Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Wie vorgestern auf der einsamen nächtlichen Straße. Und abermals überkam ihn die aus banger Scheu und schier unwiderstehlicher Hinneigung wundersam gemischte Empfindung. Nur ganz flüchtig hatte er die schlanke, anmutvolle, in ein schlichtes schwarzes Gewand gekleidete Gestalt gestreift, um alsbald die Augen niederzuschlagen, wie ein verschämter Schüler; und er fühlte, daß, was er auch sagen mochte, seine Stimme zittern würde. So atmete er auf, als sie nach einer Pause, die ihm eine Ewigkeit schien, trotzdem sie nur wenige Sekunden gewährt haben konnte, mit ihrer tiefen, weichen Stimme sagte:

Ich wollte Ihnen danken, Herr Graf, für mein Schwesterchen, das nun tot ist und Ihnen nicht mehr danken kann; für meinen kleinen Bruder, der in seinem Fieber, ehe sie ihn wegtrugen, immerfort von Ihnen gesprochen hat. Wenn er wieder so weit ist, daß er gehen kann – ich darf ihn doch zu Ihnen schicken, daß er sich auch bedankt? Und dann – habe ich noch eine Bitte – für mich –

Wilfried hatte, während das Mädchen so, ohne Hast, als erwäge sie jedes einzelne Wort, sprach, die Augen gehoben und ihre Blicke waren sich begegnet. Jetzt war sie es, welche die dunklen Wimpern senkte, als sie leiser als vorhin, aber mit derselben eigentümlichen Sicherheit und Klarheit der Redeweise fortfuhr:

Ich wollte Sie bitten, herzlich bitten: lassen Sie es jetzt genug sein! Thuen Sie nichts mehr für uns! Kümmern Sie sich nicht mehr um uns! Es ist schade um jede Mühe, die doch verloren ist. Glauben Sie mir: uns ist nicht zu helfen.

Das ist nicht recht, Fräulein Lotte, daß Sie so 171 sprechen, rief Wilfried in einem Ton, der wie Heftigkeit herauskam und nur tiefe Rührung war. Sie haben mir es schon vorgestern nacht gesagt. Jetzt kommen Sie zu danken für etwas, das doch wohl in Ihren Augen des Dankes wert sein muß. Doch wohl ein Stück Hilfe sein muß, die Sie ein für allemal als unmöglich bezeichnen.

Von ihr kam keine Antwort. Mutiger geworden, fuhr er, sich allmählich auf seinen gewöhnlichen, höflich-ruhigen Sprechton stimmend, fort:

Ihrer armen Schwester war freilich nicht zu helfen; ihr junges Leben ist dahin. Das ist gewiß tief schmerzlich für Sie; aber auch Familien, in denen vom ersten Augenblick an alles und jedes für die Kranken geschieht, trauern an Totenbetten. Und wissen Sie den Fritz nicht in guten Händen, aus denen Sie selbst ihn ja gesund wieder ins Leben zurückkehren sehen? Wie könnten Sie ihn sonst zu mir schicken wollen? Ihre Eltern, wenn bessere Tage für sie kommen, werden auch wieder Vertrauen zum Leben fassen. Restieren Sie, Fräulein Lotte. Sie, so klug, so charakterfest, so gut, so –

Er hatte »schön« sagen wollen und konnte noch eben ein Wort verschlucken, das ihm plötzlich für die Mentorrolle, in die er sich hineinzureden suchte, möglichst unpassend erschien. Darüber aber hatte er den Faden verloren. Als empfände sie, daß sie ihm in seiner Verlegenheit zu Hilfe kommen müßte, sagte sie – und zum erstenmal huschte die Andeutung eines Lächelns über ihre ernsten Züge:

Mau muß schon sein bißchen Verstand zusammennehmen, wenn man für alles verantwortlich ist. Was ich da gesagt habe, hat gewiß recht wenig dankbar geklungen. Und ich wollte Ihnen doch gerade von Herzen danken.

Ihm war es ein völliger Schmerz, daß er die kleine, feine Hand, die sie ihm jetzt entgegenstreckte, nur durch den Glacéhandschuh berühren konnte. Auch gab er sie nach einem zaghaften Druck sofort wieder frei.

172 Leben Sie wohl, Fräulein Lotte, wir sehen uns jedenfalls wieder.

Er sagte es, während er bereits den Hut in der Hand hatte und sich nach der Thür bewegte, wohin ihm Lotte bescheiden das Geleit gab. In wunderlicher Angst, sie möchte ihm auch auf den Korridor folgen, wohl gar den Paletot anhelfen wollen, machte er eine Verbeugung, die für die Situation entschieden zu ceremoniös ausfiel, und war zum Zimmer hinaus, die Thür hastig hinter sich zudrückend.

Lottes starrer Blick blieb auf der Thür haften, durch welche der Mann mit der schlanken Gestalt, den vornehm feinen Zügen, den blauen Augen, die so lieb, so gütig blickten, entschwunden war.

Mit einem tiefen Atemzuge strich sie über die Augen und wandte sich nach dem Nebenzimmer, aus dem eben Frau Brandt, ihr Baby auf dem Arm, hereintrat.

* * *


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