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20. Die verhexte Mission

Am 15. Oktober ging die Wanderung zeitig weiter. »In zwei Stunden erreichen wir die Mission Santa Elena,« versicherte Manuel. »Dort können wir unseren Proviant erneuern und in der Klosterkühle rasten.«

Nach Verlauf von anderthalb Stunden wies er auf eine Palmengruppe in der Ferne. »Dort befindet sich die Mission; ich erkenne den Platz genau an den Chapporobäumen, die in regelmäßigen Abständen das Palmenwäldchen umgeben; in dem Schatten dieser Bäume befinden sich die Hütten der Indianer, die aber alle Christen sind, und am Saume des Waldes erhebt sich das Missionsgebäude.«

Die Wanderer kamen dem Platze immer näher, und Manuel machte immer größere Augen. Sie erreichten die Bäume, sie gingen um das Palmenwäldchen herum, – aber überall wuchs hohes, saftiges Gras, von menschlichen Wohnungen fand sich keine Spur.

»Carajo!« fluchte Manuel. »Die Mission ist verhext!«

Friedrich lachte. »Guter Freund! Du wirst dich in der Gegend täuschen, vielleicht haben wir uns auch verirrt.«

»Ich versichere euch, Sennores, an diesem Platze befand sich noch vor zwei Jahren die blühendste Mission: seht doch! da stehen noch einige verwilderte Kaffeebäume, und hier wächst im Grase verborgen noch manches Plantagengemüse; und dort! seht die große Palme, die kenne ich gut! da muß das Bild der Santa Elena sich befinden!«

In der Tat fanden die erstaunten Jünglinge beim Nähertreten ein in den Stamm geschnitztes Heiligenbild.

»Ich sage es ja! Die Mission ist verhext!« rief Manuel triumphierend, als er die verblüfften Gesichter seiner jungen Herren sah.

»Vielleicht wurde sie von feindlichen Indianern zerstört,« vermutete Ulrich.

»Unsinn! Weit und breit gibt es keine so frechen Wilden mehr; und dann in solcher Nähe von Calabozo: es ist undenkbar! Santa Elena ist einfach verhext, der Mönch hat die Ansiedlung unsichtbar gemacht: ich weiß, er ist ein Teufelskerl und liebt es die Leute zu foppen. Gebt acht! wenn wir hier bleiben, so wird über Nacht die ganze Mission wieder erscheinen.«

Auf dieses Wunder wollten aber Ulrich und Friedrich nicht warten; sie versicherten Manuel, das dürfte erst am Sankt Nimmerlestag eintreffen.

»Caramba!« rief Manuel erstaunt. »Ich kann doch den ganzen Heiligenkalender auswendig, aber von dem San Nimerlos habe ich nie etwas gehört, er kann höchstens im Feste Allerheiligen mitinbegriffen sein. Wäre es eine Santa, so würde ich glauben, sie sei eine der elftausend Jungfrauen, deren Namen ich nirgends ausgezeichnet fand.«

»Beruhige dich!« sagte Ulrich, über Manuels Staunen und Eifer lachend. »Dieser Sankt Nimmerle ist ein besonderer Heiliger des Schwabenlands; ich glaube wohl, das; er in Venezuela unbekannt ist; aber bis zu seinem Tag können wir nicht warten. Hingegen meine ich, wir sollten den Versuch machen, von den Palmen einige Früchte herabzuschießen, um unsere zur Neige gehenden Mundvorräte zu sparen.«

Manuel sah an den himmelhohen Bäumen hinauf, deren Kronen eine Menge traubenförmiger Früchte bargen. »Es geht nicht!« sagte er kopfschüttelnd. »Wenn ihr auch auf diese Entfernung die Stengel treffen könntet, so hängen doch die Früchte so senkrecht herab, daß kein Stiel zu sehen ist; ihr würdet nur unnütz die Beeren zerfetzen und nichts Eßbares herunterbekommen.«

»Das stimmt!« sagte Ulrich, der die Richtigkeit von Manuels Wahrnehmung einsehen muhte. »Also diese Trauben sind uns zu sauer!«

Friedrich war unterdessen auf einen Gedanken gekommen; er nahm den fast völlig geheilten kleinen Brüllaffen vom Rücken seines Maultiers, wies auf die Früchte und brachte dann das Äffchen an den Stamm eines Baumes. Behende kletterte der Affe empor und naschte alsbald von den herrlichen Beeren.

»Heda, Salvado!« rief Friedrich. »Vergiß nicht deine Herren, wir sind auch hungrig!« Und er hielt die offenen Hände empor. Das Äffchen, das bereits gewöhnt war, auf seinen Namen zu hören, stutzte, begriff aber nicht. Manuel, dem es bekannt war, wie häufig sich die Affen durch Herabwerfen von Früchten rächen, wenn sie gereizt werden, schleuderte ein Aststück um das andere in die Höhe, ohne jedoch den Affen zu treffen, was er auch nicht beabsichtigte. Zugleich rief Friedrich immerzu: »Wirf herab! Wirf herab!« Salvado, durch Manuels Werfen geärgert, begann nun, eine Frucht um die andere hinabzuwerfen. Unsere Freunde fingen sie auf und riefen fortwährend: »Wirf herab!« Auf diese Weise gewöhnte sich der Affe späterhin, auf den Befehl: »Wirf herab!« jedesmal die Früchte des Baumes, auf dem er sich befand, herunterzuschleudern, und die Reisenden hatten noch oft Gelegenheit, die Talente ihres gelehrigen Gefährten in Beschaffung unerreichbarer Baumfrüchte in Anspruch zu nehmen.

Für diesmal hatten sie reichlichen Vorrat, um ihren Hunger zu stillen. Auf Friedrichs Ruf kletterte Salvado alsbald gehorsam herab und bestieg wieder das Maultier, auf dessen Rücken er in Ruhe den Anteil verzehrte, der ihm zugeteilt wurde.

Nach ausgiebiger Stärkung wurde rüstig weitermarschiert, und da die Wanderer sich nun, wie man sagt, tüchtig eingelaufen hatten, legten sie einen sechsstündigen Weg fast ohne Unterbrechung zurück. Die Sonne schickte sich schon an, unterzugehen, als Manuel plötzlich ausrief: »Die verhexte Mission!« Dabei deutete er auf ein weißes Gebäude, das einen palmenbeschatteten Hügel krönte, an dessen Fuße sich etwa fünfzig zerstreute Hütten befanden, umgeben von Kakao- und Kaffeebäumen und allerlei Nutzgewächsen wie von einem prächtigen Garten.

»Nun! da siehst du's, daß du dich doch in der Lage der Ansiedelung getäuscht hattest«, lachte Ulrich.

»Nein, wirklich!« erwiderte Manuel. »Getäuscht habe ich mich nicht, vor zwei Jahren stand die Mission an dem Platz, den wir vor sechs Stunden verließen. Der Mönch ist ein Hexenmeister und hat sie durch die Luft hierher gezaubert.«

»Woher willst du aber wissen, daß dies die gleiche Mission ist?« fragte Friedrich.

»Sollte ich Santa Elena nicht wieder erkennen? Das ist das Missionsgebände, wie ich es vor zwei Jahren gesehen habe, und kein anderes; nur, daß es jetzt auf einem Hügel steht statt am Waldessaum in der Ebene; und die Indianerhütten sind alle genau die gleichen wie vor zwei Jahren dort drüben, und ganz in derselben Ordnung stehen sie da. Nein! es ist kein Zweifel, die Mission ist verhext!«

Als die Wanderer den Hügel erstiegen, auf dem das Missionsgebäude malerisch emporragte, kam ihnen der Leiter der Mission, ein freundlicher, wohlgenährter Kapuzinermönch, Padre Martinez, entgegen und sprach seine lebhafte Freude über den unerwarteten und so erfreulichen Besuch der Fremden aus.

Die gastfreundlichste Aufnahme wurde ihnen zuteil, und der Padre versicherte immer, daß die interessanten Erzählungen seiner Gäste über ihre mannigfachen Abenteuer ihn zu größtem Danke verpflichteten; was er ihnen bieten könne, sei ja nicht der Rede wert; eine so angenehme Unterhaltung dagegen sei bei der Eintönigkeit des Lebens in dieser Abgeschiedenheit etwas Unbezahlbares.

Als unsere Freunde ihre Erlebnisse berichtet hatten, erzählte Friedrich noch zum Schluß Manuels Behauptungen über die Verhexung der Mission. Hierbei brach der Mönch in ein solch schallendes Gelächter aus, daß sein Doppelkinn wackelte.

»Euer Diener hat ganz recht,« sagte er endlich. »Vor zwei Jahren stand die Mission dreißig Kilometer nördlich, wo sich das Indianerdorf ursprünglich befand. Aber mir gefiel die Aussicht dort in der Ebene nicht; sehen Sie, hier ist sie weit schöner.« Hierbei wies er zu den Fenstern hinaus, die allerdings einen reizenden Überblick über die ganze Ansiedlung gewährten und die Blicke weit hinaus in die unendliche Ebene mit ihren Waldinseln schweifen ließen; namentlich bot sich eine schöne Aussicht auf die von hohem Gebüsch eingefaßten Ufer des Rio Tisnados, der in einer Entfernung von kaum einer Viertelstunde im Osten an der Mission vorbeifloß.

»Aber wie konnten Sie alle die Gebäude hierher verpflanzen?« fragte Ulrich verwundert.

»Nichts leichter als das! So ein Eingeborenendorf läßt sich beinahe so bequem abbrechen und weiterbefördern wie das Zeltlager eines Nomadenvolkes in Asien oder Afrika. Es ist gar nichts Seltenes, daß eine Indianerniederlassung ihren Standort wechselt: die Hütten werden innerhalb weniger Stunden abgebrochen und auf Pferde und Maultiere, vielleicht auch auf Rinder verpackt; dann geht es dem neuen Wohnplatze zu, an dem das ganze Dorf in zwei bis drei Tagen wieder aufgebaut ist, meist genau in derselben Anlage wie an seinem früheren Sitz. Diese Leichtigkeit des Umzugs mit Haus und Hof bringt es mit sich, daß der Indianer nicht so zäh am Grund und Boden hängt wie der Europäer und frei ist von jedem sentimentalen Heimatgefühl. Ich brauchte meinen Beichtkindern nur zu sagen, die Aussicht passe mir nicht, als sie sich alle sofort bereit zeigten, die Mission an diese von mir ausgewählte Stätte zu verlegen. Freilich, das Missionsgebäude selbst war etwas schwerer abzubrechen und fortzubringen; aber es gelang auch, und nach vierzehn Tagen gemeinsamer Arbeit hatten wir es auf diesem Hügel genau wieder so aufgebaut, wie es dort drüben stand. Sie sehen, das geht auch ohne Hexerei!«

Nach köstlicher Nachtruhe wollten die Reisenden wieder aufbrechen; der Padre aber hielt sie noch bis zum Nachmittag fest. Er riet ihnen, da die Maultiere noch der Schonung bedurften, aus einem Floße den Fluß hinabzufahren. In einer halben Tagereise etwa würden sie bis zur Höhe von Calabozo gelangen, das sodann in einem weiteren Tagemarsch bequem zu erreichen sei.

Die Indianer machten sich alsbald daran, ein Floß zu bauen, das auch mit Einbruch der Dämmerung fertig gestellt war. Unsere Freunde entschlossen sich zu einer Nachtfahrt, die keine weiteren Gefahren bot. Abwechslungsweise lenkte einer von ihnen das Steuer des langsam auf den dunkeln Fluten dahingleitenden Fahrzeugs, während die andern, möglichst weich gebettet, sich dem Schlafe hingeben konnten.

Manuel hatte die Morgenwache. Plötzlich stieß er einen Schreckensruf aus, der die jungen Schläfer jäh erweckte.

»Was gibt's?« rief Ulrich, indem er rasch aufsprang.

»Carajo! Sennores, – die verhexte Mission!« stammelte Manuel, kaum der Sprache mächtig.

Verwundert blickten Ulrich und Friedrich, der nun auch aufgestanden war, westwärts, und in der Tat, dort ragte auf einem Hügel ein Gebäude, genau wie die Mission von Santa Elena, die sie gestern verlassen hatten.

»Das sieht allerdings Santa Elena sehr ähnlich,« sagte Friedrich nachdenklich; »aber warum sollte in dieser einförmigen Gegend nicht ein zweiter Hügel vorhanden sein, auf dem ein Gebäude nach dem Muster von Santa Elena errichtet worden ist?«

»Tatsache ist, daß wir vor etwa sieben Stunden von Santa Elena abstießen und seither flußabwärts trieben,« stellte Ulrich fest. »Dieser Hügel aber liegt noch eine gute Strecke flußabwärts vor uns; er muß also bedeutend südlicher liegen als Santa Elena. Jedenfalls finde ich die Sache merkwürdig genug, um sie zu untersuchen.«

Manuel hatte inzwischen die Sprache wieder gefunden: »Sennores, kein Mensch kann bestreiten, daß wir die ganze Nacht den Fluß hinunter fuhren, und nun liegt Santa Elena vor uns, das wir doch gestern hinter uns ließen. Ich sagte es ja, die Mission ist verhext, und da mögen Sie sagen, was Sie wollen: der Padre hat sie durch seine Kunst über Nacht mitsamt dem Hügel weiter nach Süden gezaubert. Vielleicht begleitet er Sie auf diese Weise bis zu den Napo, so etwas sieht ihm ähnlich! Das hat den Vorteil, daß stets ein guter Imbiß und ein bequemes Nachtlager Sie erwartet, wo Sie hinkommen mögen; aber unheimlich ist es doch, scheußlich unheimlich!« und er bekreuzte sich.

Das Floß wurde ans Ufer getrieben und dort festgebunden, worauf die Brüder dem rätselhaften Hügel zuschritten; Manuel ging zaghaft hinter ihnen drein. Bald tauchten Indianerhütten auf, aus denen bekannte Gesichter verwundert herausschauten; und siehe, auf dem Hügel stand der Padre Martinez, den Sonnenaufgang im Freien zu bewundern.

Erstaunt musterte er die Ankömmlinge. »Oho! das ist erfreulich«, rief er munter, »daß meine lieben Gäste zurückkehren, aber warum übernachteten Sie nicht wieder bei mir, wenn Sie noch nicht Weiterreisen wollten? Es ist doch nicht etwa ein Unglück geschehen?«

»Verzeiht, Padre!« rief Manuel dazwischen. »Lasset die Verstellung genug sein; denn wir wissen, wie fein Ihr hexen könnet.«

Der gute Mönch wußte nicht, was er sagen sollte; er blickte verständnislos von einem zum andern, bis Friedrich ihm erzählte, sie seien die ganze Nacht stromab gefahren und befänden sich nun ganz unerklärlicherweise wieder oberhalb ihres Abfahrtpunktes.

»Aha!« rief der Padre, in herzliches Lachen ausbrechend: »Den Streich hat euch der alte Orinoko gespielt: da haben wir die Hexerei!« Und als er sah, daß seine Freunde nicht klüger waren als zuvor, fuhr er fort: »Seht, wir befinden uns hier gar nicht hoch über dem Meeresspiegel; der Tisnados fließt in den Apure, und dieser in den Orinoko, der dann noch 600 Kilometer lang ist bis zu seiner Mündung; nun ist es klar, daß das Gefäll dieser Flüsse ein kaum merkliches sein kann, so daß ein Gegenwind oder ein rasches Anschwellen des Orinoko die Flüsse nach aufwärts, ihren Quellen zu, treibt.

»Offenbar ist nun im Urwald ein starkes Gewitter niedergegangen, der Orinoko ist gestiegen und hat eine Strömung nach aufwärts im Apure und Tisnados veranlaßt. Darum ist euer Floß die Nacht über kaum von der Stelle gekommen und noch etwas nördlich getrieben, während es euch vorkam, als gleite es mit dem Fluß dem Apure zu. So glauben die Indianer oft, stromabwärts zu fahren, während sie in entgegengesetzter Richtung treiben. Ihr könnt von Glück sagen, daß ihr in keinen gefährlichen Strudel gerietet, denn solche bilden sich oft durch die beiden einander bekämpfenden Gegenströmungen.«

Nach dieser Aufklärung lud der freundliche Mönch die Herrschaften zum Frühstück ein, was sie nicht ausschlugen, und dann begleitete er sie zu ihrem Floß zurück, auf dem noch die Maultiere lagen. Da die Strömung nach oben noch anhielt, setzten die Reisenden aufs andere Ufer über, nach herzlicher Verabschiedung vom gastfreien Missionar. Von dort aus schlugen sie zu Fuß die südöstliche Richtung nach Calabozo ein.

Manuel aber murmelte: »Wir werden es ja bald sehen, daß uns der Padre mit seiner Mission noch weiter verfolgt! Ich meinesteils glaube seinen Märchen nicht und bleibe dabei: Santa Elena ist verhext!«


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