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12. Auf der Cumbre

Nach mehrstündiger Ruhe erhoben sich die Schläfer erquickt von ihren Ruheplätzen; und nachdem sie noch einen Imbiß zu sich genommen hatten, verfolgten sie die Straße weiter durch den Urwald. Schon von der bald erreichten Paßhöhe aus, auf der eine verwitterte, graue Felsmauer den Weg säumte, eröffnete sich ihnen ein Ausblick nach Süden in das Tal von Valencia. Nachdem sie aber wenige Minuten sanft bergab gestiegen waren, lichtete sich plötzlich der dichte Wald, und sie zügelten ihre Tiere auf dem steil abfallenden freien Platze, auf dem das Haus der Cumbre del San Hilario steht. Die Aussicht, die sich ihnen hier bot, war so entzückend, daß selbst Manuel wie gebannt stehen blieb, obgleich er nicht zum ersten Male auf diesem Platze stand und sonst wie viele Eingeborene wenig Sinn für Naturschönheiten zeigte.

Zu ihren Füßen breitete sich nach Südosten eine große Grasebene aus, die Savannen oder Llanos (sprich: »Ljanos«) von Carabobo, Tocuyito und Valencia, vielfach von merkwürdig geformten Hügeln unterbrochen. Im Süden erhoben sich schroffe, ungeheure Felsmassen, wild und zerklüftet, während im Westen die blauen Berge Torrito, Montalvan, Tiramuto und Casupito die Bergkette mit den Küsten-Anden zu vereinigen schienen.

Im Tale aber dehnte sich nach Südosten der weite Spiegel des Tacarigua, des Sees von Valencia, größer als der Neuenburger See in der Schweiz. Etwa zwanzig kleine Inseln schmückten die Wasserfläche. Während das nördliche Ufer des Sees einen lieblichen Garten mit Zucker-, Kaffee- und Baumwollenpflanzungen bildet, ist das südliche wüst und düster, fast kahl; aber eben dieser gewaltige Gegensatz gibt ein Bild von außerordentlicher Anziehungskraft. Alle Bäche und Flüsse der Umgegend finden sich in dem schönen See zusammen, und doch sinkt sein Spiegel fortwährend infolge der starken Verdunstung, vielleicht auch zugleich durch unterirdische Einsickerungen. Nueva Valencia, die prächtige Stadt im Tale, ist dreimal so weit von den Ufern des Sees entfernt, als sie es bei ihrer Gründung vor dreieinhalb Jahrhunderten war. Manchem der seltsamen Hügel merkt man es heute noch an, das; er früher eine Insel war, und auch ihre Namen vereinigen zum Teil noch die Erinnerung an jenen früheren Zustand. Ganz besonders auffallend erschienen Friedrich und Ulrich drei phantastisch gebildete Kuppen auf dem westlichen Ufer: el Cerrito de San Pedro, la Isla Caratapona und el Islote, welch letzterer für unsre Freunde bald bedeutungsvoll werden sollte.

Nueva Valencia liegt in dunkelgrüne Kaffee- und hellgrüne Zuckerpflanzungen lieblich eingebettet wie in einem Parke; mehrere kleine Dörfer beleben das Tal ringsum, besonders ist es Naguanagua, das mit seinen weißen Häusern und roten Ziegeldächern einen farbenprächtigen Eindruck macht.

Aber dieses Bild, das an und für sich einen so friedlichen Charakter zeigte, bot heute einen kriegerischen Anblick: bewaffnete Reitermassen sprengten unter lauten Rufen durch das dürre Gras der Llanos, das in grünem Zustande Roß und Reiter überragt hätte. Einzelne Schüsse fielen, und man sah deutlich, wie zwei feindliche Heere in aufgelösten Banden sich gegeneinander bewegten.

»Was führt ihr da unten eigentlich für einen Krieg?« fragte Ulrich den Führer. »Stehen nicht auf beiden Seiten Venezolaner?«

»Gewiß!« erwiderte Manuel. »Es ist auch gar kein Krieg, sondern bloß die Revolution.«

» Die Revolution?« wiederholte Friedrich erstaunt.

»Jawohl: wir haben immer Revolution.«

»Aber warum denn?«

»Weil wir eine freie Republik sind,« sagte Manuel stolz.

»Besteht denn die Freiheit im Rebellieren?« entgegnete Ulrich lachend.

»In was denn sonst? Ohne Rebellion keine Freiheit! Die Sache ist nämlich so: wir brauchen einen Präsidenten und eine Regierung; ohne das geht es eben nicht. Wenn aber die einen regieren, so sind die anderen beherrscht und fühlen sich nicht frei; deshalb müssen sie sich gegen die Regierung empören, um selber ans Ruder zu kommen und dadurch frei zu werden. Bleiben sie Sieger, so rebellieren natürlich im nächsten Jahre wieder die anderen, und so geht es immer fort.«

»Ihr seid ein sonderbares Volk!« meinte Friedrich. »Ich würde für eine Freiheit danken, die ohne beständige Händel und Blutvergießen nicht bestehen kann!«

Manuel lachte: »Jedem sein Vergnügen! Uns Diener geht ja die ganze Sache weiter nichts an, und ich hätte auch keine Lust, meine Haut für die Freiheit zu Markte zu tragen. Übrigens schießen die Venezolaner schlecht, und es wird selten lebensgefährlich; die Pflanzungen und das Vieh haben am meisten unter den beständigen Kämpfen zu leiden. Diesmal ist die Sache aber verwickelter: in Kolumbien rebellieren sie auch, nun helfen wir den Rebellen dort, die Kolumbier helfen den unseren, und daneben führen wir auch regelrecht Krieg mit Kolumbia zu Land und zur See, – man kommt gar nicht mehr draus! Man nennt das Politik; aber ich verstehe nicht viel davon.«

Unter solchen Gesprächen waren die Reisenden wieder in den Urwald gelangt. Da wurde ihnen ein ergötzliches Schauspiel: eine Bande Brüllaffen sprang an einem hohen, wilden Caimito auf und ab, bald auf allen vieren von Ast zu Ast hüpfend, bald den langen Schwanz um einen Zweig wickelnd, um so, mit dem Körper herabbaumelnd, eine Frucht zu pflücken. Sehr schön hob sich das helle rotbraune, oft beinahe goldgelbe Fell vom dunkelgrünen Laubdache ab. Ganz besonders unterhaltend war es, die hübschen Jungen zu beobachten, die sich auf dem Rücken ihrer Mütter festklammerten und über deren Schultern bald rechts, bald links nach den ihnen gebotenen Früchten griffen.

»Ach! könnte ich nur solch ein Tierchen lebendig haben!« rief Friedrich entzückt.

Manuel, in der Meinung, dem jungen Herrn eine Freude zu machen, legte sein Gewehr an, und alsbald krachte ein Schuß. Ein Affenweibchen, in die Stirne getroffen, stieß einen herzbrechenden Schrei aus, taumelte einen Augenblick, indem es mit der Hand an die Wunde griff, dann aber nahm es rasch mit zwei Händen sein Junges vom Rücken und reichte es einem anderen Weibchen hin, das es freundlich neben seinem eigenen Söhnchen auf den Rücken nahm. Kaum war dies geschehen, als auch das verwundete Weibchen die letzte Kraft verlor und zu Füßen der Reiter stürzte.

Das menschenähnliche Schreien und Wimmern des Tieres, die Verzerrungen seines Antlitzes, das krampfhafte Pressen beider Hände auf die starkblutende Todeswunde, die stillen, ängstlichen Vorwürfe in den Blicken und zuletzt die Todeszuckungen waren besonders für Friedrich ein erschütterndes Schauspiel, und er machte Manuel die bittersten Vorwürfe wegen seiner Grausamkeit.

Dieser aber erwiderte verblüfft: »Ich wollte dem Sennor seinen eben geäußerten Wunsch erfüllen; ich dachte, das Junge werde mitsamt der Mutter herunterpurzeln. Es ist übrigens ein Wunder, daß ich sie getroffen habe, denn ich schieße sonst immer vorbei, wenn ich noch so gut ziele.«

Stillschweigend setzten die drei ihren Weg fort, am Felsenbette des Gebirgsbaches hin; doch ein unerwartetes schreckenvolles Hindernis sollte bald ihr weiteres Vordringen hemmen.


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