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27. Das Geheimnis des Felsens

Sobald der Morgen dämmerte, wurde die Weiterreise angetreten. Als Schulze erfahren hatte, daß seine jungen Landsleute den gleichen Weg hatten wie er, war er außer sich vor Freude. »Jetzt will ich wieder ruhig in meinem Hängenetz schlafen,« meinte er, »wenn ich zwei so tüchtige Jäger bei mir habe; überhaupt wird es der Wissenschaft zugute kommen, wenn Sie mir hier und da ein interessantes Tier schießen, damit ich es genau untersuchen kann.«

Die beiden Brüder waren auch äußerst erfreut, so angenehme Reisebegleitung gefunden zu haben, und das Gefühl größerer Sicherheit erlaubte gewiß auch ein rascheres Vorwärtskommen.

Das Landschaftsbild, das sich den Augen der Reisenden am Ufer des Stromes bot, war ein entzückendes. Der Orinoko war hier so breit, daß man die seltsam geformten Berge von Encaramada wie über einen See hinüber frei vor sich liegen sah; aber die ausgedehnten freien Sandflächen, die noch Humboldt an beiden Uferseiten beobachtete, waren verschwunden: der Wald hatte auch von ihnen inzwischen Besitz ergriffen.

Merkwürdig erschien der Tepupano de los Tamanacos, der Berg, an den sich die Mission von Encaramada lehnt; auf seinem Gipfel stehen drei gewaltige Granitzylinder, von denen der eine fast fünfundzwanzig Meter hoch senkrecht emporragt, während die anderen sich gegen ihn neigen; sie machen den Eindruck eines Kolossaldenkmals, von Giganten errichtet.

Rasch näherte sich die kleine Karawane diesem Wahrzeichen von Encaramada. Herr Schulze erzählte unterdessen, was er überhaupt in den entlegenen Gegenden wollte, die er aufzusuchen beabsichtigte. »Es tauchen nämlich immer wieder Gerüchte auf von einem ganz fabelhaften Tier, das in Columbia hausen soll. Es soll eine Art Flußpferd oder Reptil sein von der Größe eines Walfisches. Dasselbe sei der Schrecken nicht bloß der Indianer, sondern auch der ganzen Tierwelt des Landes, und was das unglaublichste ist, es besitze die Fähigkeit, sich kilometerweit unter der Erde fortzuwühlen, so daß es dem ahnungslosen Wanderer plötzlich vor der Nase auftauchen könne, buchstäblich der Erde entstiegen. Ein Europäer will nun die frisch abgeworfene Haut eines solchen Ungetüms in einer Höhle aufgefunden haben und sandte Proben davon in die Heimat. Na! merkwürdig genug war der Fund, aber mit dem Fabeltier ist es natürlich nichts, das gehört in das Gebiet der Sagen, wie die Drachen, der Vogel Roch und der Phönix. Nun gibt es aber immer noch phantastische Köpfe in der Gelehrtenwelt, die freilich der Wissenschaft wenig Ehre machen, denn sie sind stets geneigt, all den Mumpitz zu glauben, der ihnen vorgeschwatzt wird. Und nun vollends, wenn er aus so einem Lande kommt, wo noch fast alles unerforscht ist!

»Überhaupt eine merkwürdige Tatsache das! In Nordamerika sind die wilden, grausamen Indianerstämme nahezu ausgerottet, alles ist dorthin ausgewandert, es beginnt schon lange an Land zu mangeln, und an Stelle des endlosen Urwalds sind Städte und Staaten mit Eisenbahnen und Telegraphen entstanden, und hierher, wo das Land umsonst zu haben wäre und ein viel reicheres Land, als es je in Nordamerika gab, hierher, wo sich im Handumdrehen Reichtümer gewinnen ließen, und wo die Indianer harmlos und ungefährlich sind, – ja hierher kommt niemand! Der Urwald ist noch so unerforscht wie zur Zeit der Entdeckung Amerikas; die Indianer sind noch so frei wie damals, weder im Äußeren noch in ihren Sitten verändert. Alles wird erforscht, den Nord- und Südpol will man mit aller Gewalt entdecken trotz der schauerlichen Kälte und Öde, die im ewigen Eise herrschen; nach Tibet und ins Innerste von Afrika dringt man unter tausend Lebensgefahren, – aber Südamerika ist vergessen: es ist, als ob die tollen Goldfahrten mit ihren Enttäuschungen Europa so entmutigt hätten, daß alles geographische und sonstige wissenschaftliche Interesse für diese überaus merkwürdigen Wildnisse ein für allemal erloschen sei.

»Darum glaubt man eben jeden Schwindel, der von hier ausgeht, und nun bin ich aufgebrochen, um einmal in unerforschte Gebiete zu dringen, namentlich aber um nachzuweisen, daß von dem Dasein jenes Fabeltieres keine Rede sein kann.«

Unter diesen Erörterungen von seiten des zweifelsüchtigen Naturforschers waren sie in Encaramada angelangt, wo eine langgestreckte Insel den Strom in zwei Arme teilt. Seit die Republik in Venezuela eingeführt wurde, sind die Missionen größtenteils aufgehoben worden, die meisten sind verlassen, und kaum noch Ruinen bezeichnen ihre ehemalige Stätte. Die Indianer, die in den Missionen als bekehrte Christen lebten, sind wieder in ihre Wälder zurückgekehrt, und die beginnende Kultur ging rasch wieder verloren. Von zwölf blühenden Missionen, die Humboldt an den Ufern des Orinoko besuchte, sind überhaupt nur noch fünf als Ortschaften vorhanden, und auch da ist die einstige Blüte nicht mehr zu schauen: die zerfallenden Kirchen sind das Wahrzeichen der freien Republik, die keinen Sinn hat für das christliche Kulturwerk unter den Eingeborenen.

Auch San Luis del Encaramada machte den Eindruck einer gefallenen Größe, und unsere Freunde hätten sich nicht weiter hier aufgehalten; allein, da es Samstag war und Ulrich und Friedrich grundsätzlich den Sonntag als Ruhetag feierten, worein sich Schulze gerne fand, beschlossen sie, ihr zweimaliges Nachtlager an diesem Orte aufzuschlagen und zunächst einen Ausflug in die benachbarte Savanne zu unternehmen, wohin sie ein einheimischer Indianer als Führer begleitete.

Es war trotz all der unerschöpflichen Reize, die die großartigen Landschaftsbilder des Urwalds bieten, eine wahre Erquickung für die Wanderer, auch einmal wieder freies, unbewaldetes Land zu sehen.

Mitten auf der weiten Grasfläche erhob sich ein hoher Felsen, zu dem der Führer die Reisenden geleitete. »Dies ist der Tepumereme,« sagte er, indem er an der ungeheuren, schroff abfallenden Wand emporwies.

Es war ein erhabener Anblick, wenn man von unten an der Fläche emporsah, die bei ihrer gewaltigen Ausdehnung den Eindruck der Glätte einer Schiefertafel machte und oben im Blau des Himmels zu verschwinden schien.

»Was ist denn das?!« rief Friedrich aus. »Da oben ist ja alles voller Bilder: Tiere und Menschen, Pflanzen und Gestirne sind dort kunstvoll in den Stein gemeißelt.«

»Wahrhaftig,« sagte Schulze verwundert. »Das ist ja die reine Unmöglichkeit: ohne ein Luftschiff konnte da kein menschliches Wesen hingelangen. Heda! Herr Indianer, wie hat man denn dieses Wunder fertig gebracht?«

Der Führer lächelte. »O Sennor, die Sache ist einfacher, als sie aussieht; zur Zeit des großen Wassers sind unsere Väter im Kanu so hoch oben gefahren, und damals wurden die Bilder in den Felsen gemalt, heute freilich wäre dies unmöglich.«

»Köstlich! Das habt ihr wohl von euren früheren Missionaren, die euch die Geschichte von der Sintflut erzählten?«

Der Indianer schüttelte den Kopf und erwiderte ernst: »Sennor, lange ehe der Fuß eines Weißen die Savannen des Orinoko betreten hat, haben unsere Väter erzählt von dem großen Wasser, das vor Zeiten die Erde überflutete. Es stieg zuletzt so hoch, daß es die Gipfel der Berge bedeckte und alle Menschen und Tiere ertranken. Nur der Tamanaku am Ufer des Asiveru ragte noch über die Wasser empor, und dorthin flüchteten sich ein Mann und ein Weib, die der große Geist bestimmt hatte, die Erde wieder zu bevölkern. Die Früchte der Mauritiapalme, die sie über ihre Köpfe wegwarfen, verwandelten sich nach dem Willen des Weltenherrn in lebende Wesen, und so belebte sich wieder die Erde, nachdem sich die Flut verlaufen hatte.«

»Es ist merkwürdig,« meinte Ulrich, »daß die Kunde jener großen Weltkatastrophe über die ganze Erde verbreitet ist, keine geschichtliche Tatsache ist je so allgemein verbürgt gewesen.«

»Na, junger Freund! ist eben ein uraltes Ammenmärchen. He, großer Häuptling von Encaramada, dein Bruder hat scharfe Augen und sieht ins Vergangene wie in die Gegenwart; aber da sieht er keine Möglichkeit, daß die Wasser jemals die Zinnen der Berge bedeckt haben könnten.«

»Mein weißer Sohn ist weise,« sagte der alte Indianer etwas spöttisch. »Er hat vier Augen, zwei für die Vergangenheit, zwei für die Zukunft. Wenn er aber auch die Dinge der Gegenwart so scharf beobachten kann wie die fernen und verborgenen Dinge, so wird er noch oft solche Bilder an hohen, unersteiglichen Felsen entdecken; dann möge seine Weisheit ihm kundtun, wie diese Bilder entstanden sind, wenn er von der großen Flut nichts wissen mag, von der unsere Väter erzählen.«

Schulze zermarterte sich vergeblich den Kopf, wie er dem Indianer eine wissenschaftlichere Erklärung geben solle, aber er fand keine. »Großer Häuptling,« sagte er etwas kleinlaut, »diese Bilder sind das Geheimnis des Felsens; solche Rätsel löst der vernünftige Mensch nicht stante pede; aber die Zeit wird nicht ferne sein, wo auch die Geheimnisse dieser Riesenmauern vom untrüglichen Lichte unserer alles ergründenden Wissenschaft durchleuchtet sein werden. Zu eurer Sage jedoch wird sie sich nie bekehren, die ist ihr nicht wissenschaftlich genug.«

Der »große Häuptling« verstand nicht viel von dieser Rede, so viel aber dachte er bei sich, daß mancher mit vier Augen nicht so viel sehe wie ein anderer mit zwei.

Friedrich dachte etwas Ähnliches: er verglich im stillen die Wissenschaft mit einer scharfen Brille, die den blöden Augen aushelfen soll, während nun aber mancher meint, mit Hilfe seiner Brille sehe er hundertmal schärfer als irgend ein brillenloser Mensch, sieht in Wahrheit ein von Natur geschärftes Auge gar manches viel deutlicher, als das beste Augenglas es erkennen läßt.

Als sie den Urwald wieder betraten, dunkelte es bereits, und nun ward ihnen ein Schauspiel, wie sie es in dem Maße noch nie gesehen hatten: zahllose Glühwürmer und riesige Leuchtkäfer flogen in Scharen umher. Tausende von Lampyriden ließen ihr weißgelbes Licht blitzen; wie Irrlichter schaukelten die großen Käfer vom Geschlecht des Photinus zwischen den Stämmen hin und her, und Raketen gleich schnellten die strahlenden Elateriden bis in die Urwaldwipfel empor, so rasch, daß ihr Doppellicht einem orangeroten Streifen glich. Es war, als sei der Sternenhimmel zur Zeit der größten Sternschnuppenfälle in den Urwald herabgekommen. Diese schwirrenden und schwebenden, aufblitzenden und wieder verschwindenden, zitternden und zuckenden Goldflammen, die da und dort den Boden, das Gebüsch, die Baumstämme und die Wipfel zeitweise hell erleuchteten, verwandelten den Walddom in ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.


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