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53. Die geheimnisvolle Höhle

Ulrich, der wohl ahnte, daß es sich um eine gefahrvolle Sache handelte, beschloß, Friedrich kein Wort zu sagen und zunächst für sich allein zu handeln.

Am 6. März waren Friedrich und Schulze auf Jagdabenteuer ausgezogen, während Ulrich zurückblieb; auf diesen Tag hatte er eine Zusammenkunft verabredet mit Moiatu, dem vermeintlichen Indianer, der kein anderer als Diego war.

Da sich die drei Mestizen unter den Indianern stets viel auf ihre indianische Abkunft zugute taten, war es nicht aufgefallen, daß Diego eines Tages erklärte, er wolle auch äußerlich zu den Sitten seiner Vorfahren und Stammesgenossen zurückkehren und die Spuren einer ihm verhaßten Zivilisation ablegen; ja, die Napo nahmen mit Genugtuung diesen Entschluß auf, der ganz geeignet war, ihr Vertrauen zu dem Mestizen zu erhöhen.

In Tompaipos Lager war Diego nicht weiter bekannt, und man sah ihn ruhig als Vollblutindianer an, zumal er die Sprache der Napo, in der Alvarez seine Gefährten schon unterwegs unterrichtet hatte, bereits vollständig beherrschte, unterschied sie sich doch nicht so wesentlich von einigen Mundarten, die ihm schon zuvor geläufig waren.

Da es unter den Napo immerhin einzelne gab, die fließend Spanisch sprachen, so hatte Ulrich gegen den flott Spanisch redenden Mestizen weiter keinen Verdacht geschöpft und war ganz geneigt, dem so harmlos und teilnehmend tuenden Heuchler zu glauben. Er hätte sich ja auch entfernt keinen Grund denken können, warum ihn der Mann täuschen sollte.

So ließ er sich denn leicht einreden, sein Vater sei von den Napo auf seiner Flucht gefangen genommen worden und befinde sich in einer Höhle ganz in der Nähe. Er werde nicht bewacht, da er an eine Säule gefesselt sei; nur täglich einmal werde ihm von einem Indianer Nahrung gebracht.

Auch jetzt entschloß sich Ulrich nicht, seinen Bruder ins Geheimnis zu ziehen, obgleich ihm der Indianer dringend ans Herz legte, sich ja nicht allein in die Höhle zu wagen. Eben weil es ein Wagnis sein sollte, wollte er Friedrich keiner Gefahr aussetzen. Davon sagte er dem Indianer jedoch nichts, um allen Weiterungen aus dem Wege zu gehen. Hätte Diego geahnt, daß es so stand, so hätte er freilich unverzüglich selber seine Mitteilungen auch dem andern Jüngling gemacht, denn wenn Friedrich nicht zugleich in die Falle ging, war das Werk doch nur halb getan.

Die Mestizen hatten Narakatangetu schon länger darauf aufmerksam gemacht, daß sich Friedungs Söhne in Tompaipos Lager befänden, und daß diese offenbar die gleichen Absichten verfolgten, die Don Jose seinerzeit dem Vater unterschoben hatte. Narakatangetu war es zufrieden, als sich Diego erbot, diese Pläne auszuspionieren.

Nun begab sich der verräterische Mestize zum Häuptling und erzählte ihm, die Knaben hätten von einer geheimnisvollen Schlucht geredet, die sie entdeckt hätten, und in der sich eine verborgene Höhle befinde; dort wüßten sie aus alten Zauberbüchern einen Weg zu großen Reichtümern, und heute nacht wollten sie sich dorthin begeben.

Der Napohäuptling tat Diego gegenüber, als ob es eine derartige Höhle weit und breit nicht gäbe und alles nur müßige Phantasie oder Prahlerei der Weißen sei; aber der schlaue Mestize wußte wohl, daß Narakatangetu nur sein Geheimnis wahren wollte und heute nacht wohl auf dem Posten sein werde. Darauf ging er hin, seinen Mitverschworenen den vorläufigen Erfolg seiner Ränke mitzuteilen.

Mit Einbruch der Nacht schlich sich Ulrich, der gar nicht in das Lager zurückgekehrt war, um durch eine nächtliche Entfernung kein Aufsehen zu erregen, dem Eingang der Schlucht zu, die ihm Moiatu beschrieben hatte. Er hatte auf dessen Rat hin die Vorsicht gebraucht, schon bei Tageslicht den Ort zu besuchen, da er sonst bei Nacht unmöglich den verborgenen Zugang entdeckt hätte.

Der Felsen war nämlich gerade an dieser Stelle derart mit den üppigsten Schlingpflanzen überwuchert, und so dichtes Buschwerk umsäumte seinen Rand, daß das schärfste Auge den schmalen Einschnitt nicht gewahren konnte, der ihn von oben bis unten spaltete.

Nur eine einzige Lücke war in dem dichten Gewirre zu finden, durch die sich eindringen ließ, und so genau sich Ulrich die Stelle eingeprägt hatte, so brauchte er doch lange, bis er sie in der Dunkelheit wiederfand. Dann wand er sich auf engem Pfade durch das Buschwerk, bis er aus ihm ins Freie trat, an einer Stelle, wo die Schlucht begann, sich zu erweitern.

Durch die schwarzen himmelanstrebenden Wände, die zu beiden Seiten die Schlucht einschlossen, schien der Streifen Sternhimmel, der von oben hereinschimmerte, in unendliche Ferne gerückt, und mit einem gewissen Gefühl der Beklemmung setzte Ulrich seinen Weg fort: es sah aus, als wollten die ungeheuerlichen Felsmassen zusammenrücken, den Erdenwurm zu zermalmen, oder als neigten sie sich über seinem Haupte, um über ihn hereinzustürzen. Keine zehn Minuten war Ulrich in der Schlucht vorgedrungen, als sie plötzlich aufhörte. Er befand sich in einem Kessel, dessen glatte Wände auf allen Seiten gleichmäßig senkrecht aufstrebten, ohne irgendwelche Spur einer Öffnung zu zeigen.

Nun zündete Ulrich eine mitgebrachte Fackel an, um eine genauere Untersuchung anstellen zu können. Diese verlief jedoch völlig ergebnislos. Erst jetzt fiel ihm ein, daß der Indianer ihm gesagt hatte, er müsse alle paar Schritte das Ohr an die linke Seite der Schlucht halten, er werde dann bald ein dumpfes Geräusch vernehmen, und an der Stelle, wo dieses Geräusch am deutlichsten zu hören sei, befinde sich der Eingang der Höhle in doppelter Mannshöhe. Diesen Rat befolgte nun Ulrich im Zurückgehen; in der Tat vernahm er bald im Innern der Felswand ein Rauschen wie von einem weit entfernten Wasserfall. Eine Zeitlang nahm das Tosen zu, dann wurde es wieder schwächer.

Sobald Ulrich diese Abnahme des geheimnisvollen unterirdischen Rauschens bemerkte, ging er wieder um ein paar Schritte zurück, bis er den Punkt gefunden zu haben glaubte, wo es am deutlichsten vernehmbar war.

Hier leuchtete er an der Felsenmauer hinauf. Eine Öffnung war nicht zu entdecken, wohl aber einige stärkere Unebenheiten, Felsvorsprünge, auf den sich ohne große Schwierigkeit emporklettern ließ.

Er schwang sich denn auch hinauf, und als er die vierte dieser unauffälligen Naturstufen erreicht hatte, gähnte ihm ein enges, schwarzes Loch entgegen, aus dem ein feuchter, kühler Luftstrom ihm ins Angesicht wehte. Von unten war diese Öffnung unmöglich zu sehen, da sie von den vorspringenden Felsen völlig verdeckt wurde.

Klopfenden Herzens kroch Ulrich in die Höhle. Würde er nun den Vater finden, und wie, in welcher Verfassung?

Kaum hatte er den Eingang hinter sich, so konnte er aufrecht gehen, ja, ein so gewaltig hoher Höhlenraum nahm ihn auf, daß ihm schien, man könnte das Ulmer Münster bequem hineinstellen. In der Höhle aber herrschte ein wahrer Höllenlärm: das war ein Schwirren und Kreischen, daß einem Hören und Sehen verging! Beim matten Scheine seiner Fackel sah Ulrich Tausende von krähengroßen Vögeln mit gebogenem Adlerschnabel umherflattern, um welchen Büschel steifer, seidenartiger Haare emporstarrten. Ihr blaugraues Gefieder blitzte im Scheine der Fackel auf, und die herzförmigen, weißen Flecken auf Kopf und Schwanz verliehen ihnen ein noch eigentümlicheres Aussehen.

Ulrich erkannte in diesen Vögeln die Guacharo, von denen er schon viel gehört hatte. Er wußte, daß sich die Indianer aus Aberglauben nicht weit in solche Höhlen vorwagen. Wenn sich also sein unglücklicher Vater hier befand, so durfte er hoffen, ihn in der Nähe des Eingangs zu finden; aber was mußte der Gefangene auszustehen haben, wenn er Tag für Tag, Nacht für Nacht diesem betäubenden Lärm ausgesetzt war? Schon jetzt tat Ulrich das gellende, widerhallende Gekreisch in den Ohren weh; und da sich die Vögel förmlich dabei ablösen, gibt es in solchen Höhlen keine Ruhepausen. Ließ sich da überhaupt Schlaf finden? Mußte nicht der Verstand auf die Dauer notleiden oder Taubheit sich einstellen?

Von solchen Gedanken gequält, schritt Ulrich weiter und weiter, jeden Winkel der Grotte beleuchtend. Er bewunderte nicht ihre kühnen Wölbungen, ihre prächtigen Tropfsteingebilde, die schweren drohend herabhängenden Stalaktiten und die mächtig emporstrebenden Stalagmiten oder die herrlichen Säulen, die aus der Vereinigung beider sich da und dort gebildet hatten und das Gewölbe zu tragen schienen: er spähte nur nach dem Vater aus, und seine Blicke suchten das fernste Dunkel zu durchbohren. An ein Rufen war bei dem herrschenden Lärme nicht zu denken.

Die Höhle begann sich zu verengern, die zusammenstrebenden Wände glitzerten, als wären sie mit Diamanten besetzt, die Decke senkte sich herab. Immer stiller wurde es: in diesem schmalen Gange war kein Guacharo mehr, bald drang das Gekreisch nur noch wie fernes Rauschen an Ulrichs Ohr. Da plötzlich stand er still. Was war das? Ein Tönen wie von einem musikalischen Instrument, leise und doch ganz nah.

Ulrich entdeckte bald die Quelle dieser Töne: einige dünne, schmale Steinplättchen lagen über einer Rille im Boden, und die abwechselnd auffallenden Wassertropfen entlockten ihnen die merkwürdigen melodischen Klänge.

Aber es galt, noch vorwärts zu eilen, die hintersten Winkel der Höhle zu durchforschen. Auf einmal jedoch schwankte der Boden unter Ulrichs Füßen, eine Steinplatte, auf die er getreten war, kippte um, er glitt aus und sank in die Knie; die Fackel entfiel seiner Hand und erlosch.

Im gleichen Augenblick wurde ihm das Gewehr von der Schulter gerissen und eine Schlinge über die Brust gestreift, die blitzschnell zusammengezogen, seine Arme jeglicher Bewegungsfreiheit beraubte.

Dann blitzte ein Licht auf, und ein hochgewachsener Indianer mit schrecklich funkelnden Augen stand vor dem gefesselten Jüngling.

»Was sucht der weiße Spion in der Höhle des Todes?« fragte eine drohende Stimme wie Gewitterrollen.

»Meinen Vater!« erwiderte Ulrich unerschrocken.

Der Indianer lachte grell auf. »Narakatangetu ist kein Knabe, der die Märchen eines Knaben glaubt: der weiße Kundschafter sage die Wahrheit; denn er hat sein Leben verwirkt.«

»Ich kann dich nicht zwingen, mir zu glauben,« erwiderte Ulrich verächtlich, »aber ich bin kein Indianer, der mit Lügen umgeht.«

»Der weiße Späher ist ein frecher Bursche,« rief der Napo wütend, aber sichtlich erstaunt über des Jünglings kühle Ruhe. »Die Söhne der Sonne sind den Tugenden ihrer Väter treu geblieben, aber die Weißen haben gespaltene Zungen; sogar ihre Haut lügt, denn sie ist weiß und umhüllt eine schwarze Seele.«

»Du kannst mich beleidigen, nachdem du mich in weibisch feiger Weise überrumpelt hast, aber dein Mut, häßliche Reden zu vergeuden, erscheint mir verächtlich.«

»Den wilden Jaguar erlegt man in ehrlichem Kampfe, aber der heimtückischen Schlange darf man mit List nachstellen.«

»Wenn ihr meinen edlen Vater, der keinem Menschen etwas zuleide tat, der im Frieden leben und für Weib und Kinder sein Land bauen wollte, überfallen konntet, sein Hato verbranntet und seine Pflanzungen verwüstet habt, so nennt das wohl ein Napo ›ehrlichen Kampf‹; wir nennen das Schurkerei und Feigheit. Wenn ihr ihn nun gefangen haltet hier in dieser Höhle, so ist das wohl eine Heldentat, eurer großen Ahnen wert?! Hundert Wilde gegen einen friedlichen Weißen: wahrhaftig, es gehört viel dazu, sich da noch seiner Ahnen zu rühmen. Sie würden sich ihrer Enkel schämen, diese Väter, die milde, tapfer und gerecht waren.«

»Dein Vater war ein Verräter ...«

»Lügner, beschimpfe meinen Vater nicht!«

»Der weiße Knabe spricht wie ein Mann. Fürchtet er nicht den Tod oder schreckliche Martern, daß er wagt, so kecke Reden zu führen, da er doch in Narakatangetus Gewalt ist?«

»Die Rothäute sind scheint's ein Volk von Memmen geworden, daß sie so viel von Todesfurcht reden, und die ›Knaben‹ mit dem Lasso fangen bei Nacht, wenn ein Fehltritt sie zu Fall gebracht hat!«

»Der Karai hat einen unerschrockenen Mut, und so spitz seine Reden sind, so sind sie doch nicht die Reden eines feigen Spions. Warum ist er dennoch gekommen, die heiligen Geheimnisse der Omagua auszuforschen?«

»Wenn du das ein heiliges Geheimnis nennst, daß ihr meinen Vater in dieser Höhle gefesselt haltet, so darf ich es mit viel größerem Recht eine heilige Pflicht nennen, wenn ich meinen Vater suche und befreien will.«

»Wer hat dem betrogenen Karai gesagt, die Napo halten seinen Vater gefangen?«

»Einer, der es wissen muß, ein Napo.«

»Der weiße Knabe folge mir! Es war beschlossen in Narakatangetus Seele, daß er das Tageslicht nicht mehr sehen solle; allein seine Rede klingt wie die Wahrheit, und sein Auge ist klar wie der Himmel am hellen Tage. Der Häuptling der Napo ahnt schlaue Ränke und will noch mehr aus dem Munde seines Gefangenen vernehmen, ehe er über sein Schicksal entscheidet. Die Wege der Nacht sind dunkel; doch das Auge der Sonne beleuchtet sie hell, wenn die Zeit Jolokiamos vorüber ist und die Stunde Cachimanas erscheint.«

Mit diesen Worten führte der Häuptling den gebundenen Jüngling aus der Höhle in das Lager und in sein eigenes Zelt.


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