie langsam kamen doch die Nachrichten aus diesen entlegenen Wildnissen an die Postorte, die sie weiter befördern konnten! Nein! die Jünglinge hätten ihre Ungeduld nicht so lange zügeln können; und jedenfalls, dachten sie, hat unser Vater dafür gesorgt, daß in der Nähe seiner früheren Niederlassung sein gegenwärtiger Aufenthalt bekannt ist, damit er für alle Fälle erfragt werden kann. Finden wir also seine Spuren nicht bei Nueva Esperanza, so erhalten wir doch sicher in San Paulo die nötige Auskunft.

Ihre Befürchtungen hatten sie leider nicht betrogen; am Neujahrstage erreichten sie die Stätte, wo Friedung an einem Nebenfluß des Rio Iça in der Nähe der Grenzen von Peru und Ecuador sein Rancho mit so vielen Hoffnungen gegründet hatte. Aber welch einen trostlosen Anblick gewährte das Bild grausiger Verwüstung, das sich hier ihren Blicken bot: der Hato niedergebrannt, die Kulturen zerstört, die Plantagen wie mit der Sense abgemäht. Freilich, die Bananen hatten wieder ausgeschlagen, und viele Kulturgewächse waren der Vernichtung entgangen; aber alles war verwildert.

Um so betrübender sah das Schauspiel aus, als noch Teile der Umzäunung erhalten waren, so daß man auf Schritt und Tritt merkte, daß hier ein mühevolles und lohnversprechendes Werk menschlichen Fleißes dem Untergang geweiht worden war.

Den ganzen Tag blieben unsere Freunde auf diesem Schauplatz einer barbarischen und rohen Gewalttat. Als eine schmerzliche Genugtuung empfanden sie, daß sie sich hier von den Früchten der Kulturarbeit ihres Vaters nähren konnten, soweit diese in der üppigen Tropennatur die Verwüstung überdauert hatten. Schulze und auch Unkas waren voll der ehrlichsten Teilnahme für ihre jungen Freunde und halfen ihnen redlich suchen, ob nicht irgendwo eine Kunde von Herrn Friedungs Hand aufzufinden sei. Aber alles war vergeblich! Nur einige Gerätschaften und Waffen fanden sich unter den verkohlten Überresten des Wohngebäudes und wurden von den trauernden Brüdern pietätvoll mitgenommen. Ein besonders glücklicher Fund waren zwei Kisten mit Patronen, die sowohl in Schulzes als der Brüder Magazingewehre paßten, die das gleiche Kaliber hatten. Die Pekarischlacht hatte nämlich ihre Vorräte bedenklich vermindert.

Sie beschlossen nun, nach San Paulo zu gehen, in der Hoffnung, dort etwas Bestimmtes erfahren zu können. Schulze wollte sie begleiten, und wenn sich ihre Wege hier trennen sollten, noch einige zuverlässige Begleiter anwerben, mit denen er das Fabeltier aufsuchen könnte, dessen Nichtvorhandensein nachzuweisen ihm nun einmal so sehr am Herzen lag. Er gedachte demnach eigentlich nur die Stätten zu erforschen, wo es sich den Berichten nach aufhalten sollte, und nicht das Tier selbst zu finden, an das er nicht glaubte.

Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie auf einen alten Halbblutindianer stießen, der sich sofort mit lauerndem Interesse erkundigte, ob sie vielleicht gekommen seien, Don Friedung zu suchen, und ob die jungen Sennores am Ende gar dessen Söhne seien?

Erfreut und voller Hoffnung bestätigten die Brüder diese Vermutung.

»Da kann der alte Miguel den Sennores gute Nachricht geben. Don Friedung, dessen Nachbar ich hier war, trug mir nach dem Unglück, das ihn betroffen hat, persönlich auf, wenn etwa die Seinigen hier nach ihm forschen sollten, ihnen mitzuteilen, daß er sich nach Colombia begeben habe und zwar in die Gegend bei den Ausläufern der Cordillera de los Pastos.«

»Und können Sie uns den nächsten Weg dorthin angeben?«

»Gewiß, den gleichen Weg, den Don Friedung einschlug. Wenn Sie von hier geradeaus nach Westen gehen, erreichen Sie in fünf gelinden Tagmärschen die Quellen des Rio Atajuari und in fünf weiteren Tagen den Ursprung des Rio Ambiyacu. Von dort aus ist in zwei bis drei Tagen der Rio Napo erreichbar; den gehen Sie hinauf, immer am linken Ufer bis zu seinem großen Nebenfluß, dem Rio Aguarico; diesen verfolgen Sie hierauf bis an den Fuß des Gebirges; dort wenden Sie sich nach Norden und gelangen, am Fuße der Berge hingehend, zum Rio San Miguel – Gott segne ihn! er heißt so nach meinem Schutzpatron – dieser ist ein Nebenfluß des Putumayo, des Oberlaufes vom Rio Iça, und sehet, dort, zwischen dem Rio San Miguel und dem Rio Putumayo – es ist ein Gebiet von geringer Ausdehnung – werdet ihr Don Friedung auf seinem neuen Rancho finden, jedenfalls werdet ihr Leute genug treffen, die euch den Weg dahin genau sagen können, denn er versprach, dafür zu sorgen, daß jeder, der in jener Gegend nach ihm frage, überall Auskunft bekommen solle.«

Hocherfreut über diese bestimmte und tröstliche Nachricht, dankten unsere Freunde dem alten Miguel voller Rührung, gaben ihm auch ein ansehnliches Geldgeschenk und einen Amazonenstein, welch letzterer ihn anscheinend noch mehr erfreute als das Geld.

Sie beschlossen, sofort den gewiesenen Weg einzuschlagen, und Schulze jubelte. »Das ist ja genau die Gegend, die ich zu durchforschen beabsichtige, jetzt brauche ich keine zweifelhaften Begleiter anzuwerben, gottlob! ich habe die liebste Begleitung und den zuverlässigsten Schutz, die ich mir denken und wünschen kann: na! denn man zu!«


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