Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Es hatte Wilfried einige Mühe gekostet, bis er zur 223 festgesetzten Stunde auf der Uhlandstraße unter den durch weite Zwischenräume getrennten Häusern das des Pfarrer Römer ausfindig gemacht hatte. Ein großes, völlig neues, wie es schien, nur erst zum kleinsten Teil bewohntes Haus. In dem mit einem eisernen Gitter eingefriedigten Raum, der wohl einmal ein Vorgarten werden sollte, lag und stand noch allerlei Gerümpel herum: Bretter, leere Kalkfässer, Schubkarren. Er klingelte mehrmals vergeblich, bis er bemerkte, daß die Thür nicht verschlossen war. Im Erdgeschoß, das leer stand, arbeiteten singend und pfeifend zwei Tapezierergehilfen mit Papiermützen auf den Köpfen. Sie wiesen ihn auf seine Frage nach Pfarrer Römer drei Treppen hoch, wo er denn auch an einer Thür eine kleine Visitenkarte mit dem Namen des Gesuchten entdeckte.

Und der dann auch auf sein Klingeln in der Person eines großen, breitschultrigen, schwarzgekleideten Mannes vor ihm stand.

Herr Graf Falkenburg? Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Bitte, treten Sie näher!

Wilfried folgte der an ihn ergangenen Einladung und wurde sofort in ein Zimmer linker Hand geführt, welches sich durch ein paar mit Büchern gefüllte Regale, einen mäßig großen, mit Papieren bedeckten, an eines der beiden Fenster gerückten Schreibtisch als das Arbeitszimmer des Pfarrers erwies. Die Fenster hatten einfache weiße Vorhänge; an das, wo der Schreibtisch stand, war ein mit grüner Gaze bespannter Vorsetzer gestellt, der Abendsonne zu wehren, deren Strahlen horizontal in das Gemach fielen. Außer dem Korbstuhl am Schreibtisch noch zwei oder drei Rohrstühle; kein Möbel sonst. Die Wände, welche eine übelgewählte billige Tapete bedeckte, schmucklos bis auf einen lithographierten Christuskopf des Correggio in schwarzem Rahmen. Wilfried fiel das Wort von Frau Brandt ein, daß sie sich ihn nicht in einem ärmlich ausgestatteten Zimmer denken möge.

224 Dafür nun hatte Pfarrer Römer offenbar nicht die mindeste Empfindung. Er bot seinem Besuch einen der beiden Rohrstühle, die er von der Wand ab bis beinahe in die Mitte des Zimmers gerückt hatte, sodaß Wilfried, als sie nun Platz genommen, die Herrschaften auf der Bühne einfielen, die in derselben Situation ihre Unterredungen zu halten pflegen. Aber der Herr ihm gegenüber hatte so gar nichts von einem Komödianten und freilich, was Wilfried ihm noch höher anrechnete, ebenso wenig von einem Pfarrer. Er würde, hätte er es nicht anders gewußt, aus der ruhig sicheren Haltung und Sprechweise auf einen bedächtigen Geschäftsmann haben schließen müssen; nur daß die massive Stirn von schwerer Gedankenarbeit sprach, und das gelegentliche Aufleuchten der hellen stetigen Augen von einem innern verhaltenen Feuer. Alles in allem empfand Wilfried, daß man diesem Manne, wie geringen Anteil auch an seiner Erscheinung die Grazien hatten, unbedingt vertrauen dürfe.

Der Eindruck, den er auf den Pfarrer machte, konnte ebenso kein ungünstiger sein. Die etwas starren Züge des großen Gesichtes schienen sich freundlicher zu beleben und die Stimme einen wärmeren Klang zu gewinnen, als er jetzt, seinen Stuhl einen Zoll näher rückend, sagte:

Wenn Sie von einem Dienst sprechen, den ich und meine Frau Ihnen erwiesen, so stehen wir alle nach meiner Auffassung gleicherweise in einem höheren Dienst, besser ausgedrückt: in dem Dienste eines Höheren, dem wir, einer wie der andre, unsre Kräfte schuldig sind. Er verlangt von keinem mehr, als er vermag, und so ist ihm sicher ein treuer Diener nicht mehr wert als der andre. Wollen wir aber untereinander, Scherzes halber, einmal unsre Dienste abwägen, so dürfte hier das Plus auf Ihrer Seite sein. Es ist längst mein und meiner Frau Wunsch gewesen, praktisch zu bethätigen, was wir als eine teure Pflicht der besser Situierten gegenüber jenen unglücklichen Mädchen erkannt haben, die man wohl 225 die Ärmsten unter den Armen nennen darf – meine materielle Lage wollte es uns nicht erlauben. Nun wird uns unser Wunsch durch Sie ermöglicht. Weshalb mir außerdem Ihre Handlungsweise in dieser Angelegenheit ebenso interessant, wie wichtig ist – das zu erklären, müßte ich weiter ausholen, als mir für eine erste Begegnung schicklich scheint. Auch können Sie es, wenn Sie wollen, gedruckt lesen in einer Broschüre, die ich unlängst herausgegeben habe: ›Die Pflichten des Reichtums‹ – ein Thema, das, recht betrachtet, eigentlich die ganze sociale Frage umfaßt, und dem ich heute abend in einer Versammlung, zu der ich eingeladen, eine und die andere neue Seite abzugewinnen hoffe.

Frau Doktor Brandt hat mir davon gesagt, erwiderte Wilfried. Es würde mich höchlichst interessieren, einer Ihrer Zuhörer zu sein.

Ich wüßte nicht, was Sie daran verhindern sollte, wenn Sie sonst für den Abend frei sind, entgegnete der Pfarrer. Die Einladung gilt für jedermann. Wir machen uns dann wohl zusammen auf den Weg. Die Versammlung ist auf neun Uhr angesetzt; es ist jetzt dreiviertel acht; man braucht beinahe eine Stunde bis zur Sophienstraße. Ich wäre sogar schon fort, wartete ich nicht auf meine Frau. Sie ist mit Elise ausgegangen, einige kleine notwendig gewordene Einkäufe zu machen; muß aber jeden Augenblick zurück sein. Da ist sie schon.

Ein Geräusch an der Flurthür war hörbar geworden, gleich darauf auf dem Gang das Getrappel von kleinen Füßen, die aus einem Hinterzimmer zu kommen schienen.

Die Kinder, sagte der Pfarrer, wie zur Erklärung: Magda, Martha, Johanna. Magda spielt Hausmütterchen, wenn Mutter vom Hause ist.

Er war nach der Thür gegangen, die er ein wenig öffnete:

Willst Du nicht einen Moment hereinkommen, 226 Gustchen, ich möchte Dich mit einem neuen Freunde bekannt machen.

Durch die Spalte der Thür, die sie sogleich wieder hinter sich schloß, war eine kleine, schmächtige Frau mehr hereingehuscht als eingetreten, während die auf dem Flur lautgewordenen Kinderstimmen sich nach hinten entfernten. Durch die Thürspalte hatte Wilfried eben noch einen Schimmer von Elise gehabt, die einen Korb am Arme trug, nach dem ein paar kleine Hände griffen. Wilfried dankte im Herzen dem Takt und Zartgefühl der Pfarrersleute, die dem Mädchen und ihm eine in diesem Augenblicke für beide peinliche Begegnung hatten ersparen wollen.

So, sagte der Pfarrer, nachdem er Wilfried seiner Frau vorgestellt; und nun entschuldigen Sie mich auf ein paar Minuten! Ich will bloß ein wenig Toilette machen.

Übernimm Dich nur nicht dabei! rief ihm seine kleine bewegliche Frau lachend nach. Und dann sich zu Wilfried wendend:

Die Toilette wird darin bestehen, daß er sich einen reinen Kragen anknöpft, der liebe Kerl. Mit Gottes Hilfe und Magdas wird er ja wohl damit zu stande kommen.

Sie war vor Wilfried stehen geblieben, ihn mit einer Art von naiver Bewunderung musternd, die ihn verlegen machte.

Gerade so habe ich mir Sie vorgestellt, sagte sie. Freilich kein Kunststück: die Elise hat Sie mir geschildert, wie Sie leiben und leben. Das heißt: eigentlich kam dabei eine Art Jesu in Glacéhandschuhen und Lackstiefeln heraus. Na, man kann zufrieden sein, wenn man an den auch nur erinnert. An der Elise, denke ich, werden wir Freude erleben. Sie hat offenbar Kinder lieb. Das ist für mich entscheidend. In den Kindern liebt man die Menschheit, deren – hoffentlich bessere – Zukunft sie sind. Und Sie wollen mit meinem Mann in die Versammlung? Das ist recht. Ginge gern mit. Kann aber heute nicht. Kann überhaupt nur selten. Muß ihn ja 227 auch immer allein reisen lassen, obgleich der liebe Gott wissen mag, wie er ohne mich und Magda fertig wird. Magda ist nämlich volle zehn Jahr. Haben Sie meinen Mann schon mal gehört? Nein? Da werden Sie einen großen Genuß haben.

Ich zweifle nicht, Frau Pfarrer, sagte Wilfried, um doch auch einmal ein Wort anzubringen, das sie denn auch sofort aufgriff:

Na, Herr Graf, unter uns: mit der Pfarre hat es so viel nicht auf sich. Sie wissen, mein Mann hat sein Amt niedergelegt; niederlegen müssen: zur Zeit giebt es keine Kirche, in der er predigen dürfte, wie's ihm ums Herz ist. Das thut nichts. Gott wohnt nicht in Tempeln, aus Menschenhänden gemacht. Er ist überall, wo Menschen in seinem Namen versammelt sind. Es geht da nicht immer so friedlich und gesittet zu, wie in der Kirche. Die Geister platzen oft heftig aufeinander. Und die Leiber sollen es manchmal den Geistern nachmachen. Mein Mann sagt: so was kommt nicht vor. Er freilich fürchtete sich nicht, und wenn der Gottseibeiuns leibhaftig vor ihn hinträte. Das mögen Sie glauben!

Ich thue es unbedingt, Frau Römer.

Sehen Sie, das höre ich lieber: Frau Römer. Sie sind überhaupt ein lieber Mensch. Da kommt mein Mann. Nun gehen Sie mit Gott und finden bald einmal wieder den Weg zu uns! Sie müssen sich ja so wie so nach Ihrem Schützling umsehen.

Der Pfarrer war eingetreten; die Frau hatte mit der Toilette recht gehabt: Wilfried konnte auch nicht die geringste Veränderung wahrnehmen, außer etwa, daß er jetzt einen Hut in der Hand hielt. Frau Römer gab, sich auf den Zehen hebend, während er den großen Kopf herabbog, ihrem Mann einen Kuß; reichte Wilfried eine kleine feste Hand mit kräftigem Druck und war zum Zimmer hinaus.

Eine Minute später standen die beiden Männer auf der Straße, die sich, schlecht gepflastert, staubig, unwirtlich 228 selbst im letzten warmen Abendschein, schier endlos nach beiden Seiten streckte.

* * *


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