Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Der Kutscher, nachdem der Schimmel bereits mehrere Male angehalten, vorwärts gezuckt, wieder umsonst angehalten war, hatte sein wackeliges Fuhrwerk zum Stehen gebracht. Wilfried blickte an dem so weit ganz respektabeln Hause hinauf. Sämtliche Fenster dunkel. Nur aus der Kellerwohnung linker Hand durch die Spalten der schlechtschließenden Rouleaux vor den beiden niedrigen Fenstern ein rötlicher Lichtschein. Und der gedämpfte Lärm der Stimmen zweier Menschen – offenbar eines Mannes und eines Weibes – die in heftigem Zank begriffen schienen. Das kann ja recht erfreulich werden, dachte Wilfried, während er den Kutscher ablohnte, überlegend, ob er den Alten gegen ein gutes Trinkgeld nicht bestimmen könne, die Ablieferung des Knaben an seiner Statt zu übernehmen.

Um mich hinterher meiner Feigheit zu schämen. Diese Menschen sind wirklich besser als wir.

Den letzteren Ausspruch hatte ihm aber der alte Kutscher entlockt, der von dem Bock heruntergeklettert, und nachdem er erst einmal kräftig an der Hausglocke gezogen, wieder an den Wagen getreten war, ihm beim Herabheben des Knaben zu helfen, den er dann auch mit ihm bis an die Hausthür trug. Alles ohne ein Wort zu sprechen, aber über Erwarten rüstig, sorgsam, methodisch, mit augenscheinlicher gründlicher Sachkenntnis.

31 Das viereckige Fensterchen unter der Hausglocke mir der defekten, schmutzig weißen Gardine wurde geöffnet; in dem Rahmen erschien das Gesicht eines jungen Mädchens, von dem Wilfried eigentlich nur die starren glitzernden Augen sah. Ob von den Thränen, ob von dem Wiederschein der Straßenlaterne vor dem Hause, konnte er nicht unterscheiden. Dann hatte das Mädchen sich in der dunklen Gruppe der beiden Männer, die den Knaben zwischen sich hielten, so weit zurechtgefunden und stieß einen dumpfen Schrei aus.

Ich denke, es wird nicht so viel zu bedeuten haben, beeilte sich Wilfried zu sagen. Wenn Sie Ihren Vater rufen wollten!

Das Fensterchen wurde wieder geschlossen; der Zanklärm, der eben greulich laut heraufgeschallt war, verstummte; die Hausthür öffnete sich auf einen Druck des alten kundigen Droschkenkutschers. Wilfried und er trugen den Knaben hinein; das Mädchen, jetzt mit einer kleinen Petroleumlampe in der Hand, stand auf der obersten Stufe der Treppe, welche in die Kellerwohnung hinabführte. Hinter dem Mädchen wurde die Gestalt einer Frau sichtbar, der graue Haarsträhnen über das bleiche, verheulte Gesicht hingen. Wilfried wunderte sich, wo der pater familias blieb, dessen zornige Stimme er eben noch so unangenehm deutlich gehört hatte.

Der alte Droschkenkutscher war, immer ohne ein Wort zu sprechen, die Stufen mit Wilfried und dem Knaben, den sie zwischen sich hielten, hinabgestapft, während keine Muskel in dem verwitterten Gesicht sich regte, als handle es sich um Ablieferung eines Koffers. Auch unten angelangt, wo die beiden Frauen ihnen den Knaben abnahmen, verzog er keine Miene, als habe er sich die Sache genau so gedacht, und stapfte die Stufen wieder hinauf. Wilfried wäre ihm für sein Leben gern gefolgt. Er hatte sich auch eine Art Vorstellung von dem gemacht, was ihn in der Kellerwohnung erwartete, und gerade anmutig war 32 die Vorstellung nicht gewesen; aber was er nun sah, übertraf weitaus seine schlimmsten Befürchtungen.

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