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45. Eine seltsame Jagdbeute

Der Charakter des Urwaldes änderte sich auch am nächsten Tage nicht: immer Totenstille, kein Leben, keine Bewegung – es fing an, unheimlich zu werden, und unsere Freunde hätten das Gebrüll eines Jaguars und das Zischen einer Giftschlange wie eine Wohltat empfunden. Immerhin diente es zur Beruhigung, daß man wenigstens keine Gefahren zu fürchten hatte. Sehr lästig war es hingegen, daß eben nur immer schrittweise vorgedrungen werden konnte. So ging es volle zwei Wochen fort, während der Ameisenkuchen die einzige Nahrung bildeten. Trotz der kurzen Tagmärsche war die hindernisreiche Wanderung bei solch schlechter Kost sehr ermüdend, und es mußte hier und da auch an einem Wochentage Rasttag gehalten werden.

»Hurra!« rief Ulrich eines Tages plötzlich aus. »Da habe ich einen Pfad entdeckt; nun werden wir wohl bequemer als bisher vorwärtskommen.«

Alle eilten herzu und sahen wirklich einen ziemlich breiten Fußweg, ähnlich den Indianerpfaden, die im Urwald da und dort angelegt sind. Ganz auffallend war es, wie peinlich sauber diese Bahn gehalten war: kein Grashälmchen wuchs darauf.

Schulze betrachtete aufmerksam den mehr als ein Meter breiten Weg und lachte plötzlich hell auf: »Da haben wir's! Das ist kein von Menschenhand gebahnter Pfad!«

Verwundert schauten ihn Ulrich und Friedrich an, und dieser sagte: »Oho, Herr Professor! Ist diese schöne Straße etwa lediglich infolge eines Naturgesetzes von selber entstanden, oder beginnen Sie an Feen und Geister des Urwalds zu glauben«?«

»Na! eher das erstere! Sehen Sie einmal da hin! – Nun, was sagen Sie?«

»Ja, wahrhaftig!« rief Ulrich. »Das scheint ja eine Auswanderung von Kleeblättern zu sein!«

In der Tat sah man auf dem Boden einen langen, breiten Zug groschengroßer Blattstücke, die sich unaufhörlich in einer Richtung fortbewegten. Friedrich erfaßte solch ein Blättchen, und als er es emporhob, sah er, daß eine hellbraune Ameise mit unverhältnismäßig großem, herzförmigem Kopfe das Blatt krampfhaft mit den Kiefern festhielt, so daß sie damit emporgezogen wurde.

»Wir haben hier einen Pfad der Blattschneideameisen,« erklärte Schulze. »Schon mancher Unkundige hat sich im Urwald durch solch eine Straße vom rechten Weg ablenken lassen, denn die Indianerpfade sind weder breiter noch schöner instand gehalten. Dieser ganze grüne Zug besteht aus Milliarden dieser Ameisen, deren jede den Körper mit einem rund abgenagten Blattstück bedeckt hält. Der große Naturforscher Belt hat beobachtet, daß die Ameisen diese Blätter verwesen lassen, um Pilze darauf zu züchten, von denen sie sich nähren. Natürlich schenkte die Wissenschaft solch einem abenteuerlichen Vorgeben keinen Glauben und war der Ansicht, daß die Blätter zum Bauen verwendet werden.«

»Fabelhaft festes und dauerhaftes Baumaterial!« spottete Ulrich.

»Stimmt!« rief lachend der Professor. »Aber was wollen Sie? Pilzezüchtende Ameisen, das klang zu wunderbar. Allein Belt hat doch recht behalten: alle späteren Forscher fanden seine Beobachtung bestätigt.

»Jetzt schauen Sie einmal da her! So weit man blicken kann, führt ein bedeckter Gang aus Erde an diesem Baumstamme hinauf. Das ist ein Tunnel der Blattschneideameisen. Der Baum ist, wie Sie sehen, beinahe entlaubt, und ohne die üppige Zeugungskraft der Tropen würden diese Ameisen den ganzen Urwald vernichten bis auf einzelne Baumarten wie die Akazien, die durch eine besondere, sehr kriegerische Ameisenart gegen die Angriffe der Blattschneider verteidigt werden.«

Mit hohem Interesse beobachteten unsere Freunde das Treiben dieser merkwürdigen Insekten, und namentlich belustigte es sie, regelrechte Reitzüge zu entdecken, nämlich Arbeiterameisen, die auf andern spazieren ritten!

Der Ameisenpfad führte leider kaum einen Kilometer weit, dann ging es wieder durch ungebahnten Urwald.

Erst am Montag, den 9. Dezember, zeigte sich im Walde eine etwas lichtere Stelle, durch die ein Bach hindurchrieselte. Das Wasser gab den Wanderern einige Hoffnung, daß in der Nähe eßbare Früchte zu finden sein möchten, und daß sich vielleicht auch einiges Wild hier aufhalte.

Nicht weit vom Bache fand sich eine Gruppe schlanker Bäume mit sehr dünnen weißen Stämmen, die man für junge Kirschbäume hätte halten können, wären sie nicht so außerordentlich hoch gewesen.

Dogaressa, das Witwenäffchen, sprang plötzlich an einem dieser Bäume hinauf, gefolgt von Bambino, dem Titi. Alsbald erscholl aus den Zweigen ein klägliches Gekreisch: Aï-ï, aï-aï! so schrill und unangenehm, daß Schulze sich beide Ohren zuhielt, von denen er bei dieser Gelegenheit behauptete, sie hätten ein äußerst feines musikalisches Gehör.

»Aï-aï!« rief Unkas mit aufleuchtenden Augen und ergriff sein Beil, mit dem er in kurzer Zeit den Baum so weit anhieb, daß er sich neigte und langsam zu Boden senkte.

Nun sahen die erstaunten Europäer zwei seltsame Geschöpfe, die mit ihren langen gebogenen Krallen einen Ast umklammert hielten, den sie offenbar nicht loslassen mochten. Immer schrien sie: Aï-aï! ließen aber im übrigen ruhig ihr Schicksal über sich ergehen. Es waren Tiere von der Größe einer Hauskatze; ihr langes, grobes herunterhängendes Haar hatte eine dunkle, graugrüne Färbung, und über den Rücken zog sich ein Strich von schmutzigem Rotgelb.

Der kleine runde Kopf mit dem flachen Gesicht war noch menschenähnlicher als der eines Affen.

»Das sind Faultiere,« bemerkte Schulze, »und ich begreife jetzt, mit welchem Recht man sagt, ihr Geschrei sei ihr bestes Verteidigungsmittel. Großmächtiger Sebastian Bach! ich wollte doch noch lieber einen Schusterjungen eine verstimmte Violine bearbeiten hören: da heißt es ja wahrhaftig ›Jetzt weicht, jetzt flieht, jetzt weicht, jetzt flieht mit Zittern und Zähnegefletsch!‹«

Unkas aber dachte an keine Flucht, in aller Seelenruhe hieb er den Ast ab, an dem die Faultiere hingen, und trug ihn mitsamt den sich noch immer festklammernden Tieren auf eine kleine Lichtung.

»Warum entfliehen denn die Bestien nicht?« fragte Ulrich verwundert.

Schulze antwortete: »Erstens sind sie zu faul dazu, zweitens können sie sich auf dem Boden kaum fortbewegen. Aber einen guten Braten sollen sie liefern: das ist eine herrliche Aussicht nach den vielen Bachacopasteten!«

Unkas machte ein Feuer an, schlachtete und briet die Aï-aï, und in der Tat, der Mittagsbraten war köstlich. Der Rest des Fleisches wurde vorsorglich mitgenommen: er sollte noch bis morgen reichen. Die Weißen aßen nur Palmenmark zum Fleische, Unkas aber verzichtete nicht auf die Zutat von Ameisen, die ihm ein Leckerbissen waren.


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