Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Er hatte gehofft, bald an einen Droschkenstand zu gelangen; aber vergeblich. Endlich kam eine zweiter Klasse ihm entgegen – ein elendes Gefährt, das er zu nehmen sich nicht entschließen konnte. Um aus dem Menschenstrom zu kommen, war er in eine Querstraße eingebogen und wußte nun vollends nicht mehr, in welcher Richtung er sich bewegte. Die Straße war weniger belebt; er überholte einen Mann, der mit gesenktem Kopf langsam vor ihm herschritt.

Bitte, mein Herr, können Sie mir sagen, wie ich nach den Linden komme?

Der Angeredete blickte auf, ihm ins Gesicht: Lottes Bruder.

Herr Graf Falkenburg, sagte Hermann Schulz, höflich den runden Hut lüftend. Nach den Linden? Wir sind augenblicklich in der Krausnickstraße. Wenn es Ihnen recht ist, begleite ich Sie eine Strecke.

Sehr freundlich. Vorausgesetzt, daß ich Sie nicht aus Ihrem Weg bringe.

Durchaus nicht. Ich mache nur meinen 243 Abendspaziergang. Die Luft in dem Saal war zuletzt noch schlechter als bei uns im Bureau – obgleich das etwas sagen will.

Sie kommen aus der Versammlung des Pastor Römer?

Zu dienen, Herr Graf.

Es war das erstemal, daß Wilfried den Schweigsamen ein paar laute Worte sprechen hörte, und die Stimme hatte etwas von dem Klang von Lottes Stimme. Das geringe Unbehagen, das er empfunden, als er sich so plötzlich dem rätselhaften Kassierer gegenübersah, war sofort verschwunden.

Es scheint, meine Rede hat für die Polizei einiges Interesse gehabt, sagte er gut gelaunt.

Das sollt ich meinen, erwiderte Hermann. Ein Graf, der so fröhlich in den Paragraph hundertdreißig des Strafgesetzbuches hineinschliddert –

Der von der Gefährdung des öffentlichen Friedens handelt?

Geldstrafe bis zu sechshundert Mark; Gefängnis bis zu zwei Jahren. Da der Herr Graf, darf ich wohl annehmen, nicht vorbestraft sind – es auch sonst der erste Fall in der Familie sein dürfte – wird es wohl bei der Geldstrafe sein Bewenden haben.

Ich bin neugierig, wie man aus meinen Worten eine Gefährdung des öffentlichen Friedens konstruieren will.

Überlassen Sie das getrost dem Herrn Staatsanwalt. Freilich, hätte ein gewöhnlicher Socialdemokrat so gesprochen – von denen ist man das gewohnt; da ist man nicht so empfindlich. Aus dem Munde eines vornehmen Herrn klingt es anders. Da bekommt man plötzlich verdammt feine Ohren, und – Herr von Gronau ist ein Streber schlimmster Sorte. Darf ich mir eine Frage verstatten, Herr Graf?

Bitte!

Sie sind selbstverständlich kein Socialdemokrat?

Ich bekenne mich nicht zu der Partei; weiß auch nicht, ob man mich zu ihr rechnen darf. Ich habe einfach meiner 244 Überzeugung Ausdruck geliehen, die doch, soviel ich weiß, auch die Ihre ist?

Gewesen ist, Herr Graf.

Wieso: gewesen?

Man kann ja seine Überzeugungen wechseln. Der Herr Gras wird auch nicht von jeher so gedacht haben.

Dann stehen Sie jetzt auf dem Standpunkt des Pfarrers Römer?

Gott soll mich bewahren! Womit er die Leute regaliert, das ist nur Brei für kleine Kinder.

Weshalb besuchen Sie da seine Versammlungen?

Aus der alten Gewohnheit, glaube ich, Leute öffentlich reden zu hören. Man kommt dabei doch meistens auf seine Kosten. Die pièce de résistance von heute abend war allerdings die Rede des Herrn Grafen.

Sehr gütig. Aber, wenn es nicht zu indiskret ist: zu welcher Partei rechnen Sie sich jetzt?

Zu einer sehr kleinen, und die auch niemals groß sein wird – Gott sei Dank! Kennen der Herr Graf Nietzsche?

Ich habe einiges von ihm gelesen.

Sie sollten ihn ganz lesen. Da ist mehr als Marx und Lassalle – Lassalle, dieser Nietzschesche Löwe, der sich ein Marxsches Schaffell umgehängt hat! Hätte er Nietzsche erlebt – er hätte statt Heraklit der Dunkele einen Nietzsche der Helle, der ganz Helle geschrieben.

Wilfried war tief betroffen. Dieser Verschlossene, Schweigsame, von dem er gemeint hatte, daß er ganz in seinem Kassengeschäft und Zahlen aufgehe – er trug sich mit solchen Gedanken! Wahrlich, Frau Brandt hatte recht: an dieser Familie konnte man merkwürdige psychologische Studien machen. Und der seltsam interessante Mensch war Lottes Bruder! Es hätte ja nur dessen bedurft, ihn zu dem Manne zu ziehen!

Wie haben Sie es fertig gebracht, diese Bücher zu 245 lesen? Die Studien zu machen? rief er voller Verwunderung.

Ich war stets ein einsamer Mensch, erwiderte Hermann, einsame Wege suchend, wie mich der Herr Graf eben gefunden haben. Der Einsame hat mehr Zeit, als der, welcher sich in die große Herde zu mischen liebt, die auf der breiten Heerstraße dahintrottet.

Und da mußte Ihr Beruf ein so trockner sein!

Er ist so trocken nicht. Die Zahlen, besonders die auf Banknoten, sprechen eine seltsam beredte Sprache, deren Studium sich wohl verlohnt. Ich glaube, sie nicht ganz umsonst studiert zu haben. Man lernt aus ihr zum Beispiel, daß das Kapital, gegen das die lächerlichen Socialdemokraten wüten, eine prächtige Sache ist, selbst für Dummköpfe, wie meine Herren Chefs und andre von derselben Sorte; eine unüberschwänglich kostbare aber für solche, die – nun, die den rechten Gebrauch davon zu machen verstehen.

Da wären wir ja wieder wohl bei Pfarrer Römers Theorie angelangt.

Zu der sich die Praxis nie gesellen wird: der Durchschnitts-, der Herdenmensch wird den rechten Gebrauch des Reichtums niemals lernen; und die upper ten thousand sind auch nur Durchschnitts- und Herdenmenschen – sie erst recht. Aber wir sind auf dem Monbijouplatz. Ich vermute, daß der Herr Graf von hier aus Bescheid weiß. Ich will nicht länger lästig fallen.

Davon kann keine Rede sein. Ich wollte Sie sogar bitten, mich noch weiter, zu irgend einem guten Restaurant zu begleiten und –

Danke verbindlich, Herr Graf. Ich würde da in Versuchung geraten, gegen ein Gelöbnis, das ich gethan, zu verstoßen.

Kein Restaurant zu betreten?

Oder irgend ein Lokal der Art. In meinem Leben trank ich noch keinen Tropfen Spirituosen. Ich habe in 246 meiner Familie ein zu fürchterliches Beispiel, wohin das führen kann.

Merkwürdig genug für Wilfried, aber es war das erste Mal, daß in dieser Unterredung eine Anspielung auf die Familie fiel, um die sich jetzt sein ganzes Interesse bewegte; und daß sie nicht von seinen, sondern von des andern Lippen kam. Er hatte sich vergeblich auf einen schicklichen Übergang besonnen, dem Gespräch diese Wendung zu geben.

Sie wissen, daß ich Ihre Familie in diesen Tagen kennen gelernt habe, sagte er schnell.

Erst seit heute – durch einen Brief von Lotte.

Sie war in der Versammlung. Ich habe vergeblich versucht, ihr guten Abend zu sagen. Haben Sie sie gesprochen?

Ebensowenig.

Sie wird es sehr bedauern.

Eine kleine, für Wilfried verlegene Pause entstand. Hermann hatte wieder den Kopf gesenkt, daß Wilfried unter dem runden Hut nur die untere Partie des Gesichtes sah: die scharfgeränderten, in diesem Augenblick festgeschlossenen Lippen, das energische Kinn. So, ohne aufzublicken, sagte er – und die Stimme schien Wilfried dumpfer und weicher zu klingen als vorher:

Sie haben sich mit meiner Familie eine große Last aufgebürdet, Herr Graf. Mögen Sie es nie zu bereuen haben!

Das ist ganz unmöglich.

Ich weiß nicht. Auch für mich hat es eine Zeit gegeben, wo ich jede Last auf mich nahm. Ich hätte am liebsten die der ganzen Menschheit auf meine Schultern geladen. Ich denke setzt anders. Ich halte jetzt dafür, daß, wer sein Blut für die Menschheit hingiebt, es ins Faß der Danaiden gießt. Meine Zeit ist um, Herr Graf, ich muß mich Ihnen empfehlen.

Er hatte seinen Hut gezogen und sich gewandt, bevor 247 Wilfried, verwundert über dies brüske Abbrechen eines so intimen Gesprächs, erwidern konnte. Er blickte noch hinter dem sich Entfernenden her, als dieser nach wenigen raschen Schritten umkehrte und wieder vor ihm stand:

Verzeihen Sie, daß ich Sie nochmals aufhalte! Ich möchte Ihnen für das Viele, das Sie für meine Familie thun, einen kleinen Dienst erweisen: Bielefelders haben Ihnen ihre westfälischen Güter offeriert. Hüten Sie sich, darauf reinzufallen! Es ist der abgefeimteste Schwindel. Auch rate ich, Ihre Depots in der Bank sich nicht zu sehr anhäufen zu lassen: Bielefelders stehen augenblicklich groß da; aber sind die waghalsigsten und gewissenlosesten Börsenspekulanten. Sie können das meinetwegen aller Welt sagen.

Ich vermute, daß ich das nicht thun werde, erwiderte Wilfried lächelnd. Jedenfalls bin ich Ihnen für Ihren Rat verbunden.

Noch eine Bitte! Sie wissen, wie mein Geschäft mich in Atem hält. Selten, daß ich eine freie Stunde habe. Es dürfte längere Zeit vergehen, bevor ich Lotte aufsuchen kann. Wenn Sie sie früher sehen sollten, würden Sie die große Güte haben, ihr einen Gruß von mir zu überbringen?

Sehr gern. Aber ihren Brief werden Sie doch nicht lange unbeantwortet lassen?

Ja so, der Brief! Auch damit möchte es so schnell nicht gehen. Es wäre besser und einfacher, wenn Sie, Herr Graf, ihn beantworteten.

Wie meinen Sie?

Es sind Fragen darin, die nur Sie beantworten können, wie er denn überhaupt mehr an Sie gerichtet ist, als an mich. Überzeugen Sie sich selbst!

Um Gottes willen!

Auf meine brüderliche Verantwortung! Sie wollen für meine Familie sorgen. In diesem Brief ist von einer Sorge die Rede, die für Lotte schwerer wiegt als alle 248 anderen. Eine, von der Sie nur durch diesen Brief erfahren können, worin sie besteht; und die Sie durchaus kennen müssen, wollen Sie Ihr Werk nicht halb gethan haben. Bitte, nehmen Sie!

Er hatte den Brief, den er aus der Tasche gezogen, Wilfried in die widerstrebende Hand gedrückt, war in eine vorüberfahrende Droschke gesprungen, die sich auf einen dem Kutscher gegebenen, für Wilfried unverständlichen Befehl rasch entfernte.

Was nun? sprach Wilfried bei sich.

* * *


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