Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Es verging nach des Justizrats Berechnung noch eine volle halbe Minute, bevor Tante Adele, wie er die Freundin mit den ganz Vertrauten nennen durfte, ohne ihre nachdenkliche Haltung zu verändern, mit ihrer leisen Stimme begann:

Wie klar und deutlich der Hochsommerabend in meiner Erinnerung steht, der über mein, meiner Schwester Carola, unsrer Freundin Antoinette Kesselbrook Schicksal entschieden hat! Klar und deutlich, wie nur irgend eine Situation im Werther oder Wilhelm Meister. Im Garten des Klosters, dem man unsere Erziehung anvertraut hatte, uns drei Waisen, gleicherweise – ich darf es jetzt wohl sagen – schön und ebenso blutarm. Bedenkliche Eigenschaften, wenn man dabei auf eine endlose Reihe von Ahnen 112 zurückblicken kann, und der junge Busen von Aspirationen geschwellt ist.

An jenem Abend hatten wir Unzertrennlichen wieder einmal das unerschöpfliche Kapitel der glorreichen Geschichte unserer Vorfahren behandelt und die leuchtenden Bilder auf die dunkle Folie unsrer armseligen aussichtslosen Gegenwart gemalt. Oder welche andere Aussicht hätten wir gehabt, als unsren Erzieherinnen den Dank für ihre Mühen dadurch abstatten zu dürfen, daß wir ihren Bitten nachgaben und Himmelsbräute wurden, wie sie? Für uns Verlassene, die wir im Dämmerschatten der allein seligmachenden Kirche aufgewachsen waren, wie nahe lag der Schritt! Und der Schwester, der Freundin, wie wenig hätte er ihnen gekostet! Ich möchte sagen: sie hatten ihn schon halb gethan. Mit mir stand es anders, so ganz anders. Ich war, ohne eine Zeile von dem Meister gelesen zu haben, ein geborenes Weltkind, wie er. In meinen jungen Adern pulste, wie sehr auch vergeistigt durch die klösterliche Erziehung, das sinnenfreudige Griechentum, die Ahnung wenigstens eines Lebens, das für die fröhliche Entfaltung aller Kräfte des Leibes und der Seele gefälligen Raum bietet. Nun, in jener Stunde, erregt und angefeuert durch so erhabene Reminiscenzen, überkam mich diese Ahnung wieder einmal und mit Vollgewalt. Als malte sie der Genius der lichten Vergangenheit selbst, schilderte ich den Hochaufhorchenden unsere Zukunft: ein Land voll Sonnenschein, in welchem alle unsere Blütenträume reiften. Sie waren geblendet, hingerissen. Meine gute Carola vergaß ihre angewohnte rührende Bescheidenheit, Antoinette die Resignation, die sie uns stets als das höchste pries. Und als ich auf der Steinbank, die mir als Rostra hatte dienen müssen, meine begeisterte Rede schloß mit der Aufforderung, zu schwören, daß wir der Ahnen eingedenk sein und bleiben und alles mit der Ehrbarkeit Vereinbare thun wollten, was uns zu einer Position im Leben verhülfe, unserer Ahnen würdig – da hoben sie ihre reinen Hände, sie in die meine fügend, und 113 – ich darf es ohne Übertreibung behaupten – wir hatten unser weiteres Schicksal im Leben besiegelt.

Brauche ich zu sagen, daß für uns, die letzten zweier edelster Geschlechter, deren Mannesstamm erloschen war, sich die Heirat mit einem Ebenbürtigen, der auch besaß, was uns in so trauriger Weise fehlte, und an dem doch alles in der Welt hängt, wie sie nun einmal ist, als einzige Möglichkeit der Realisation unserer glänzenden Zukunftsträume bot, ja, mit unabweisbarer Macht aufdrängte? Und nun wollte der seltsamste aller Zufälle, daß unser Programm, in der Hauptsache wenigstens, durchzuführen, der weitaus anspruchlosesten und bescheidensten von uns, meiner Schwester, vorbehalten war. Aber hier endet die Vorgeschichte, die ich Ihnen nicht ersparen konnte, weil Sie nur aus ihr ein volles Verständnis dessen gewinnen, was Ihnen im übrigen bekannt genug ist. Sie wissen, wie der junge Fürst meine Schwester sah, als er auf der Durchreise eine entfernte Verwandte in unserem Kloster besuchen durfte; wie eine flüchtige Neigung, die er für die jetzige Generalin Falkenburg gefaßt hatte, sofort erlosch, und er nicht ruhte, bis er die Gute-Schöne zu der Seinen gemacht hatte. Wie dann die Schwester, wohl sie und ihr Gatte, es durchsetzten, daß ich ihr hierher, wo der Fürst während der letzten Jahre des alten Herrn residierte, folgen durfte, und beide mich zu der Ehe mit dem Freunde, der in ihrem Hause ein- und ausging, überredeten. Ich weiß nicht, ob ich mich hätte überreden lassen – was brauche ich Ihnen zu sagen, daß die Liebe in der Angelegenheit eine verschwindend kleine Rolle spielte? – wäre der Name der Familie, der jetzt der meine werden sollte, nicht ursprünglich du Rieu und die du Rieu von einem Adel gewesen, der es an Alter fast mit den Reckebergs oder Falkenburgs aufnehmen konnte. Hatte doch erst der Urgroßvater, als er, der aus Frankreich Vertriebene, sich in Preußen ansiedelte, den Adel fallen lassen, der ihm für den zum Seidenhändler gewordenen einstigen Grand Seigneur 114 nicht fürderlich schicklich schien! Weshalb sollte ihn da der Nachkomme nicht wieder aufnehmen, noch dazu, wenn alte, gerechte Ansprüche ein so gediegenes goldenes Relief hatten, und die angesehene Stellung meines Gatten als geheimer und vortragender Rat im Kultusministerium ihnen mindestens nicht hinderlich war? Wie meine Hoffnungen getäuscht wurden; das von den Müttern her seit Generationen in seinen Adern roulierende Bürgerblut einen Einfluß auf seine Denkungsart und Charakter gewonnen hatte, gegen den selbst seine große Liebe für mich nicht aufkam – Sie wissen es. Und wie ich nach seinem so frühen Tode in der Pflege der Kunst und Poesie, in dem Verkehr mit geistig bedeutenden Männern und Frauen mich über mein verfehltes Leben nicht ohne Erfolg wegzutrösten suchte, des sind Sie selbst durch diese langen Jahre ein klassischer Zeuge gewesen.

Brauche ich jetzt noch zu sagen, weshalb sie, der ihr höchster Wunsch unerfüllt blieb, die Mutter eines neuen, nicht minder stolzen Geschlechts zu werden, als ihre Ahnen gewesen waren, den Sproß aus ihrer Väter ritterlichem Stamm in der Situation sehen will, die sie dem eigenen Sohne zugedacht hatte? Glücklich, ihn einer Laufbahn entrissen zu haben, die nimmermehr für seinen freien Sinn, sein adeliges Gemüt sich eignete; und in die ihn nichts drängte als ein Verlangen, das ich nicht schelten darf: sich und der Welt zu beweisen, er laufe nicht am Gängelbande einer ihn abgöttisch liebenden Tante, sondern könne auf eigenen kräftigen Füßen stehen und gehen?

Tante Adele schwieg, augenscheinlich mit ihrer Geschichte zu Ende. Der Justizrat atmete erleichtert auf. Wie er vorausgesehen, hatte die Freundin ihm lauter bekannte Dinge erzählt, und er sich nur gewundert, daß sie schließlich doch zum eigentlichen Thema, warum Wilfried Falkenburg durchaus Grundbesitzer werden mußte, zurückgekommen war. Dann freilich war ihm auch die Scene im Klostergarten psychologisch interessant gewesen. Daß Tante Adele 115 sich bei der Erzählung streng an die Wahrheit gehalten, nahm er nicht an. Es kam nun einmal bei ihr nicht vor. Aber frei erfunden hatte sie die Anekdote auch nicht. So viel gab wieder ihre Phantasie nicht her, die ihre zarten Wurzelchen stets in poetisch schon beackertes Erdreich trieb. Ein Gran von wirklich Erlebtem mochte schon darin stecken; und dann wurde doch ein wenig begreiflicher, was ihm immer ein Rätsel gewesen war: wie die adelsstolze, phantastische Komtesse den nüchternen, ganz bürgerlich gesinnten, übrigens herzensguten damaligen Assessor Dürieu trotz seines Reichtums hatte heiraten können. Endlich die dritte im Bunde: das resignierte Freifräulein von Kesselbrook, die es fertig brachte, Gattin eines Philipp Bielefelder zu werden! Mit der goldenen Brücke, über welche die jungen Damen in das Land ihrer gereiften Blütenträume schreiten wollten, stimmte es auch in diesem Fall. Nur daß man sich hier auf einen Stammbaum hatte stützen müssen, dessen ehrwürdiges Alter nicht bestritten werden mochte, von dem aber der Gothaische Kalender seltsamerweise nichts wissen wollte.

Dem Justizrat war, während er, schweigend zuhörend, in seinem Fauteuil hockte, das alles durch den Kopf gegangen, und er hätte gern über das letzte, sich ihm aufdrängende Problem eine Frage gethan. Aber wer konnte wissen, wie lang die Antwort ausfiel, und ein Märchen zur Zeit – auf so etwas wie Märchen würde es ja doch hinauslaufen – war für seinen Geschmack genug. Überdies war die freie Stunde, über die er zu verfügen hatte, beinahe zu Ende.

So hob er denn die kleine Gestalt aus dem Fauteuil und sagte, als er wieder auf den Füßen stand:

Ich danke Ihnen, trefflichste aller Tanten. Sie haben mich durch Ihre meisterhaft vorgetragene Geschichte, in der aus jedem Wort die Schülerin Goethes sprach, wahrhaft beglückt. Sollte ich sagen, daß Sie mich ebenso belehrt haben, müßte ich lügen, was ich, wie Sie wissen, 116 nur im äußersten Notfall thue. Im Gegenteil! Wenn Sie, was mir denn doch das punctum saliens zu sein scheint, Ihren Liebling aus der Prosa des Beamtentums in die Poesie des Landjunkertums retten wollen, so ist die erstere keineswegs so nüchtern, wie Sie sich vorstellen, und die letztere ganz gewiß nicht so berauschend, wie Sie offenbar annehmen. Giebt es heutzutage etwas Prosaisches, so ist es das Leben und Treiben des Landwirts, ich meine des echten, rechten, der sein Geschäft ernsthaft treibt und aus dem Kampf mit der Ungunst der Zeitverhältnisse nicht als schmählich Besiegter hervorgehen will. Glauben Sie es mir, der ich freilich kein Ökonom bin, durch dessen Hände aber eine unheimlich große Zahl von Konkurserklärungen abgehauster Landwirte, adliger und bürgerlicher, gegangen sind.

Tante Adele, die sich ebenfalls erhoben hatte, lächelte hoheitsvoll. Sie schritt auf den Tisch in der Mitte zu, wohin Mathis während ihrer Erzählung, auf leisen Sohlen kommend, ein Kästchen, überzogen mit blauem Sammet und mit einer goldenen Haspe verschlossen, gelegt hatte. Sie öffnete das Kästchen, nahm ein schön gebundenes Buch in Oktav heraus, schlug es auf und las oder deklamierte – der Justizrat konnte es nicht unterscheiden:

Eröffn' ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch thätig frei zu wohnen,
Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde,
Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft,
Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft.
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen –

In dem Vorzimmer raschelte es von Frauenkleidern; Mathis schob den einen Flügel der Portière noch etwas weiter auf, zwei Damen durchzulassen. Tante Adele schloß leise das Buch, hauchte einen Kuß darauf, legte es wieder in das Sammetkästchen und wandte sich mit huldvollem 117 Lächeln, die beiden weißen Hände ausstreckend, dem Besuch entgegen:

Meine teure Baronin! meine anmutige Friederike! Wie lieb von Ihnen! Und wie immer in Ihrer holden Weise, die pünktlichen, die ersten! Denn der verehrte Freund hier, wollte ich ihn als einen der Unsern in Anspruch nehmen, würde sofort nach der Thürschwelle blicken, ob ihm kein Pentagramma den Ausweg verschließt.

Das weniger, sagte der Justizrat; wohl aber würde ich mir, falls ich das Sehnen meines Herzens stillte und länger bliebe, eine scharfe Reprimande des Aufsichtsrats zuziehen, der mich zu dieser Stunde erwartet und dem ich präsidieren soll. So denn: »Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden« – o weh! das ist ja von Schiller! Sie sehen, meine Damen, wie mehr als überflüssig ich in diesem edlen Kreise bin.

Er hatte es, seiner Gewohnheit gemäß, ohne eine Miene in dem grotesken Gesichte zu verziehen, gesagt; Tante Adele die Hand geküßt; eine altfränkische Verbeugung vor den beiden andern, ihm wohlbekannten Damen gemacht und verschwand mit kurzen eiligen Schritten in der Dämmerung des Vorgemaches.

* * *


 << zurück weiter >>