Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Zunz war nicht wenig erstaunt, als sein Herr an diesem Morgen nicht ausritt. Das Wetter war wunderschön, und so spät war der Herr Graf von der Gesellschaft gestern abend doch auch nicht nach Haus gekommen.

Aber wie sehr erschrak er, als der Herr Graf, der bereits seit zwei Stunden in seinem Arbeitszimmer war, wohin er ihm auch den Morgenkaffee hatte bringen müssen, 315 ihn hereinrief und ihm sagte, daß er sich nach einem anderen Dienst umsehen möge. Von einer Unzufriedenheit mit seinen Leistungen sei keine Rede; er habe nie einen aufmerksameren Diener gehabt, und das werde er ihm in sein Dienstbuch schreiben. Aber er werde in Zukunft keinen Diener mehr halten, vielmehr halten können, da seine Verhältnisse sich wesentlich verschlechtert hätten. Er glaube das ausdrücklich sagen zu müssen, damit Zunz in der Entlassung nicht eine unverdiente Kränkung sehe.

Während der Herr in seiner freundlich ruhigen Weise so sprach, hatte Zunz Zeit gehabt, sich von seinem ersten Schrecken zu erholen. Die Vorstellung: der Herr Graf wolle sich ohne Diener behelfen, war so kurios, er hätte fast die Unschicklichkeit begangen und geradeheraus gelacht. Selbstverständlich durfte er sich nur die Andeutung eines Lächelns erlauben, und eine kurze drastische Schilderung der Lage, in die der Herr Graf ohne Diener geraten würde.

Und als er zu seinem Erstaunen wahrnahm, daß die gehoffte Wirkung bei dem Herrn Grafen ausblieb, seine Miene vielmehr noch ernster und entschiedener wurde, machte er einen letzten, bereits halb verzweifelten Versuch, seine bedrohte Position zu halten:

Er habe während der zwölf Jahre, die er nun bei dem Herrn Grafen diene und alles so reichlich, und persönliche Ausgaben so gut wie gar nicht gehabt, so viel auf die Sparkasse getragen, daß er gut und gern auf den halben Gehalt, ja, auf den ganzen verzichten könne, wenn der Herr Graf ihn nur nicht wegschicken wolle.

Für den Augenblick wurde er in seiner Rede durch ein Klingeln an der Flurthür unterbrochen. Es war der Depeschenbote mit einem Telegramm für den Grafen. Er brachte es ihm herein. Der Graf erbrach es in seiner Gegenwart und sagte, wie Zunz schien, in einem etwas gepreßten Ton:

Der Fürst kommt, anstatt morgen abend, schon heute zu derselben Stunde. Und was ich noch bemerken wollte: 316 ich werde mit ihm über Sie sprechen. Vielleicht, daß er Sie placieren kann. Sie blieben dann in der Familie und vertauschten nur einen vielleicht nicht schlechten Herrn mit einem zweifellos guten.

Dabei winkte er, daß Zunz nun gehen solle. Zunz ging, nur halb getröstet. Er setzte sich wieder an seine Arbeit. Die frühere, übrigens nicht weiter motivierte Ankunft des Bruders war für ihn nur eine Nötigung mehr, über seine Lage zur vollen Klarheit zu gelangen.

Daß er fortan auf sich selbst angewiesen sei, stand für ihn fest; ja, daß, wenn die Verhältnisse es nicht wollten, er es wollen müsse. Aber die Verhältnisse wollten es unbedingt. Tante Adele würde sich aus eigner Kraft niemals zu dem Entschluß, ihn in Stich zu lassen, aufgeschwungen haben, mochte sie sich persönlich noch so tief von ihm verletzt glauben, hätten ihn nicht andre ihr abgerungen, deren Feindschaft gegen ihn unerbittlich, und in deren harten Händen die schwache Frau weiches Wachs war. Daß die Kränzchen-Frage nur den Anstoß, seine Entlobung und sein Auftreten in der Versammlung den Ausschlag gegeben habe, war für ihn ebenso gewiß, wie die Unmöglichkeit, in einem dieser drei Punkte auch nur um Haaresbreite zurückweichen zu dürfen. Und war in Zukunft eine Aussöhnung denkbar, konnte sie nur eine moralische, keine materielle Wirkung haben. Nie wieder einen Pfennig von Tante Adele – an dem Entschluß war nicht zu rütteln.

Was das aber für ihn bedeute, darüber hatten ihn eben seine Wirtschaftsbücher belehrt, die er, seitdem die Studentenjahre hinter ihm lagen, nicht mit kaufmännischer Genauigkeit, doch für einen Privatmann sorgfältig genug geführt hatte. Er glaubte, ohne Verschwendung, eben nur anständig, standesgemäß gelebt zu haben, und erschrak, als er nun die Summen zusammenrechnete, die er durchschnittlich in gleicher Höhe, Jahr um Jahr verbraucht: der Referendar bereits das Gehalt eines Geheimrats; der Assessor das eines Ministers! Zunz hatte schon recht: ganz leicht 317 würde es ihm nicht werden, mit der kurzen Decke zu reichen, wie mit der langen. Und wie kurz sie werden würde, wenn er sie sich mit eigenen Händen zuschneiden sollte, war vorläufig nicht abzusehen; aber eben deshalb eine Frage, deren Beantwortung der Zukunft vorbehalten bleiben mochte. Erst einmal mußte Rat geschafft werden für das, was sich ab- und übersehen ließ.

Von dem Gelde, das er am Montag von der Bank gehoben, hatte er noch so viel, daß er die praenumerando zu zahlende Wohnungsmiete berichten konnte, im Fall sich nicht ein anderer fand, der, mit Genehmigung des Wirts, in seinen Kontrakt trat. Auch für einige kleinere Ausstände blieb ein Rest, während freilich ein paar größere Rechnungen erst beglichen werden konnten, wenn wieder Geld in der Kasse war. Und die Kasse mußte wieder gefüllt; es mußte ein Fonds herbeigeschafft werden, und der nicht unansehnlich sein durfte. Hatte er doch die Sorge für die ganze Familie Schulz übernommen: für den Bruder in Doktor Brandts Klinik, für Elise in der Pension bei Pfarrer Römer; für ihre Eltern und – mein Gott! für sie selbst, mochte ihr Stolz sich noch so sehr dagegen sträuben. Er hatte zusammengerechnet, wieviel das zusammen für das Jahr ungefähr betragen möchte – eher etwas mehr als weniger; dann die Summe mit zehn multipliziert – der Zahl der Jahre, für die nach seiner Ansicht unbedingt Sorge getragen werden mußte. Nun galt es, diese immerhin nicht unbedeutende Summe aufzubringen.

Soviel er auch sann, er sah, zu dem Ziele zu gelangen, nur den einen Weg: er mußte, was er besaß, verkaufen.

Und er machte sich daran, ein Inventar seines Besitzes aufzustellen.

Das Notizbuch in der einen, den Bleistift in der andern Hand durchwanderte er langsam seine Räume, mit dem Empfangszimmer beginnend. Von seiner dort aufgestellten Gemäldesammlung wußte er, da er sie erst in 318 den letzten Jahren zusammengebracht hatte, noch so ziemlich den Preis jedes einzelnen Bildes. So klein die Sammlung schien, es ergab sich eine recht beträchtliche Summe. Schwieriger erwies sich in dem Arbeitszimmer die Schätzung seiner Bibliothek. Zwar die Rechnungen über die Ankäufe der späteren Zeit hatte er vorhin bereits zusammengestellt, und der Betrag war leicht zu buchen. Aber er war schon als Student ein eifriger Büchersammler gewesen und hatte, da ihm die Mittel überreichlich zur Verfügung standen, sich in den Besitz kostbarer und seltner Ausgaben setzen dürfen. Hier wurde eine genauere Taxation unmöglich; er mußte sich schließlich mit einem annähernd zutreffenden Pauschale begnügen, welches wiederum eine Ziffer ergab, über deren Höhe er erstaunt war.

Und dies Erstaunen steigerte sich fast zum Schrecken, als er die durch alle Räume zerstreuten Kunstgegenstände zu schätzen versuchte. Von seinen beiden großen Reisen: der einen nach Madeira durch Frankreich und Spanien, zurück über Tunis, Algier, Italien; der zweiten über Konstantinopel nach Palästina und Ägypten – welch zahllos interessante und wertvolle Sachen – Gefäße, Gewebe, Waffen, bric-à-brac aller Art – hatte er zurückgebracht! Daß ihm, dem zum diplomatischen Dienst in Aussicht Genommenen, die Regierung so bereitwillig Urlaub erteilt! seine Kreditbriefe so umfangreich gewesen! Weinen mögen hätte er jetzt darüber! Und doch, während er vor diesen Kostbarkeiten stand, eine und die andre in die Hand nahm, sinnend betrachtete, sich hier an der bizarren Form eines altägyptischen Amuletts ergötzend, dort die virtuose Technik einer Kamee aus der römischen Kaiserzeit, den hohen Geschmack eines Tanagrafigürchens bewundernd – welche Erinnerungen stiegen in seiner Seele auf! Erinnerungen an einzig schöne Tage, verschlendert, verträumt in den herrlichsten Gegenden der Erde, wahren Gottesgärten, da Palmen ihre Kronen über seinem Haupte wiegten, der Überschwang köstlichster Blumen die weiche Luft mit Wohlgeruch 319 füllte. An wundersame, in Einsamkeit, oder in Gesellschaft interessanter und liebenswürdiger Reisebekanntschaften verlebte Stunden auf dem Deck von Dampfern, der großen Dahabieh, die ihn Nilauf-Nilabwärts trug; unter den ehrwürdigen Trümmern der Prachtbauten dahingeschwundener Völker; in der polyglotten Gesellschaft internationaler Salons; in der hehren Stille der Alpenwelt, vor der Schutzhütte sitzend, wenn der Mond sich über die Bergriesen hob und ihre eisigen Stirnen in geisterhaftem Licht hochher auf ihn niederblickten.

Mein Gott, mein Gott! wie war sie so schön die Welt! wie hatte er ihre Schönheit eingesogen mit allen Sinnen! in ihrer Schönheit geschwelgt! in tiefster Seele dankbar der Natur, daß sie ihn mit dieser Fähigkeit des Genießens ausgestattet; diesem heißen Drang, vor dem Schönen und Großen andachtsvoll das Knie zu beugen! Und wahrlich auch dem Geschick, das ihm die Not des Lebens fern hielt, ihn sich so ganz, so voll ausleben ließ!

Und dem allen wollte, sollte er nun entsagen.

Hatte er es sich denn wirklich redlich bedacht? sich ehrlich geprüft, ob er können würde, was er wollte? Die Haut abstreifen, von der Frau Brandt sagte, daß sie nicht abzustreifen sei, so sehnlich wir es vielleicht auch wünschen?

Und gelang es ihm nicht, lief alles auf einen qualvollen, vergeblichen Versuch hinaus –

Aber es mußte gelingen. Mußte! War dies doch der einzige Weg, sie sich zu erringen, die ihm jetzt die Quintessenz des Lebens, der Inbegriff all seiner Herrlichkeit war. Sie wußte sich vor ihrer Liebe sicher, solange er mit vollen Händen kam. Er würde vor sie hintreten und sprechen: Sieh hier! meine Hände sind so leer wie die Deinen. Wirst Du sie auch jetzt nicht fassen? mich nicht in Deine Arme nehmen wollen?

Die elektrische Klingel von der Flurthür schlug an. Er stellte die römische Aschenurne, die er während dieses 320 Selbstgespräches achtlos in der Hand gehalten, unwillig beiseite. Was wollte die Welt schon wieder von ihm, der von ihr nichts mehr wollte?

Schritte kamen über den Korridor. Die Thür wurde geöffnet. Falko, Zunz beiseite schiebend, trat herein.

Morgen, Wilfried! Zunz sagt, Du seiest heute für niemand zu sprechen. Muß Dich aber sprechen. Habe einen ganzen Sack voll Neuigkeiten! Und was für welche! Zunz – Du verstattest doch? – schaffen Sie etwas tropfbar Flüssiges! Und dann machen Sie die Thür hinter sich zu!

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