Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Am nächsten Morgen gegen neun Uhr wurde vor der Klinik des Doktor Brandt in der Nettelbeckstraße unter seiner Aufsicht ein Schwerverwundeter aus einem Krankenwagen gehoben und ins Haus getragen. Eine halbe Stunde später kamen zwei, bereits von Station Grunewald aus telegraphisch gerufene, berühmte Chirurgen. Sie konnten nach langwieriger, überaus schwieriger Untersuchung den Befund, welchen die beiden jungen Kollegen, soweit es in der Eile möglich gewesen, festgestellt, nur bestätigen: eine Extraktion der Kugel völlig ausgeschlossen; letaler Ausgang unvermeidlich; nach vierundzwanzig Stunden sicher, wahrscheinlich bereits früher; die Möglichkeit eines Collapsus, der jeden Augenblick eintreten könne, nicht ausgeschlossen.

Der Untersuchung hatte Frau Doktor Brandt beigewohnt. Die beiden Berühmtheiten waren zu ihr von äußerster Zuvorkommenheit gewesen; hatten sie geradezu als Kollegin behandelt.

Und an dem Sterbebette ihres Freundes schaffte Frau Brandt in ihrer stillen, sicheren Weise, Eisumschläge machend, Morphiuminjektionen, wenn die Schmerzen überhand nahmen, den blutigen Schaum abwischend, der von Zeit zu Zeit auf die Lippen trat.

Der Kranke lag meistens still, ohne Besinnung. Nur ein und das andremal öffnete er die Augen, blickte, die an seinem Bette saß, verwundert an, bis er sie erkannte. Dann lächelte er und schloß die Augen wieder.

Ein paarmal phantasierte er, immer dasselbe:

Er flog über ein weites Meer nach einer schönen Insel, von der er ganz sicher war, sie müsse demnächst aus dem endlosen Schwall sich heben. Um sie dann endlich 486 auftauchen zu sehen im rosigen Morgenlicht. Aber nie erreichte er sie: denn plötzlich war sie wieder in der Wasserwüste versunken, und er weinte bitterlich. Meistens war er auf diesem Fluge allein; dann wieder schwebten geliebte Wesen neben ihm, die Frau Brandt daran unterscheiden konnte, daß die eine ihm stets weiße Lilien, die andre rote Rosen bot. Wenn die mit den Lilien bei ihm war, lag feierlicher Ernst auf seinem Gesicht; wenn die mit den Rosen, lächelte er wie ein Kind.

Die beiden Berühmtheiten kamen und gingen, hatten sich noch eine dritte zugesellt. Sie waren erstaunt über vis resistentiae des Patienten. Nach der Wissenschaft hätte er am Morgen des zweiten Tages tot sein müssen; der Abend des dritten war da, und er lebte noch.

Die Verwandten und Freunde kamen und gingen. In das Krankenzimmer freilich wurde niemand gelassen, mit Ausnahme von Tante Adele. Aber auch ihr hatte man diesen Vorzug nur einmal gönnen können: sie war völlig außer Stande gewesen, ihren Jammer zu beherrschen. Die Fürstin, obgleich sofort unterrichtet, konnte Falkenburg nicht verlassen; auch Friederike nicht. Gisela, der Miß Lionel, ohne sie irgend vorzubereiten, die Kunde von Wilfrieds schwerer Verwundung überbracht hatte, und daß keine Hoffnung für sein Leben sei, war mit einem herzzerreißenden Schrei zusammengebrochen und lag seitdem in einem lethargischen Zustand, der das Schlimmste befürchten ließ.

Erst jetzt zeigte sich, wie viele Freunde Wilfried besaß, besonders in der ausländischen Diplomatie, deren Salons er freilich immer besonders gern aufgesucht. Fast keine Botschaft, oder Gesandtschaft, die sich nicht zweimal des Tages nach dem Befinden des Herrn Grafen erkundigen ließ. Aber auch sonst bei dem Adel und vorzüglich im Offizierkorps war die Teilnahme eine sehr rege. Es schien, daß Bronowski wenig beliebt war und man sein Vorgehen allgemein mißbilligte. Man hätte den Grafen, als er nach seiner socialdemokratischen Eskapade, die man doch am Ende 487 überhaupt nicht ernst nehmen und als Extravaganz eines geistreichen Kopfes wohl verzeihen konnte, offenbar reuig zurückkehrte, mit offenen Armen empfangen sollen, anstatt ihm mit der Pistole in der Hand entgegenzutreten.

Und dann hatte sich – aus fast sicherer Quelle – das Gerücht verbreitet, der Major habe sich noch am Tage des Duells, dessen tötlicher Ausgang für seinen Gegner bereits entschieden war, mit Frau von Haida, die der Preis des Sieges gewesen, verlobt. Die milder Denkenden nannten das »mindestens sehr unvorsichtig«; die strenger Urteilenden »brutal«; einige sogar: »positiv schandbar«. Allgemein war die Annahme, es werde aus diesem Duell eine ganze Reihe anderer hervorgehen und Bronowski schwerlich seines Triumphes froh werden. Um so weniger, als man höheren Ortes über den ganzen Handel sehr ungnädig war. Man hätte dem Grafen wenigstens Zeit lassen müssen, einen auch ferner Stehenden einleuchtenden Beweis seiner Reue zu geben.

Es war in der dritten Nacht. Frau Brandt allein mit dem Kranken. Am Abend waren die Berühmtheiten dagewesen: es könne wohl bis zum Mittag des nächsten Tages dauern. Frau Brandt hatte ihre Überzeugung, ihr Kranker werde den nächsten Morgen nicht erleben.

Ihr Kranker! keines sonst! Sie hatte ihren Platz am Bett von der ersten Stunde an behauptet trotz des abmahnenden Kopfschüttelns der Berühmtheiten, der Vorstellungen und Bitten ihres Mannes. Unweigerlich hatte sie in ihrer Weise, gegen die kein Widerspruch aufkam, geantwortet: Laßt mich! Er gehört mir.

Und so saß sie wieder bei ihm in der stillen Nacht. Es ging auf drei. Durch die offenen Fenster kam das erste Morgengrau. Der Kranke ließ ihr keine ruhige Minute: ein beständiges Zucken ging durch seine Glieder; den Kopf wandte er auf dem Kissen hin und her.

Plötzlich lag er still mit einem seltsamen Ausdruck auf 488 dem wachsbleichen Gesicht, wie eines, der etwas Großes erwartet.

Seine Insel! murmelte Frau Brandt.

Keiner würde die tonlosen, abgerissenen Worte verstanden haben, die nun über die blassen Lippen kamen – sie verstand sie; sie hatte so oft in diesen Tagen mit ihm den Flug gemacht übers Meer nach der glückseligen Insel, die sich nicht erreichen ließ.

Diesmal mußte er sie erreicht haben.

Einen leisen Jubelruf ausstoßend, hatte er sich halb aufgerichtet, umsonst versuchend, die Arme zu heben. Dann fiel sein Kopf hintenüber. Langsam sank der Oberleib auf das Kissen zurück.

Keine Spur des ausgestandenen Leides auf dem schönen Gesicht. Seliger Friede.

Die Freundin drückte dem Toten sanft die Augen zu und küßte innig seine Stirn:

Leb wohl, Du goldene Seele!

* * *


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