Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Die beiden Frauen waren mit dem Knaben, nicht eben geschickt anfassend, wie es Wilfried vorkam, durch eine Thür, die nur angelehnt blieb, in dem Nebenraum verschwunden; er blieb allein in dem niederen Gemach mit einem, der ihn, so wie er den ersten Blick auf ihn geworfen, mit dem entsetzlichsten Widerwillen, ja, Ekel erfüllt hatte und von dem er doch seltsamer Weise die Augen nicht abwenden konnte.

Ein langer Mann, der, die Beine weit von sich streckend, mit herunterbaumelnden Armen, hintenüberhängendem Kopfe und geöffnetem Mund in einem bös ramponierten Lehnstuhl halb saß, halb lag, offenbar sinnlos betrunken. Wilfried glaubte sich zu erinnern, daß der Mensch, während der Kutscher und er den Knaben die Stufen hinabtrugen, noch aufrecht gestanden und er sich gewundert hatte, weshalb er nicht mit zugriff. Jetzt war es ihm klar genug: der Mensch hatte in dem Zank mit seiner Frau, bei dem es – nach den Haarsträhnen zu schließen, die der Frau ins Gesicht hingen, und den roten Kratzstreifen, welche über des Mannes fahle Backen liefen – zu Handgreiflichkeiten gekommen war, sein letztes bißchen Kraft ausgegeben und war dann auf dem Stuhl zusammengebrochen. Vollends häßlich wurde das abscheuliche Bild für Wilfried durch einen Umstand, den er sich anfangs nicht zu deuten wußte, bis ihm wieder einfiel, was der Knabe von dem Gewerbe des Vaters gesagt hatte: der Mann stak in einem gut gehaltenen, allerdings hier und da von Staub besudelten schwarzen Frackanzug. Er mochte die Stufen hinabgefallen sein; die weiße Kravatte neben ihm auf dem Fußboden in dem Kampfe mit der Frau verloren haben. Und dieser wüste Geselle mit dem kurzgeschnittenen, dichten, krausen, 33 nur erst mäßig ergrauten Haar und den regelmäßigen Zügen des bartlosen Gesichts – wie grauslich es auch jetzt in der Stupidität viehischer Betrunkenheit erschien – er mußte in seiner Jugend ein schöner Mensch gewesen sein.

Von solchen Leuten läßt man sich nun bedienen, dachte Wilfried schaudernd.

Nur um den Menschen nicht mehr sehen zu müssen, blickte er sich im Zimmer um: ein großer, verhältnismäßig niedriger Raum, von dessen einst weiß gewesener Decke der Putz stellenweise abgefallen war, wie denn auch ebenso von den Wänden die braunblaue Tapete hier und da in Fetzen herabhing, wohl infolge der Feuchtigkeit, deren widerlich dumpfer Hauch die Luft für Wilfried kaum atembar machte. Im Hintergrunde standen zwei Betten nebeneinander mit bunten Kattunüberzügen, beide unbenützt. Von Möbeln nur das Allerdürftigste und kaum das: ein großer Tannenholzschrank; zwischen den Fenstern, an die Wand gerückt, ein Tisch, von dem die Abendbrotreste in einer defekten Schüssel und auf ein paar schadhaften Tellern noch nicht weggeräumt waren; ein paar unansehnliche Rohrstühle – augenfällige nackteste Armut, die den Kampf um ein würdigeres Dasein entschieden aufgegeben hatte.

Der Mensch im Lehnstuhl regte sich, hob den Kopf, stierte Wilfried mit stumpfem Blick an, machte eine Bewegung, als wollte er sich aufraffen, sank dann aber kraftlos wieder zurück, langgezogene, greulich röchelnde Schnarchtöne ausstoßend.

Wilfried konnte es nicht mehr ertragen. Es dünkte ihm eine Ewigkeit, daß er hier so stand, und doch waren, wie er sich an seiner Uhr überzeugte, erst zwölf Minuten vergangen, seitdem er den Knaben in der Spelunke abgeliefert. Worauf zum Teufel wartete er denn noch? Er hatte wissen wollen, wie es mit dem Knaben geworden. Aber, wenn ihn die Frauenzimmer so lange antichambrieren ließen! Wie nur ohne sie zur Spelunke und zum Hause hinauskommen? Eines wenigstens mußte herbei. Das war klar.

34 Er hatte ein paar Schritte nach der nur angelehnten Thür gemacht, durch welche die Frauenzimmer sich entfernt hatten, als das Mädchen rasch hereintrat, zurückprallend, als es den fremden Herrn erblickte, von dem es wohl sicher annahm, daß er sich mit dem Kutscher entfernt habe.

Ja, aber – sagte sie.

Ich wollte mich überzeugen, wie es eigentlich mit meinem kleinen Schützling steht; erwiderte Wilfried. Ihr Bruder? Nicht?

Ja.

Nun und? Ist es schlimm?

Ich weiß es nicht; ich verstehe mich nicht darauf.

Was meint Ihre Mutter? Es ist doch Ihre Mutter?

Ja. Sie versteht ebensowenig davon.

Der Blick des Mädchens war zu dem Schnarcher im Lehnstuhl abgeirrt und hatte dann wieder den fremden Herrn gestreift. Eine zornige Verlegenheit malte sich auf ihrem Gesicht.

Das ist jetzt Nebensache, sagte Wilfried schnell. Es handelt sich um Ihren Bruder. Kann ich ihn sehen?

Er wußte nicht recht, wie ihm die Frage über die Lippen kam. Es schien ihm zu der einmal übernommenen Rolle zu gehören.

Das Mädchen war sichtlich betroffen. Eine lebhafte Röte schoß ihr in die Wangen.

Ich weiß wirklich nicht –

Machen Sie keine Umstände! Vielleicht kann ich Ihnen noch von Nutzen sein.

So trat er, vorüber an dem Mädchen, das ihm nur eben den Durchgang freigab, in die Kammer, die um die Hälfte schmaler, aber, vielleicht nur deshalb, von größerer Tiefe schien als der Vorderraum. Wenigstens verdunkelte die hintere Hälfte beinahe völlig bei dem spärlichen Schein der kleinen Petroleumlampe, die jetzt auf einem Stuhle stand neben dem Bett, auf welchem der Knabe lag. Die Frau hockte da, im Begriff, einen Linnenlappen in ein 35 irdenes Waschbecken zu tauchen, das sie neben sich auf den Boden gestellt hatte. Auch sie blickte verstört, erschrocken, als Wilfried herantrat, der irgend ein paar freundlich sein sollende Worte murmelte und seinen Blick auf das Bein des Knaben heftete, das jetzt nackt aus der zerlumpten Bettdecke hervorsah. Das Schienbein hinauf war eine lange rote Schramme, aus der hier und da Tropfen Bluts hervorquollen; schlimmer war der Fuß zugerichtet, über dessen Spann ein breiter blauer Streifen lief, während die Zehen dick angeschwollen und glasig rot waren.

Da werden Sie doch wohl einen Arzt rufen müssen, Frau Schulz, sagte Wilfried. Jetzt zum erstenmale fiel ihm der Name wieder ein, den ihm der Knabe noch in der Bellevuestraße genannt hatte.

Die Frau murmelte etwas, das Wilfried nicht verstand, während sie sich daran gab, den nassen Lappen wieder umzuwickeln. Der Lappen reichte nur eben für den Fuß; das Schienbein blieb ungekühlt. Wilfried wandte sich zu dem Mädchen:

Haben Sie einen Arzt?

Bei seiner raschen Wendung hatte sie die großen Augen, die starr auf ihn gerichtet waren, blitzschnell gesenkt.

Nein, murmelte sie.

Die Frau hatte sich von den Knieen aufgerichtet – eine Gestalt über Mittelgröße, noch beinahe mädchenhaft schlank, in dem verwüsteten Gesicht, aus dem sie das ergraute Haar flüchtig mit der einen Hand zurückstrich, unverkennbare Spuren einstiger großer Schönheit, so an den Trunkenbold in dem Vorderraum unheimlich mahnend.

Wenn wir – sagte sie. Und, sich plötzlich unterbrechend, den fremden Herrn, den sie vorhin kaum gesehen haben mochte, fixierend:

Mit wem habe ich die Ehre?

Wilfried nannte seinen Namen.

36 In den Augen der Frau blitzte es auf. Sie verbeugte sich tief und sagte mit einem gezierten Lächeln, das Wilfried unangenehm berührte:

Mir nicht unbekannt. Habe fünf Jahre lang die Ehre gehabt, bei den durchlauchtigen Eltern zu servieren, als Kammerjungfer der Frau Fürstin. War noch da, als der Herr Bruder, die jetzige Durchlaucht, geboren wurde. Habe mich in meiner Not an den Herrn Grafen schon wiederholt wenden müssen –

Ich erinnere mich, murmelte Wilfried.

In der That war ihm die undeutliche Erinnerung an Bettelbriefe gekommen, die vor Jahren eine Frau Schulz, welche sich auf ein früheres dienstliches Verhältnis in seinem elterlichen Hause berief, an ihn gerichtet, und die er, da sie sich allzuhäufig, in immer schnellerer Folge, wiederholten, zuletzt nicht mehr beantwortete. Und so hatte er dies Elend hier freilich nicht geschaffen, aber auch nicht verhindert, daß es so groß werden konnte.

Er reichte der Frau die Hand und wehrte dem Kuß, den sie darauf drücken wollte.

Es thut mir unendlich leid, sagte er. Nun aber müssen Sie dem Sohn Ihrer alten Herrschaft schon erlauben, hier ein wenig nach dem Rechten zu sehen. Zuerst einmal muß der Fritz – heißt ja wohl so? – einen Arzt haben.

Ach, Herr Graf, mit dem wird das so schlimm nicht werden. Das zieht sich schon wieder zurecht. Gebrochen ist ja nichts. Aber sehen Sie hier, Herr Graf!

Sie hatte die Lampe von dem Stuhl genommen und leuchtete nach einem Bett, das ein paar Schritte weiter an derselben Wand stand, von Wilfried bisher nicht bemerkt. In dem Bett lag ein Kind – ein Mädchen – vielleicht ein Jahr älter als der Knabe. Sie hatte die halb nackten mageren Ärmchen über die zerrissene Bettdecke gestreckt. Die Augen hielt sie halb geschlossen. Ihre Wangen brannten.

37 Um Gotteswillen! murmelte Wilfried. Das Kind ist sicher sehr krank. Wie lange ist denn das schon?

Vier oder fünf Tage, Herr Graf.

Und Sie haben keinen Arzt gerufen?

Wir können keinen bezahlen, Herr Graf.

Aber da sind doch Armenärzte!

Ja, wenn man in der Krankenkasse ist.

Und doch muß einer geholt werden. Und auf der Stelle. Wissen Sie denn keinen in der Nähe?

Frau Schulz schüttelte den Kopf:

Weißt Du einen, Lotte?

Ecke der Keithstraße wohnt einer. Er wird in der Nacht nicht kommen.

Wie heißt er? fragte Wilfried.

Doktor Brandt, erwiderte das Mädchen nach einigem Besinnen.

Ich will versuchen, ob ich ihn herbringen kann, sagte Wilfried.

Aber Herr Graf –

Bitte, lassen Sie mich gewähren, Frau Schulz! Ich hoffe, in einer Viertelstunde oder so wieder hier zu sein.

Er schritt nach der Thür, von den beiden Frauen gefolgt.

Bleiben Sie nur da! Fräulein Lotte wird mich schon hinauslotsen.

Rasch durchschritt er den Wohnraum, den Blick geradeaus gerichtet, um die Grauengestalt in dem Lehnstuhl nicht zu sehen. Lotte einen Lichtstumpf in der Hand, der schief in einem zerbrochenen Porzellanleuchterchen stak, leuchtete ihm die Stufen hinauf bis zur Hausthür, die sie aufdrückte. In dem hereinströmenden Windzug erlosch das flackernde Licht.

Ich werde mich möglichst beeilen, sagte Wilfried.

Dann stand er auf dem Trottoir, während die automatische Hausthür ins Schloß schnappte.

* * *


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