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72. Das Geheimnis des Lebens

Eines Tages saßen unsere Freunde mit dem alten Inka Manko im »Märchenwald«, wie sie den Wald mit den gewaltigen Bäumen nannten, der ein Lieblingsaufenthalt des Greises war. Mit ihm bewunderten sie das Gefieder des Sonnenvogels Quezal und lauschten entzückt seinem Sang.

Der Inka hatte im Laufe der Jahrhunderte diese scheuen Vögel derart zu zähmen gewußt, daß sie in Scharen um ihn her flogen und sich wohl auch auf seiner ausgestreckten Hand niederließen. Nicht müde konnte man werden, den wunderbaren Glanz der feinen wallenden Federn anzustaunen und Auge und Ohr zu laben an der Pracht der Farben und dem Wohllaut der Stimme dieser wahrhaftig paradiesischen Vögel.

Schulze, der mit Vorliebe den alten berühmten Inka in der »bilderreichen« Sprache der Indianer – aber auf Spanisch natürlich! – anredete, hub heute also an: »Ehrwürdiger Vater, erhabener Sohn der Sonne! Oft lauschten deines unwürdigen Knechtes dicke Ohren den Belehrungen der Weisheit, die deinen greisen Lippen entströmten, und Bewunderung erfüllte seine Seele vor der Größe deines unvergleichlichen Gehirnkastens, darin das Wissen langer Jahrhunderte aufgespeichert liegt. Hier ist ein Wunder, das mein wissenschaftliches Verständnis übersteigt: wolle dich herbeilassen, deinem unwissenden Sohne zu erklären, wieso diese Bäume solch gewaltige Größe erreicht haben, wie sie in keinem Konversationslexikon noch Lehrbuch der Botanik zu finden sind?«

»Weil meine weißen Söhne der Weisheit begierig sind,« erwiderte der Greis, »so will ich ihnen kundtun die größten Geheimnisse der irdischen Schöpfung Patschakamaks, die Geheimnisse des Lebens.

»In der Priesterstadt Manoa herrschte seit unvordenklichen Zeiten ein edles Geschlecht, lange, ehe die Inka ihre Herrschaft bis hierher ausdehnten, ja lange, ehe der Name der Inka auf Erden bekannt war. Ihre Könige waren Priester und hatten die älteste Weisheit der Urväter bewahrt, und durch scharfen Verstand und göttliche Eingebung lernten sie viel Verborgenes in der Natur erkennen. So erkannten sie auch die Kräfte, die das Wachstum der Bäume beherrschen, und die Ursachen, die ihr Absterben bedingen. Durch Kunst in der Nachhilfe der Natur gelang es ihnen, diese Riesenbäume zu rascherem Wachstum in Höhe und Umfang zu bringen als alle andern Bäume der Erde; zugleich entfernten sie die Ursachen, die den Tod ihrer Pfleglinge herbeiführen konnten. Jedes lebende Wesen scheidet Gifte aus, die seinem Leibe verderblich und zuletzt tödlich sind; und weil die Pflanze an ihrem Orte stehen bleibt, häuft sich das Gift in der Erde an, und sie muß immer weiter ihre Wurzeln ausstrecken, um ihre Nahrung aus einem Boden zu saugen, der von ihren Giften noch frei ist. Wenn zuletzt die Wurzeln nicht weiter können, weil ein Hindernis sie aufhält, oder wenn sie in eine Erde kommen, die keine genügende Nährkraft für sie besitzt oder auch von Pflanzen ähnlicher Art schon vergiftet ist, so stirbt die Pflanze ab.

»Jedes Gift aber hat sein Gegengift, ja, es kann durch geeignete Zusätze in ein Nahrungsmittel eben des Wesens verwandelt werden, das es ja aus den aufgenommenen Nährstoffen abgesondert und umgewandelt hat. So haben jene alten Weisen die Mittel gefunden, dem Boden eine fortwährende gesunde Nährkraft für die Bäume zu verleihen, die nun hier seit wohl dreitausend Jahren zum Himmel streben und Jahresring um Jahresring ansetzen, Ringe von außerordentlicher Dicke. Einmal wird ja auch die Zeit kommen, wo alle Kunst versagt oder ein großes Naturereignis diesen uralten Wald vernichtet; aber nach menschlichem Ermessen wäre sein unaufhörliches Bestehen und Weiterwachsen nichts Unmögliches. Doch alles Irdische ist vergänglich!«

»Ja, ja, es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen!« sagte Schulze nachdenklich. Er mochte wohl an seine eigene himmelstürmende Wissenschaft denken.

»Diese Bäume«, fuhr Manko fort, »lehrten mich das Geheimnis des Lebens. Als ich mich hierher zurückgezogen hatte und das Wunder dieses Waldes betrachtete, sann ich über das Lebensrätsel nach. Sehet, die Bäume setzen Ring um Ring an, sie wachsen, solange sie leben; der Mensch aber, ohne seine Nahrung noch Lebensweise zu verändern, hört zu einer gewissen Zeit auf zu wachsen, und ebenso fängt er nach einiger Zeit an zu altern, und zuletzt zerfällt seine Lebenskraft, und er stirbt. Weiße Freunde, die Inka hatten im Laufe der Zeiten viel Wissen aufgehäuft; von den Ältesten der Omagua lernte ich noch manches Geheimnis, und siehe! da ich nachforschte und prüfte und sann, was die Ursachen jener Lebensrätsel seien, ließ mich Patschakamak die Geheimnisse entdecken, warum der Mensch zu wachsen aufhört, warum er altert, warum seine Lebenskraft versiegt. Und so groß das Rätsel zu sein scheint, ist es einmal gelöst, so gibt es nichts Leichteres, als jenen Ursachen zu begegnen. Ich könnte einem Menschen, solange er sich im Wachstum befindet, die Mittel geben, daß er weiter wächst, wie der Baum, und zum Riesen würde; ich habe auch unter den Völkern hier oben einen Stamm von Riesen heranwachsen lassen: sie sind die Wächter des Felsenwalles, der unser Land umgürtet. Ich kann dem Menschen Mittel geben und das Verhalten angeben, um nicht zu altern: deshalb findet ihr so wenig Greise unter uns. Ich war schon alt, da ich die Geheimnisse entdeckte, und das Alter läßt sich nicht wieder verjüngen: das heißt, es mag auch dies möglich sein, allein die Wege hierzu sind mir bis jetzt verborgen geblieben. Ich begehre auch keine Verjüngung, denn meine Kraft bleibt immer jugendfrisch. Die Napohäuptlinge, die das Geheimnis Manoas kennen, nehmen wir in ihrem Alter bei uns auf; sie sind die Richter, die über euch zu Gerichte saßen. Meinem Sohne aber habe ich die Jugend erhalten durch die Jahrhunderte und so den meisten der Bewohner dieses Landes. Das Höchste und Kostbarste, das ich fand, war, die Lebenskraft stets auf derselben Höhe zu halten, daß sie nicht abnimmt, sondern sich gleich bleibt durch alle Zeiten.«

»So hast du den Tod für euch aus der Welt geschafft?« fragte Ulrich.

»Nein!« erwiderte der Inka. »Ein Unglück könnte jeden von uns töten; da es aber Verbrecher bei uns nicht gibt, wilde und giftige Tiere nicht da sind, so haben die Todesfälle schon lange, lange Zeit aufgehört.«

»Wir haben eine Sage,« begann nun Friedrich nachdenklich, »eine Sage von einem Menschen, der nicht sterben kann; man heißt ihn den ewigen Juden: seine einzige Sehnsucht ist der Tod, und seine größte Qual sein unzerstörbares Leben. Er sucht den Tod, und der Tod flieht ihn.«

»So ist es bei uns nicht,« sagte der Greis lächelnd. »Nur Schuld und Leid bringt solchen Lebensüberdruß; freilich auch des glücklichen, heiteren Lebens mag man müde werden, doch nicht also, daß man es hassen würde und als Qual empfände. Wir verschönern einander das Leben und bleiben gerne beieinander, zumal wir einer Hoffnung leben, das alte Inkareich wieder aufblühen zu sehen; dann, ja dann, wenn wir es gefestigt schauen, eine glückliche Menschheit vereinend in Lust und Frieden, dann werden wir gerne die Augen schließen und ruhen von langer Lebensarbeit; denn niemand hindert uns, den gleichen Weg zu gehen wie andere Menschen. Es ist unser freier Wille, daß wir die Mittel brauchen, die den Verfall der Kraft hindern, und jederzeit könnten wir auf sie verzichten, wenn wir zu sterben begehrten. Aber ich sage euch, ein paar hundert Jahre vergehen wie im Traum; denn man lernt immer Neues und kommt im Wissen, in Erkenntnis und Erfahrung immer rascher voran und gewinnt Schätze der Weisheit, die in einem gewöhnlichen Menschenalter nimmermehr zu erreichen wären. Der gesunde Mensch hat von Natur eine mächtige Lebenslust, einen unbändigen Lebenstrieb. Ach! wie viel gehört dazu, diese Lebenslust zu brechen, wie viel Schuld, wie viel Leiden, daß man im Alter schon von achtzig oder neunzig Jahren den Tod herbeisehnt!«


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