Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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In der frohsten Stimmung legte Wilfried den langen Weg von der Leipzigerstraße bis in seine Stadtgegend zurück. War ihm doch heute alles, was er sich vorgenommen, geglückt: Kleines und Großes! Jetzt auch noch spielend leicht das letzte, was ihm als das weitaus Bedenklichste, Schwierigste erschienen war, so daß er kaum eine Hoffnung des Gelingens gehabt hatte. Die Weise, in welcher der Justizrat eine für ihn so wichtige Angelegenheit fast scherzhaft behandelt, war freilich etwas wunderlich; aber der alte Herr stand nicht umsonst in dem Rufe eines allerersten Sonderlings. Und würde mit ihm nicht allzu streng ins Gericht gehen, wenn es mit seinen juristischen Kenntnissen hier und da ein wenig hapern sollte. Man würde ein wenig öfter als andere in den Gesetzsammlungen nachschlagen müssen; aber das würde nicht lange dauern: war ihm doch bis jetzt jede Arbeit leichter geworden, als in seinem moralischen Interesse lag. Von jetzt an wollte er es mit der Arbeit ernst nehmen, wie das Volk es nehmen muß, zu dem er ja nun gehörte. Das Volk mit den Gesichtern, 377 in die Sorge und Not so tiefe Spuren eingegraben. Und in die er heute mit so anderen Augen blickte! Als wären sie ihm plötzlich aufgethan und er könnte fließend in einem Buche lesen, das ihm bis heute mit sieben Siegeln verschlossen gewesen. Mochte Dagobert zehnmal recht haben: der Schlund, der zwischen den upper ten thousand und den andern Menschen klaffte, würde sich darum nicht schließen, wenn einer von jenen den Mut hatte, hineinzuspringen. Aber war es nicht hier, wie in der Schlacht? Wehe dem, der da den Mut hat, feig zu sein!

Nun blieb ihm noch eins zu thun, an diesem glorreichen Tage. Morgen sollten Herrn Levys Leute kommen, den Krimskrams einzupacken; er würde heute zum letztenmal in seiner Wohnung schlafen. So denn hieß es, sich nach einem andern Quartier umzusehen. In der Bel-Etage würde es just nicht sein; auch nicht aus einer Flucht von Zimmern bestehen. »Kleine möblierte Gartenwohnung drei Treppen l.« Da stand es auf einem Pappdeckel oben an einer Hausthür. Das war sein Fall.

Er blickte an dem Hause empor: es sah nicht besser und nicht schlechter aus als die übrigen, gerade wie die Straße die Durchschnittsphysiognomie der Straßen dieses Viertels hatte. Welche es war, wußte er nicht: bereits in der Nähe seiner Wohnung, nach der ihn nicht verlangte, war er von der Kurfürstenstraße in eine der Querstraßen nach der Tauenzienstraße abgebogen, die er niemals recht unterscheiden konnte: es mochte die Nettelbeck-, es konnte auch die Courbièrestraße sein; und in einer dieser beiden, hatte Frau Brandt gesagt, befinde sich die Klinik ihres Mannes, in deren Nachbarschaft wieder sie Lotte eingemietet hatte. Besser konnte er es sich nicht wünschen.

Auf sein Klingeln sprang die Hausthür auf. Er durchschritt den Flur, dann den Hof, sich vergeblich nach einem Garten umblickend. Der Hof war von zwei Seitengebäuden flankiert, hinten durch einen Querbau geschlossen, über dessen Thür ein Duplikat der Straßenannonce hing.

378 So trat er hier ein und stieg die Treppen hinauf. Etwas steile, läuferlose, aber reinlich gehaltene Treppen; vorüber an eng nachbarlichen, jede mit einem runden Guckloch versehenen Holzthüren, die nach Ausweis der nebenbei an der Wand befestigten Porzellan- und Messingschilder zu den Wohnungen des Kanzleirat Müller, des Ingenieur Büchmeier und andrer dunkler Ehrenmänner führte.

Regt sich der alte Hochmutsteufel wieder? murmelte Wilfried, als ihm das Wort auf die Zunge kam.

Die drei Treppen waren erstiegen; es ging noch eine höher; jedenfalls eine Bodentreppe. Wilfried war froh, daß er sein Ziel erreicht hatte. Die dumpfe Luft in dem engen Treppenturm, dessen Fenster hermetisch verschlossen schienen, war mit jedem Stockwerk weniger atembar. Es fanden sich in dieser obersten Etage wieder zwei Nachbarthüren. Auf dem Schilde der von ihm gesuchten, linker Hand, las er: Minna Rehbein, Schneiderin für Damen. Die rechter Hand zeigte nur eine Karte, deren Schrift er trotz der geringen Entfernung nicht entziffern konnte. Es ging ihn ja auch nichts an.

Die Thür wurde auf sein Klingeln geöffnet; eine sehr stattliche Dame in mittleren Jahren, anständig schwarz gekleidet, stand vor ihm.

Frau Rehbein?

Aufzuwarten.

Sie haben eine möblierte Wohnung zu vermieten?

Zwei Zimmer ohne Zubehör, nur etwas Bodengelaß, wenn es gewünscht wird.

Kann ich sie sehen?

Frau Rehbein trat zurück, den neuen Mieter vollends hereinzulassen, schloß die Thür hinter ihm, führte ihn ein paar Schritte über einen kleinen, dunklen Flur und öffnete die Thür zu einem Zimmer, dessen zwei Fenster nach der dem Hof entgegengekehrten Seite lagen. Ein mäßig großer Raum mit einer hellen, nichtssagenden Tapete. An der Wand, die nach dem Treppenflur liegen mußte, ein mit 379 einem billigen Wollstoff überzogenes, altfränkisches, hochlehniges Sofa; davor ein runder Tisch mit einer gemusterten Leinendecke. Zwischen Sofa und Fenster ein Schrank, ihm gegenüber an der andern Wand ein Cylinderbureau; an dem Fensterpfeiler ein ovaler Spiegel in braunem Holzrahmen, mit einem Tischchen, das diverse Nippes aus einem Fünfzigpfennigbazar schmückten. Auf dem gestrichenen Fußboden ein kleiner Teppich unter dem Sofatisch, ein noch kleinerer unter dem bescheidenen Lehnstuhl vor dem Cylinderbureau; sonst noch drei oder vier Stühle, so verteilt, daß sie möglichst wie ein halbes Dutzend aussahen. Neben diesem Zimmer, und durch eine einfache Thür mit ihm verbunden, ein zweites, einfenstriges: das Schlafgemach; die Ausstattung in Einklang mit der des Wohnzimmers: alles kleinbürgerlich und ein wenig stark verbraucht; aber durchaus sauber und gut gehalten.

Während der Inspektion, die freilich kaum fünf Minuten gedauert hatte, war kein Wort gesprochen. Jetzt wandte sich Wilfried zu der schweigsamen Führerin:

Und der Preis?

Er hatte das ihm geläufige »gnädige Frau« hinzufügen wollen, unterließ es aber, da er nicht recht wußte, ob es zu der Situation passe.

Zehn Mark wöchentlich ohne Kaffee, mit Kaffee zwölfeinhalb.

Wilfried berechnete, daß das jährlich ungefähr sechshundert Mark mache. Da er bisher viertausend für seine Wohnung ausgegeben, kam es ihm überaus billig vor.

Aber ich las unten etwas von Gartenwohnung, sagte er.

Bitte! sagte Frau Rehbein, mit einer zuversichtlichen Handbewegung nach dem geöffneten Fenster deutend.

An das Wilfried nun trat, um, wenn er sich hinausbog, in der Tiefe einen schmalen, mit niedrigem Buschwerk hier und da betupften Streifen Rasen zu sehen, durch den sich fußbreite Wege zogen, und aus dem drüben mit 380 Fenstern besäete Hinterhäuser der Nachbarstraße in der Entfernung weniger Meter himmelhoch aufragten.

Sehr schön, sagte er. Ich kann sofort einziehen?

Frau Rehbein verneigte sich:

Und mit wem habe ich die Ehre?

Wilfried griff nach seiner Brusttasche und stutzte. Aber hier inkognito auftreten zu wollen, wäre doch nur eine läppische aristokratische Velleität gewesen. So nahm er seine Karte und reichte sie der Frau.

Sie warf einen Blick darauf, streifte mit einem zweiten, scharf prüfenden die elegante Erscheinung des neuen Mieters und lächelte.

Da habe ich aber Glück. Ihr Vorgänger, der uns erst seit ein paar Tagen verlassen hat, war ein Baron – Baron Polzow –

Von Rügen?

Der Herr Graf kennen die Familie?

Nur dem Namen nach.

Es war ihm eingefallen, daß sie, deren zur Subhastation stehendes Gut er hatte kaufen sollen, so hießen. Der verarmte Baronen- und der enterbte Grafensohn, einer in die bescheidene Wohnung ziehend, die der andre eben geräumt! Ein Zusammentreffen, das ihn seltsam berührte. War auch das ein Zeichen, daß der Adel abgewirtschaftet hatte?

Der Herr Baron war hier, um sein Assessorexamen zu machen. Er mußte dann schnell nach Hause; seine Frau Mutter war ganz plötzlich gestorben.

O, sagte Wilfried.

Ein so lieber Herr! und ein so ruhiger Mieter! Man hörte ihn kaum.

Ich hoffe, Sie werden das letztere auch von mir sagen können. Viel werde ich nicht zu Hause sein. Nebenbei: ich habe dasselbe Fach wie mein Vorgänger; bin Assessor a. D. und arbeite bei dem Justizrat Berner in der Leipzigerstraße.

381 Frau Rehbein, die Wilfrieds feine Kleidung und sein sicheres Auftreten anfangs doch etwas stutzig gemacht hatten, war jetzt ganz beruhigt. Vertrauen mit Vertrauen erwidernd, erzählte sie, daß sie die Witwe eines Magistratsregistrators sei; nur ein Kind: eine erwachsene Tochter habe, mit der und einer Gehilfin sie arbeite in den nach dem Hof gelegenen Vorderzimmern, so daß der Herr Graf von dem Geräusch der Nähmaschinen nichts hören werde.

Hier wurde aus einem dieser Vorderzimmer die Tochter herbeigerufen und als Agnes präsentiert: ein scheues, rothaariges, etwas verwachsenes Mädchen von unbestimmbarem Alter, mit Augen, die stark schielten und überallhin, nur nicht auf den neuen Mieter zu blicken schienen. Sie huschte alsbald wieder hinaus, und Wilfried empfahl sich, nachdem er die erste Woche pränumerando bezahlt hatte, wovon Frau Rehbein zuerst nichts wissen wollte, es dann aber geschehen ließ mit der Miene des Klügsten, der nachgiebt.

* * *

Die Wohnungsthür mit dem runden Guckloch hatte sich hinter Wilfried geschlossen. Er stand auf dem schmalen Treppenabsatz, lächelnd: mein Gott, in welch seltsame Situationen man gerät, wenn man aus den altgewohnten Geleisen ausbiegt!

Im Begriff, die Treppe hinabzusteigen, fiel sein Blick auf die Karte an der Thür der Nebenwohnung.

Man muß doch wissen, wer sein nächster Nachbar ist.

In dem Flur dämmerte es bereits; er mußte ganz nahe herantreten: Hermann Schulz, Tafeldecker.

Das konnte ja nicht seine Richtigkeit haben! Aber er hatte sich nicht verlesen. Sollte es zwei Leute desselben Namens geben? Aber er hatte noch vorhin auf der Straße daran gedacht, daß sie hierherum wohnen müßten!

Sein Herz begann heftig zu klopfen: Sie hier! in seiner unmittelbaren Nähe! Es war unmöglich. Wollte 382 sie doch keine Annäherung; war vor ihm geflohen! Was würde sie, was Frau Brandt von ihm denken! Er mußte auf der Stelle wieder bei Frau Rehbein klingeln und ihr sagen – aber was? was? Die Frau würde ihn für toll halten. Dennoch – es mußte sein.

In seiner unsäglichen Verwirrung war ihm der Stock entglitten. Vor dem starken Geräusch, den es in dem engen Treppenraum auf den nackten Dielen verursachte, schrak er heftig zusammen. Eben hatte er ihn wieder aufgerafft, jetzt entschlossen, sich bei der Schneiderfrau so oder so zu entschuldigen, als die Thür, vor der er stand, aufging und in dem Rahmen auf dem dunklen Hintergrund des Wohnungsflurs Lotte erschien.

Sie wich einen Schritt zurück mit einem leisen halb unterdrückten Schrei, aus dem er keine freudige Überraschung herauszuhören glaubte; hatte sich aber alsbald wieder gefaßt und sagte mit einer Stimme, die nur noch ein wenig beklommen klang:

Verzeihen Sie, Herr Graf! Ich glaubte, es wäre der Vater.

Ihre Ruhe hatte auch ihm die Fassung wiedergegeben.

Ich bitte um Entschuldigung für die ungewöhnliche Stunde, sagte er; ich hatte den ganzen Tag zu thun; konnte aber dem Verlangen nicht widerstehen, mich endlich einmal nach Ihnen umzusehen.

Er war an sie, die sich nicht rührte, herangetreten und hatte ihr die Hand gereicht.

Ich komme Ihnen ungelegen?

O nein! Es ist nur – der Vater hat für heute einen Dienst angenommen; die Mutter ist vor einer Stunde ausgegangen –

Dann ein andermal.

Er machte eine Wendung nach der offen gebliebenen Thür.

383 O nein! Ich – möchte mit Ihnen – ich wollte Ihnen schon schreiben – bitte –

Sie hatte die Flurthür hinter ihm geschlossen und die nach einem Zimmer geöffnet.

Nach Ihnen, Fräulein Lotte!

Es war ein mittelgroßes Zimmer mit einigen wenigen, einfachsten neuen Möbeln. Selbst an einem Sofa fehlte es. Durch die beiden, bis zur halben Höhe mit weißen Musselinvorsetzern zugestellten, nach dem Hof gehenden Fenster kam ein warmer Abendschein. Wilfried mußte der schrecklichen dumpfen Kellerwohnung denken, in der er sie zum erstenmale gesehen, die nun vor ihm stand in einem dunklen Kleide ohne jeglichen Aufputz, sehr bleich trotz des rosigen Lichts, das ihr gerade in das Gesicht und in die großen dunklen Augen fiel, deren Glanz diese letzten Tage ausgelöscht hatten.

Ihre Blässe und der kummervolle Ausdruck der geliebten Züge schnitten Wilfried ins Herz.

Sie sind krank, Fräulein Lotte!

Sie schüttelte wehmütig den Kopf.

O nein, Herr Graf; es geht mir so weit gut. Es ist nur –

In den Augen stiegen Thränen auf, die sie sofort zerdrückte.

Aber wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Graf!

Sie hatte ihm in der Nähe eines der Fenster einen Stuhl zurechtgerückt und setzte sich in schicklicher Entfernung ihm gegenüber.

Es ist nur, weil ich mich so schrecklich um Hermann gräme. Ich habe ihn so lieb gehabt, und er mich auch. Ich fasse es nicht –

Sie blickte mit starren Augen vor sich hin, während Wilfried vergeblich nach einem tröstenden Wort suchte.

Und er war ein so guter Junge, fuhr sie mit leiser, tonloser Stimme, wie mit sich selbst sprechend fort; heftig wohl; aber er konnte niemand leiden sehen; und ich weiß, 384 daß er sein bißchen Gehalt als junger Kommis und später ebenso, als er mehr hatte, immer mit armen Kollegen geteilt hat. Und jetzt kann er etwas so Schlechtes thun!

Wer weiß, ob er trotzdem damit nicht etwas Gutes hat thun wollen, sagte Wilfried.

Sie blickte ihn fragend an.

Ich habe ihn ja kaum gekannt, eigentlich nur einmal am Dienstag Abend – Frau Brandt wird es Ihnen erzählt haben – eine halbe Stunde lang mit ihm gesprochen. Ich hatte den Eindruck eines außerordentlichen Menschen, der die Gesellschaft für zu krank hält, als daß sie mit anderen als heroischen Mitteln geheilt werden könnte. Wer kann wissen, wie sich das nun in seinem Kopfe gestaltet hat! Ich kann mich nicht entschließen, ihn für einen gemeinen Dieb zu halten.

Aber die Welt hält ihn dafür, sagte sie, traurig mit dem Kopfe nickend, muß ihn dafür halten. An den Litfaßsäulen steht es: zehntausend Mark haben sie auf seine Ergreifung gesetzt. Wenn sie ihn ergreifen! O mein Gott, mein Gott!

Sie drückte für einen Moment die Hand in die Augen und sprach, jetzt mit ruhigerer Stimme, weiter:

Verzeihen Sie! es ist nicht recht, daß ich Sie damit quäle. Sie können ja nicht helfen, so gern Sie es möchten. Es ist auch nur, weil ich hier mit niemand darüber sprechen kann. Vor dem Vater darf ich seinen Namen nicht nennen; und seitdem er jetzt gegen die Mutter wieder gut ist, steht sie ganz auf seiner Seite und will nun auch von Hermann nichts wissen, der früher ihr Liebling war.

Es freut mich, sagte Wilfried, daß Sie mir wenigstens von Ihren Eltern Gutes berichten können.

Ja, Vater hat sich bei seinen alten Herrschaften gemeldet; und gestern schon hatte er ein Abendessen, heute hat er ein Diner. Es kommt jetzt eine schlechte Zeit für Lohndiener; aber er hat Aussicht, daß er für den Sommer 385 als Oberkellner in einem Weinrestaurant angestellt wird. Mutter ist auch fleißig; sie ist sehr geschickt als Weißnäherin; und eben ist sie hin, sich einen Auftrag zu holen, den ihr Frau Doktor Brandt verschafft hat. Ich kann nun gar von Glück sagen. Eine Frau Tetzlav in der Kurfürstenstraße hat mich als Direktrice für ihr Putzgeschäft engagiert. Das Geschäft ist nicht groß und so ist es auch nicht das Gehalt; aber es ist doch mehr, als ich sonst wohl verdiente, und ich habe etwas Bestimmtes.

Das alles ist ja sehr schön, sagte Wilfried, der nur zerstreut zugehört hatte. Diese Angelegenheiten kleinbürgerlichen Lebens mit den Sorgen und Hoffnungen, die sich daran knüpfen, waren ihm so wildfremd. Er hätte lächeln mögen über die Zumutung, daß er sich dafür interessieren solle, während sie so nahe vor ihm saß; er sich an ihrer Schönheit berauschte und nur immer heimlich vor sich hin sagte: Ich liebe Dich! ich liebe Dich!

Da er das einzige, um was es sich für ihn handelte, nicht zu sagen wagte, verstummte er alsbald wieder, den brennenden Blick weiter so auf sie geheftet. Ihre Farbe kam und ging; sie sah vor sich nieder, dann zum Fenster hinaus auf die Dächer gegenüber. Wilfried glaubte nicht anders, als sie wünsche, daß er gehe. Und nun nicht sagen dürfen: gut, ich gehe. Aber morgen werde ich Dich wiedersehen und alle Tage! Die Unmöglichkeit, mit ihr in einem Hause, auf einem Flur zu wohnen, drängte sich ihm mit schrecklicher Klarheit auf.

So will ich mich denn empfehlen, Fräulein Lotte, sagte er mit gepreßter Stimme und stand von seinem Stuhl auf.

Ach, bitte, nein! rief sie angstvoll, nun ebenfalls schnell sich erhebend und eine Hand nach ihm ausstreckend. Ich muß Ihnen – ich sagte, daß ich Ihnen deshalb schreiben wollte –

Was ist es, Fräulein Lotte? Sprechen Sie es aus! Ich denke, Sie wissen, daß ich Ihr Freund bin.

386 Das ist es ja, rief sie in leidenschaftlicher Erregung. Sie dürfen es nicht sein! nicht so – so nicht! Mein Gott, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll – es klingt so furchtbar undankbar – Herr Graf, haben Sie Mitleid mit mir – ich kann nicht anders: Sie dürfen nicht weiter so großmütig sein! Es geht uns ja jetzt so gut. Wir verdienen, was wir brauchen – mehr als das. Was Sie uns geben – was Sie alles für uns thun – wir stehlen es anderen, die ärmer sind als wir. Um Gottes willen, Herr Graf, mißverstehen Sie mich nicht! Wir wollen für das, was Sie uns geschenkt haben, Ihre Schuldner sein. Auch Elise und Fritz, wenn Sie es wollen, mögen Ihre Schützlinge bleiben. Aber die Eltern; aber ich – O, mein Gott, jetzt zürnen Sie mir! Ich wußte es!

Ich zürne Ihnen nicht, sagte Wilfried, sein wild klopfendes Herz bezwingend. Oder doch nur, weil Sie nicht aufrichtig sind. Ich will es an Ihrer Stelle sein. Sehen Sie, Fräulein Lotte, wäre ich ein Mann, der sich durch seine redliche Arbeit ernähren müßte, und Ihnen als solcher – und natürlich als ein alter Bekannter, ein guter Freund – in Ihrer Not beigesprungen, ich bin überzeugt, Sie würden die Hilfe angenommen haben und annehmen mit dem Vorbehalt, dem Helfer, sobald Sie in der Lage sind, alles wieder zu entrichten. Habe ich recht?

Ich weiß nicht – ich glaube – murmelte Lotte.

Ich bin davon überzeugt. Nun bin ich in Ihren Augen der Graf, der vornehme Herr, von dem Sie nicht recht wissen, ob er ein Herz für Arme hat; ob er den Wohlthäter nicht aus lieber Langerweile spielt. Und wäre selbst das nicht der Fall – bitte, lassen Sie mich ausreden! – so wollen Sie nicht mein Schützling sein, weil es andre Leute giebt, von denen Sie mit Sicherheit wissen, daß sie sich unser Verhältnis nicht als ein reines denken können, sondern als eines, in dessen bloßen Verdacht zu 387 geraten, Ihre stolze Seele empört. Wenn wir jenen Leuten nun ihren Irrtum beweisen könnten, ganz klar beweisen? Ich habe viel darüber nachgedacht. Seitdem wir uns zuletzt bei Frau Brandt gesehen haben, sind in meinem Leben große Veränderungen eingetreten; nicht durch Zufall: ich habe sie herbeigeführt. Von Kindheit an habe ich als der Erbe einer reichen Tante gelebt. Als wir uns kennen lernten, war ich es noch. Ich bin es nicht mehr. Was ich jetzt noch besitze, ist ein sehr bescheidenes Vermögen, auf das ich selbst nicht einmal Anspruch mache; das ich nur als ein Mittel betrachte, den Verpflichtungen nachzukommen, die ich für Ihre Familie übernommen habe. Sie haben diese Verpflichtungen auf ein sehr bescheidenes Maß zurückgeführt. Sie sollen Ihren Willen haben. Sollen arbeiten dürfen für das tägliche Brot, wie auch ich es jetzt thun werde. Dazu gehörte, daß ich meine kostbare Wohnung aufgab und eine bescheidenere suchte; eine, die meinen jetzigen Verhältnissen entspricht. Als ich vorhin durch diese Straße ging – ich schwöre Ihnen, Fräulein Lotte, ich hatte keine Ahnung, daß ich Sie hier finden würde. Ich habe Ihren Namen an der Thür erst draußen entdeckt, als ich die Zimmer bei Frau Rehbein drüben schon gemietet hatte. Ich stelle es völlig Ihnen anheim, ob ich jetzt – kein Mensch wird merken, daß ich von Ihnen komme – hinübergehen und die Wohnung wieder aufgeben soll. Vorher aber muß ich Ihnen noch etwas sagen.

Er atmete ein paarmal tief; die Brust war ihm so voll: seine Augen brannten; nur im Flüsterton kam es von seinen Lippen:

Ich liebe Sie, Lotte; habe Sie geliebt vom ersten Augenblick, daß ich Sie sah. Von diesem Augenblick an ist mein Leben die Liebe zu Ihnen gewesen, und die Hoffnung, mir Ihre Liebe zu erringen so, daß Sie mein liebendes, geliebtes Weib sein wollen. Mein Schicksal liegt nun in Ihrer Hand.

388 Während er sprach, war sie wieder völlig bleich geworden. Unter den niedergeschlagenen Augen traten dunkle Ränder hervor; der zarte Busen hob und senkte sich bei ihren kurzen schnellen Atemzügen; durch den schlanken Leib ging ein Beben; die schlaff herabhängenden Arme zitterten; die blassen Lippen zuckten; aber das Wort, das er sehnlich erhoffte, kam nicht.

So denn – es war vorbei.

Ohne einen Laut zu äußern, mit leisen Schritten ging er nach der Thür. Da wandte er sich, einen letzten Blick auf das geliebte Mädchen zu werfen. Sie stand noch, wie vorhin; nur die Augen blickten jetzt auf ihn mit einem großen Leuchten. Im nächsten Moment war sie bei ihm und hatte sich, ihn mit beiden Armen umklammernd, an seine Brust geworfen, das glühende Gesicht zu ihm erhoben, mit halbgeöffneten, zitternden Lippen seine Küsse trinkend.

* * *


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