Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Nun hatte er sich wieder nach der Stadt gewandt. Ihm war es seltsam, daß der Fries des Brandenburger Thores, an das er jetzt gelangte, im Nachmittagssonnenschein glühte. Über fünf Stunden, beinahe sechs waren vergangen, seitdem er den Tiergarten betreten. Ihm kam es vor, als seien es ebensoviele Minuten gewesen. Sollten sich alte Märchenwunder an ihm wiederholen?

Mit der Welt war freilich keine Veränderung geschehen. Da fluteten die Menschen durch das Thor hinein und heraus, wie immer zu dieser Tagesstunde; über den Platz rasselten die Droschken, klingelten die Pferdebahnwagen. Eine Hofequipage mit einem paar der kaiserlichen Kinder kam schnell herangerollt; von der Wache erscholl der Ruf des Postens vor dem Gewehr, das Spiel wurde gerührt; die im Nu zusammengelaufene Menschenschar knixte, zog die Hüte und lief wieder auseinander. Auch dies ein Gemeingefühl, der Drang, es zu bethätigen, mochte die Veranlassung auch noch so geringfügig sein.

Wilfried hatte keine Zeit zu verlieren: die Kasse der Bank wurde um sechs Uhr geschlossen, um acht Uhr sollte er bei Tante Adele zum Thee sein, und sie war gewohnt, 92 daß er eine halbe Stunde mit ihr verplauderte, bevor die gewohnten Montagsgäste kamen.

Der Gang zu dem Bankier wurde Wilfried niemals leicht, trotzdem er von dem unumschränkten Kredit, den ihm die Tante ein für allemal eröffnet, von jeher nur einen verhältnismäßig bescheidenen Gebrauch gemacht hatte. Aber das Bewußtsein, ohne jegliches Verdienst seinerseits alles lediglich ihrer Güte zu verdanken, war ihm stets so drückend gewesen, daß er sich schon wiederholt in peinliche Verlegenheit gebracht hatte, um den leidigen Moment der Empfangnahme des Geldes, welches er doch fast als das seine betrachten durfte, acht oder vierzehn Tage hinausschieben zu können.

Heute lag die Sache für ihn noch ganz besonders übel. Er hatte das letzte Mal wieder über Gebühr gezögert und infolge dessen die ziemlich große Summe, die er abgehoben, sofort stark in Angriff nehmen müssen. Darüber war kaum eine Woche vergangen; heute sollte er bereits wieder mit einer noch dazu ungewöhnlich bedeutenden Forderung kommen. Und zu welchem unwürdigen Zweck! Einen Spieler aus der Verlegenheit zu reißen, in die er sich vielleicht heute schon wieder stürzen würde! Er konnte und mochte nicht zusammenrechnen, wieviel er im Laufe der letzten Jahre bereits für Falko aufgewendet, das heißt: nutzlos verthan, einfach in's Wasser geworfen hatte. Um sich dabei stets sagen zu müssen, daß er sich so mindestens zum moralischen Mitschuldigen des Leichtsinnigen machte, sein Hinabgleiten auf der schiefen Ebene nur beschleunigte, an dessen Ende der Abgrund eines verfehlten Berufs, vielleicht einer verlornen Existenz klaffte. Was hätte er mit dem Gelde nicht alles für die unglückliche Familie thun können, die zu unterstützen er dem Doktor, sich selbst versprochen! Ein Versprechen, das ihm heilig war, und zu dessen Ausführung er nun abermals eine größere Summe brauchte; mit dem andern eine so große, wie er sie noch nie auf einmal von der Bank erhoben!

93 Das stand nun nicht zu ändern.

Die Erzählung eines alten, befreundeten Generals fiel ihm ein, den er heute voraussichtlich bei der Tante finden würde: wie er, mit seiner Brigade marschierend, den ersten dumpfen Donner der Schlacht von Gravelotte gehört; wie ihm das Herz geschlagen, als er, von der bisher eingehaltenen Linie abweichend, die Richtung nach rechts kommandiert habe, in welcher er am schnellsten auf das Kampffeld zu gelangen hoffen durfte.

Es war bei Gott nicht Furcht, was mir das Herz schlagen machte, hatte der alte Herr hinzugefügt. Nicht ein flüchtigster Gedanke an den Tod. Dem hatte ich in den beiden früheren Kampagnen und gar in dieser zu oft ins Gesicht gesehen. Nur das Hochgefühl, seine Pflicht und Schuldigkeit zu thun; die Sorge, nicht mehr zur rechten Zeit zu kommen.

Wilfried mußte lächeln, während er die breite steinerne Treppe zur Bielefelderschen Bank hinaufstieg. Seine dunkle private Existenz mit ihren Interessen, die nur für ihn groß waren, und jene Dinge, welche eine neue Ära der Weltgeschichte brachten!

Und doch besteht die Welt aus Atomen, sprach er bei sich; und ist nur dadurch ein Kosmos, weil sie zusammenhalten!

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