Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Eine ungeschickte junge Dienstmagd hatte auf die Karte, die ihr Wilfried in die rote Hand gedrückt, und seine Bitte, ihn bei der gnädigen Frau zu melden, nicht im mindesten geachtet, sondern ihm ohne weiteres eine Zimmerthür weit aufgerissen. Dasselbe Zimmer, in welchem man ihn vorgestern nacht empfangen. In dem Zimmer zwei Frauen: Frau Doktor Brandt, ihm gerade gegenüber auf einem niedrigen Schemel, ihr Kleines an der halbentblößten, weißen Brust; die andere ihm den Rücken zukehrend, während sie etwas seitwärts vor der jungen Mutter stand. Jedenfalls Lotte Schulz.

Wilfried hatte die Thür sofort wieder geschlossen, der Magd, die sich, offenbar völlig gleichgültig gegen das von ihr angerichtete Unheil, über den Korridor entfernte, einen zornigen Blick nachsendend.

Er brauchte nicht lange zu warten. Nach einer halben Minute erschien Frau Brandt in der abermals geöffneten Thür, keine Spur von Befangenheit in ihrer Miene, ein Lächeln auf den Lippen.

Ich stehe jetzt ganz zu Ihren Diensten, Herr Graf. Bitte, treten Sie näher und nehmen Sie Platz!

Sie setzten sich, wie vorgestern nacht: sie auf das kleine Sofa, er, durch den runden Tisch von ihr getrennt, auf einen nicht eben bequemen Fauteuil. Ihr Anzug war 160 derselbe; das lichtbraune Haar in derselben Weise arrangiert; nur die grauen Augen erschienen ihm heute noch größer, glänzender, während die Herbheit der ausdrucksvollen Züge, die ihm das erste Mal etwas unbehaglich gewesen, durch einen freundlichen Ausdruck entschieden abgemildert war.

Sie hatte ihm gleich beim Eintreten die Hand gereicht und that es, sich vornüberneigend, jetzt noch einmal.

Was Sie in der Sache, die uns zusammengeführt, gethan, und die Weise, wie Sie es gethan, hat mir eine hohe Meinung von Ihnen gemacht, Herr Graf.

Ich bin stolz darauf, gnädige Frau; es ist mein Wunsch und meine Hoffnung, das Vertrauen, das Sie mir schenken, auch weiter zu verdienen.

Das wäre also abgemacht. Und nun gleich eine Bitte, deren Erfüllung mir unsern Verkehr um vieles behaglicher machen wird: nennen Sie mich nicht gnädige Frau, sondern einfach Frau Brandt, meinetwegen Frau Doktor, obgleich der Titel, der doch nur meinem Mann zukommt, im Grunde ungehörig ist.

Aber, gnädige – aber Frau Brandt, Sie nennen mich doch Herr Graf!

Das ist kein Titel, sondern Ihr Name.

Ihr Wunsch ist mir Befehl.

So wäre auch dies in Ordnung. Nun zu unserer gemeinschaftlichen Angelegenheit. Sie haben meinen Mann gestern abend noch gesprochen und wissen, wie sie augenblicklich steht. Die kleine Grete wird morgen beerdigt. Ich bitte, daß Sie das unsere, respektive meine Sache sein lassen. Nicht um Ihnen keine Mühe zu machen, sondern, weil es den Umständen gemäßer ist. Der Knabe wird vier bis fünf Wochen in der Klinik bleiben müssen; der Fall ist doch schwieriger, als es anfangs schien. Was dann mit ihm werden soll? Ich schlage vor: wir thun ihn zu einem guten, ehrlichen Meister in die Lehre. Das Handwerk hat heute zwar keinen goldenen Boden mehr; aber es ist doch für den Jungen eine Einführung in das 161 praktische Leben; und aus einem tüchtigen Schlosser kann unter Umständen ein ausgezeichneter Maschinenbauer werden. Meine Bekanntschaft unter den Handwerkern ist eine ziemlich ausgebreitete. Ich glaube, den rechten Mann schon gefunden zu haben, und werde mich mit ihm in Verbindung setzen. Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind.

Aber das versteht sich doch von selbst.

Durchaus nicht. Wir sind Kompagnons. Des einen Ansicht und Stimme gelten genau so viel, wie die des anderen.

So bin ich einverstanden.

Gut. Jetzt ein zweiter wichtiger Punkt. Die Schulz können nicht wieder in ihre Kellerwohnung zurück. Auch nach der Desinfektion ist sie für Menschen unbewohnbar. Mein Mann hat bereits bei der Polizei beantragt, daß sie, bis gewisse unglaubliche Übelstände beseitigt sind, geschlossen wird. So muß anderweitig Rat geschafft werden und in der Kürze, da die Leute in der Dachkammer, die man ihnen provisorisch eingeräumt hat, nicht bleiben können. Wir müssen ihnen also eine andere, selbstverständlich möglichst bescheidene Wohnung schaffen, für die auch der mehr als defekte Hausrat, so weit als angänglich, zu ergänzen ist. Wollen Sie auch diese Arrangements mir überlassen?

Gewiß! Nur –

Bitte, wenn Sie irgend welche Bedenken haben – es ist durchaus nötig, daß wir in vollem Einverständnis handeln.

Es wurde Wilfried nicht leicht weiter zu sprechen; aber gegenüber dem schönen Freimut dieser Frau erschien jede Hinterhaltigkeit kläglich.

Ich meine nur dies, sagte er. Gestern abend haben Sie die Tochter – ich hörte sie Lotte nennen – mit sich zu Ihnen genommen. Hier von Großmut und dergleichen zu reden, würden Sie sich mit Recht verbitten. Aber mir war es ein tröstlicher Gedanke, ein Wesen, das so offenbar nicht in das entsetzliche Milieu gehört, in welchem es hat 162 leben müssen; dem der Seelenadel so deutlich auf das Gesicht geschrieben ist, in Ihrer reinen Nähe zu wissen. Ich begreife durchaus: ein solches Glück kann für die Arme nur ein vorübergehendes sein. Und doch, sie wieder diesen Eltern auszuliefern –

Wie sehr sich Wilfried auch der Erregung schämte, die ihn überkommen, für den Augenblick versagte ihm die Stimme. Eine Pause entstand, die ihm noch peinlicher gewesen wäre, hätte er, der sich nach dem Fenster gewandt, den prüfenden Blick gesehen, mit dem die klaren klugen Augen seines Gegenüber auf ihn gerichtet waren.

Doch währte die Pause nur kürzeste Frist.

Ich verstehe Sie vollkommen, sagte Frau Brandt – und in ihrer Stimme war, wie Wilfried deutlich empfand, ein weicherer Klang als vorher. – Wie sollte ich auch nicht? Ergeht es mir doch genau, wie Ihnen. Der Gedanke, den Sie, für mich ausreichend, angedeutet haben, ist mir die ganze Nacht durch den Kopf gegangen. Ich behielte das Mädchen gar gern. Durch das Kind bin ich in meiner sonstigen Thätigkeit sehr behindert. So wäre mir die Hilfe, die mir Lotte leisten könnte und würde, hoch willkommen. Aber sie erklärt, nicht bleiben zu dürfen. Die Gründe, die sie vorbringt, haben mich einen tiefen Blick in den Charakter des eigentümlichen Mädchens werfen lassen. Ich bin schon seit Jahren, sagt sie, die einzige in der Familie, die Geld verdient. Es ist wenig genug, und doch können wir es auf keine Weise entbehren, selbst, wenn mein Schwesterchen nun tot ist, und ich für Fritz vorläufig, und wie Sie versichern, auch später nicht zu sorgen brauche. So bleiben noch immer die Eltern. Und – nun, Herr Graf, gegen Sie kann und muß ich offen sein; darf ich selbst das Zartgefühl des Mädchens nicht schonen. Sie haben den Vater gesehen. Die Frau vermag schlechterdings nichts über ihn. Lotte, die er in seiner Weise doch zu lieben scheint, auf die er wenigstens sehr stolz ist, hält ihn noch einigermaßen im Zügel. Sie ist überzeugt – und 163 sie wird wohl recht haben –, daß ohne sie die Eltern in kürzester Frist vollends zu Grunde gehen würden. Gegen solche Argumente ist nicht aufzukommen; man muß sie einfach gelten lassen.

Wilfried machte eine zustimmende Bewegung und wollte etwas erwidern. Frau Brandt ließ ihm dazu keine Zeit.

Sie müssen schon ein wenig Geduld haben, ich bin noch nicht zu Ende. Dies ist eine merkwürdige Familie, an der man wahrhaftig intimste psychologische Studien machen kann. Ich kenne seit Jahren einen jungen Mann. Er ist Mitglied meiner Partei – nebenbei der socialdemokratischen – auf deren alleräußerstem linken Flügel er steht. Er kommt nicht oft in die Versammlungen und spricht noch seltener. Man hält ihn möglichst von der Rednerbühne zurück, seitdem man weiß, daß er fast regelmäßig eine Auflösung herbeiführt. Er interessiert mich: wie extrem auch seine Ansichten sind – er hat etwas gelernt und weiß zu sprechen. Persönlich war er mir nicht näher getreten; ich hatte nur gelegentlich erfahren, daß er Schulz heiße und Kaufmann sei. Nun, in den Gesprächen, die ich mit Lotte hatte, stellt sich heraus: der junge Mann ist ihr ältester Bruder. Er wäre durchaus in der Lage, seiner Familie zu Hilfe zu kommen; hat sich wiederholt dazu erboten, wiederholt dazu Versuche gemacht, die alle an der Hartnäckigkeit des Vaters gescheitert sind. Er haßt diesen Sohn, den er aus dem Hause geworfen hat. Er will ihn nicht sehen, nichts von ihm wissen. Die Erwähnung nur seines Namens versetzt ihn in die äußerste Wut. Da er, was Lotte verdient, sehr genau berechnen kann, wittert er sogleich Verrat, wenn sie, was sie ein paar mal gethan, heimlich einen Zuschuß des Bruders in die ärmliche Kasse hat schmuggeln wollen. Die bare Verrücktheit, denn die ewige Verzweiflung des Mannes ist, daß er kein Geld hat – natürlich um es zu vertrinken. Der Haß gegen den Sohn ist sogar stärker als sein Laster; und aus diesem Gesichtspunkt ist es Lotte zufrieden, wenn 164 der Bruder ganz aus dem traurigen Spiel bleibt. Wir müssen arm, blutarm sein, sagt sie, oder es wird noch schlimmer. Kann man etwas Jammervolleres, Herzzerreißenderes aus einem Menschenmunde hören? Das freilich wundersam Tröstende dabei ist die hohe Sittlichkeit, die aus solchen Worten spricht. Es ist etwas Großes darum, willig die äußerste Not, das jammervollste Elend auf sich zu nehmen, um nur dem Laster keinen Vorschub zu leisten. Aber endlich muß ich Sie auch einmal reden lassen. Ich sehe es Ihnen längst an: ich habe Ihre Geduld erschöpft.

Nicht im mindesten, verehrte Frau, erwiderte Wilfried, wenn auch ich Ihnen ebenfalls höchst seltsame, unsere Angelegenheit betreffende Mitteilungen zu machen habe. Zuerst, es müßte mich alles täuschen, oder ich kenne diesen Bruder Lottes: einen jungen Kassenbeamten des Bankiers meiner Tante, Frau Geheimrat Dürieu. Der Name Schulz stimmt. Das würde nichts bedeuten. Aber es ist da eine Ähnlichkeit nicht des Ausdrucks, wohl aber der Züge, besonders des Augenschnittes und der Kopfform, die mir gestern so auffiel, daß ich sofort von dem Chef, allerdings vergeblich, nähere Erkundigungen einzuziehen suchte.

Darüber wollen wir bald im Klaren sein, sagte Frau Brandt, sich erhebend. Ich brauche nur Lotte zu fragen. Verzeihen Sie einen Augenblick!

Sie hatte das Zimmer verlassen.

Das ist doch wirklich sonderbar, murmelte Wilfried, der sein Herz heftig schlagen fühlte, während seine Augen starr auf die Thür gerichtet waren. Wäre ich abergläubisch, ich würde schwören: hier ist Magie im Spiel. Ich habe das Mädchen kaum gesehen, kaum gesprochen. Was kann sie mir denn sein? Ein Gegenstand des Mitleids – nichts weiter.

Dennoch empfand er eine bittere Enttäuschung, als die Thür sich wieder öffnete und die Frau Doktor allein zurückkam.

165 Es hat seine Richtigkeit, sagte sie, ihren früheren Platz einnehmend. Es ist ihr um zwei Jahre älterer Bruder Hermann. Sie schreiben sich von Zeit zu Zeit; er poste restante, da kein Brief von ihm in die Wohnung kommen darf. Er war stets ein sonderbarer Mensch, sagt sie: nicht ohne Anflüge von Gutmütigkeit, wie der Vater auch, aber gerade wie dieser furchtbar heftig und alles in allem sehr überspannt. Von dem letzteren habe ich mich selbst überzeugen können. Wie merkwürdig, an das Wunderbare grenzend ist dies alles! Von Ihrem ersten Abenteuer auf der Bellevuestraße an! Wie sich da eine Entdeckung an die andere reiht; ein Faden sich mit dem andern verknüpft. Wollte das einer in einen Roman bringen, die Leser würden die Köpfe schütteln, die wenigstens, denen das Wundern nicht der Menschheit bester Teil ist. Und doch geht alles mit völlig natürlichen Dingen zu. Es bleibt eben ewig wahr: truth is stranger than fiction.

Dazu, sagte Wilfried, nun doch froh, daß Frau Brandt Lotte nicht mitgebracht hatte, kann ich einen Beitrag liefern, seltsamer als alles Frühere. Sie wissen, Frau Doktor, von ihrem Gemahl, daß Lotte noch eine zweite Schwester hat?

Auch von ihr selbst. Es ist ihr furchtbarster Kummer.

Der nun auch vielleicht gelindert werden kann.

Und Wilfried erzählte, wo und wann er zuerst Elise Schulz getroffen; die Begegnung gestern im Café Bellevue, und was er mit dem Mädchen ausgemacht hatte.

Es kann ja sein, fuhr er fort, daß wir es hier mit einem ganz verzweifelten Fall zu thun haben. Aber ich glaube es nicht. Es war ein Etwas in dem Betragen des Mädchens, in ihrer Miene, dem Ton ihrer Stimme, ihrer Ausdrucksweise, was nur sagte: dies ist keine völlig Verlorene; hier ist Rettung möglich. Und so zweifle ich nicht: sie wird meinen Anordnungen gefolgt sein und mir demnächst schreiben, wo ich sie aufzusuchen habe.

Nicht Sie, mein Freund, sagte Frau Brandt. Das ist sicherlich meine Sache.

166 Sie war aufgestanden und hatte mit raschen Schritten ein-, zweimal das Zimmer durchmessen. Jetzt kam sie zu Wilfried zurück, vor ihm stehen bleibend, mit Wangen, die eine innere Erregung bleich gemacht hatte, während ihre Augen jetzt wahrhaft leuchteten.

Ich habe Sie eben »mein Freund« genannt. Sie werden es mir nicht für ungut genommen haben; es kam mir von Herzen. Denn sehen Sie: das Wunderbare in dieser letzten Geschichte liegt für mich darin, daß das Mädchen unter den Tausenden von Männern, denen sie hätte begegnen können, dem Einen unter Tausenden begegnete, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte und hat. Nun bilde ich mir manchmal ein, es sitzt bei mir auch nicht auf einem falschen.

Nein, wahrhaftig! rief Wilfried, vom Stuhle aufspringend. Wenn Sie mir die Ehre, die Freude machen, mich Freund zu nennen –

Und er streckte ihr bittend die Hand entgegen.

Ein feines, fast schelmisches Lachen spielte um ihren Mund, in ihren Augen:

Da wäre vielleicht doch noch ein Hindernis und kein kleines. Sie haben nicht überhört, daß ich mich vorhin eine Socialdemokratin nannte?

Nein.

Es hat Sie nicht stutzig gemacht?

Durchaus nicht. Ich glaube, ich selbst, wenn man auf den Grund meiner Seele sieht, gehöre zur Partei.

Wie wiederum viele, die es nicht glauben. Daraufhin wollen wir es wagen.

Und sie ergriff seine noch immer ausgestreckte Hand mit kräftigem Druck.

So, der Bund ist geschlossen. Nun weiter in der Debatte, die nach Ihrer neusten Enthüllung durchaus wieder eröffnet werden muß. Was beginnen wir mit dieser unglücklichen Elise? Daß ich zu ihr gehe, sobald wir ihre jetzige Adresse wissen, versteht sich, wie gesagt, 167 von selbst. Was dann? Bei den Leuten, die sie gefunden hat, oder finden wird, bleiben kann sie nicht. Von einer Rückkehr in die Familie ist nun schon gar nicht die Rede. Mit dem unsinnigen Vater und der schlaffen Mutter ist kein Bund zu flechten. Lotte können wir die Verantwortung nicht aufbürden: sie hat schon früher keine Autorität über das leichtsinnige Mädchen gehabt; oder es wäre so weit nicht gekommen. Es muß durchaus in eine ganz andere Umgebung versetzt, unter eine liebevolle, strenge Aufsicht gestellt werden. Wieder würde ich hier mich anbieten. Aber wenn ich eine ins Haus nehme, die mir eine größere Freiheit verschaffen soll, muß ich sie wieder ohne Aufsicht lassen. Also das geht nicht. Aber was? was?

Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt; in der Konzentration des Nachdenkens trat die Schärfe der regelmäßigen Züge wieder deutlich hervor. Dann löste sich die Spannung.

Ich glaube, ich hab's; sagte sie aufblickend. Kennen Sie Pfarrer Römer?

Persönlich, nein, erwiderte Wilfried. Doch wurde in meinen Kreisen – Sie mögen sich denken, in welchem Sinne – von seiner Agitation wiederholt gesprochen. Ich habe daraufhin auch einiges von ihm gelesen – kleine Broschüren, dergleichen. Ich kann nicht sagen, daß der Eindruck ein gleichmäßig günstiger war. Mir schien, als ob er entweder zu weit, oder nicht weit genug ging.

Da begegnen sich unsere Ansichten abermals auf halbem Wege, sagte Frau Brandt, jetzt wieder freundlich lebhaft dreinblickend. Aber das Wort – ich glaube, der Tempelherr sagt es im Nathan und zu Nathan selbst – ein bessrer Christ war nie, darf man getrost auf ihn anwenden. Er ist der rechte Hirt, der das Leben läßt für seine Schafe. Und er hat das in seiner Lage ungeheure Glück, eine Frau zu besitzen, die ihn völlig versteht. Wenn wir die Elise – wäre es auch für kürzere Zeit – zu Pfarrer 168 Römer bringen könnten – das wäre herrlich. Ob es möglich ist, weiß ich freilich nicht. Ich gehe noch heute hin und frage. Sie sehen, mit meiner Freundschaft ist es ein eigen Ding. Ich nehme den Freunden ihre Entschließungen über den Kopf weg.

Und wenn ich ihn mir noch so sehr zerbräche, ich wüßte keine besseren zu fassen; erwiderte Wilfried. Es bleibt nur noch eines zu erledigen. Sie wissen, daß ich die materielle Seite unsrer gemeinschaftlichen Angelegenheit meine. Ich habe bereits gegen Ihren Herrn Gemahl den Punkt zur Sprache gebracht. Er war mit mir einverstanden; ich bin überzeugt, Sie sind es nicht minder. Die Rehabilitierung der Familie und das Viele, was damit zusammenhängt, wird nicht unbeträchtliche Kosten verursachen, die zu tragen ich mich anheischig gemacht habe und mache. Darf ich Sie bitten, zu dem Zwecke tausend Mark – ich habe sie für diese Unterredung zu mir gesteckt – als meine vorläufige Hilfeleistung entgegenzunehmen?

Sie streckte ein wenig zögernd die Hand nach dem Couvert, in welches er die Noten gethan hatte.

Es ist eine namhafte Summe, die Sie da opfern, sagte sie. Sie sind ganz sicher, daß Ihnen Ihre Großmut hier keinen Streich spielt?

Ganz sicher.

Sie sind ein reicher Mann?

Wilfried lächelte:

Offen gestanden: ich persönlich habe keinen Pfennig; aber ich bin der präsumtive Erbe meiner vorhin schon genannten Tante und Pflegemutter, einer sehr reichen Frau.

Gut denn. Man soll freilich nicht auf Weibertreue bauen. Wir wollen es diesmal ausnahmsweise um des guten Zweckes willen.

Sie war an ein Schränkchen gegangen, in welches sie das kleine Paket verschloß, und wandte sich wieder an Wilfried:

169 Lotte hat darum gebeten, Ihnen persönlich danken zu dürfen. Ist es Ihnen recht, wenn ich sie rufe?

Aber, Frau Doktor –

Aber, lieber Freund, Empfindungen, die aus dem Herzen kommen, soll man gewähren lassen. Diese kommt dem Mädchen aus dem Herzen. Glauben Sie mir!

Ehe Wilfried etwas erwidern konnte, war sie aus dem Zimmer.

Sie nimmt einem wirklich die Entschließungen über den Kopf weg, dachte er, halb ärgerlich, halb lachend. Freilich, wie kann sie wissen, welche Rolle das Mädchen seit vorgestern in meinem Leben spielt!

Von da, wo er stand, konnte er sich bequem in dem nicht eben großen Spiegel an dem Fensterpfeiler sehen. Mit schnellem Blick überlief er seine ganze Erscheinung, begann an seinem Bart zu zupfen und wandte sich mit einem halblauten: Schäme dich! auf den Hacken um.

Die Thür ging wieder auf; Frau Brandt hatte schon einen Schritt herein gethan, Lotte, die hinter ihr kam, war noch auf der Schwelle, als aus einem wohl etwas entfernten Gemach gedämpftes, doch sehr eindringliches Kindergeschrei ertönte.

Das arme Ding ist vorhin nicht satt geworden, hörte Wilfried Frau Brandt zu Lotte sagen.

Dann, sich zu ihm wendend:

Verzeihen Sie! Ich bin bald zurück.

Das Geschrei war noch stärker geworden; man hätte glauben sollen, es käme aus dem Nebenzimmer.

Und so was will eine feine, junge Dame werden! rief Frau Brandt heiter. Na, ich sehe schon, die Sache dauert länger. Da will ich Ihnen doch lieber gleich adieu sagen. Wir sehen uns jedenfalls in den nächsten Tagen?

Jedenfalls.

Sie hatte Wilfried noch eilig die Hand gereicht und 170 war zu der Thür hinaus, die sie hinter sich zuzog. Er fand sich mit Lotte allein.

* * *


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