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39. Das Fabelland

Der Weg ging nun stets am Fuße von Gebirgen hin, die teilweise so nahe an den Fluß herantraten, daß sie überstiegen werden mußten. Unsere Freunde bedauerten, nicht auf das andere Ufer übersetzen zu können, das viel ebener war und ein rascheres Fortkommen ermöglicht hätte.

Die Indianer erboten sich zwar, eine Pirogue herzustellen, aber das hätte doch noch länger aufgehalten, als die nicht unüberwindlichen Schwierigkeiten, die das rechte Orinokoufer bot.

Im Norden verdämmerte die gewaltige Felsenmauer der Cunavamikette mit ihrem wildgezackten Kamme; auf dem westlichen Ufer ergoß sich der Rio Vichada in den Orinoko. Dort lachte eine reizvolle Landschaft herüber; Wälder und Matten in frischem Grün, wunderlich geformte Felsblöcke wie Pfeiler, Säulen und Türmchen oder auch wie Häuser, Burgen und Kirchen standen vereinzelt auf moosigem Grund und waren oft von Palmen gekrönt, und seit Wochen zum erstenmal tauchten auch wieder die eigenartigen Säulenkaktus auf in ihren mannigfaltigen Formen als riesige Telegraphenstangen oder Armleuchter und erstarrte Riesenschlangen mit stacheligem Leib. Auffallend und bedrückend war die fast völlige Windstille, die in diesen Gegenden herrschte: nirgends vernahm man mehr das so angenehme Säuseln der Laubwipfel, dessen Laut allein schon bei der großen Hitze erquickend wirkt; und diese Zone der Windstille sollte sich bis zum Stromgebiet des Amazonas ausdehnen!

Das Wasser der Flüsse, die sich fortab in den Orinoko ergossen, erschien tiefdunkel, kaffeebraun, fast schwarz, und doch war es rein und wohlschmeckend. Wenn ein leichtes Lüftchen den Spiegel kräuselte, was bei der andauernden Windstille freilich nur selten geschah, färbten sich die Flüsse wunderbar schön wiesengrün.

Als sich die Kette des Cunavami zum letztenmal gegen den Himmel abzeichnete, erzählte Matatoa, daß dort in den Wäldern des Rio Sipapo, den die Indianer Tipapu nennen, das Volk der Raya wohne, das kopflos sei und den Mund in der Mitte des Bauches trage.

Diese Fabel gab Schulze Anlaß zu einigen Bemerkungen über den Landstrich, der vor ihnen lag. »Wir ziehen nun«, sagte er, »durch das Land der Fabeln; außer den Flußufern ist hier alles völlig unerforscht, ja, die meisten Nebenflüsse des Orinoko und Rio Negro sind nicht weiter als an ihrer Mündung bekannt.

»Unter den Indianern selber bis fern in die Llanos und an die Meeresküste gehen die wunderlichsten Sagen über die unbekannten Völker um, die diese nie betretenen Landstriche und namentlich die geheimnisvollen Urwälder bewohnen; schon die Natur der Gegend hat ihre unergründlichen Rätsel: aus ihr fließen die weißen und die schwarzen Wasser, und kein Mensch kennt ihren Lauf oder gar ihre Quellen; woher kommen die grundverschiedenen Färbungen, die oft so nahe beieinander liegen, daß ein weißer Fluß sich in einen schwarzen ergießt und ein schwarzer in einen weißen? Warum haben die schwarzen Flüsse weiße Ufer, die weißen hingegen schwarze? Im weißen Orinoko finden sich die kohlschwarzen Felsen, im schwarzen Rio Negro ragen schneeweiße Blöcke empor! Kein Wunder, daß dieses Gebiet der rätselhaften Wasser auch von der Phantasie mit märchenhaften Wesen bevölkert wird – weil noch kein Mensch es durchforscht hat!

»Völlig unerklärlich ist dabei nur der eine Umstand, daß die Indianer genau die gleichen Fabeln über diese Phantasievölker berichten, wie die Alten sie von den Garamanten, den Arimaspen und Hyperboräern erzählten oder die Orientalen in ihren Märchen von Tausendundeine Nacht und unsere Vorfahren in ihren Heldensagen und namentlich in den Fahrten des Herzogs Ernst.

»In den Gegenden, zwischen denen wir hindurchziehen werden, leider ohne selber hineinzudringen, sollen also die Menschen mit den Hundsköpfen leben, die Zyklopen mit einem einzigen Auge inmitten der Stirne, die großen behaarten Waldmenschen, die Salvajen, die die Weiber rauben, und die von den Tamanaca »Achi«, von den Maypuren aber »Vasitri« oder große Teufel genannt werden. Die Zehen dieser Leute sollen so stehen, daß ihre Spuren den Anschein erwecken, als seien sie rückwärts gegangen. Natürlich handelt es sich entweder um Bären oder gorillaähnliche Affen.

»Hierzu kommt noch die Sage von den kriegerischen Weibern, die dem Amazonenstrom den Namen gaben, und die von den Eingeborenen »Cougnantainsecouima« oder »Aikeambenano«, d. h. »Weiber ohne Männer« und »Weiber, die allein leben«, genannt werden. Von ihnen sollen die wunderbaren grünen Steine herkommen, die man da und dort in den Händen der Leute findet, ohne daß sich bis jetzt ihre Fundorte ermitteln ließen.

»Endlich darf ich all diesen Märchen noch das Fabeltier beifügen, dessen Nichtvorhandensein ich nachweisen werde.«

Es entspann sich über diese Gegenstände ein lebhafter Streit, da Friedrich die Ansicht vertrat, derartige weitverbreitete Sagen, die sich durch Jahrhunderte hindurch völlig unverändert erhalten, müßten stets irgend einen tatsächlichen Hintergrund haben und dürsten nicht ohne weiteres als reine Phantasiegespinste angesehen werden. Von einem solchen Zugeständnis wollte jedoch der Mann der Wissenschaft durchaus nichts wissen.

Inzwischen traten die Berge im Osten weiter zurück, und dichter Urwald nahm die Abenteurer, wie wir sie bei ihrem Ritt durch abenteuerliche Länder wohl nennen dürfen, wieder auf.

Am westlichen Ufer zeigte sich die Mündung des Rio Mataveni; kurze Zeit darauf sah man eine merkwürdig geformte Insel sich aus dem Strome erheben: es war ein viereckiger Granitfelsen, den man für den Mäuseturm bei Bingen hätte halten können, und der von den Spaniern »El Castillito« genannt wird.

Die Nacht wurde am Fuße eines Felsens zugebracht, aus dessen Spalten unzählige Fledermäuse hervorflatterten, so daß anderthalbstündige Nachtwachen verteilt werden mußten. Jeder der Wächter befand sich während seiner Wachezeit in beständigem Kampf mit den Vampiren, und am anderen Morgen bedeckten Dutzende dieser widerlichen Geschöpfe den Lagerplatz.

Die Reise ging dann weiter durch Wiesen und Wälder und zwischen Felsblöcken hindurch; einen neuen, überraschenden Anblick gewährte unseren Freunden eine schwimmende Wiese auf dem Orinoko: es waren dies entwurzelte Bäume und Schlinggewächse, die sich zu einem natürlichen Floße verwickelten und mit Wasserpflanzen bedeckt waren. Diese Chinampa können der Schiffahrt gefährlicher werden als die Stromschnellen.

Man sagt, daß die Karaiben sowohl wie die spanischen Schmuggler derartige Treibstämme künstlich zusammenfügen und mit Kräutern und Baumzweigen bedecken. Ihre in diesem natürlich erscheinenden Pflanzengewirre festgebundenen Kanue, die sorgfältig unter dem Grün verborgen sind, können auf diese Weise unauffällig den Strom hinabtreiben, denn wer wollte eine solche schwimmende Wiese untersuchen, und vor allem, wer dürfte es wagen, da jede nahende Pirogue von der Wucht der treibenden Riesenstämme zertrümmert würde.


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