Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Ihre Frau Gemahlin wird mich in gründliche Aversion genommen haben, sagte Wilfried, als sie nun auf der Straße schnell nebeneinander dahin schritten.

Weil Sie mich noch einmal geholt haben? erwiderte Doktor Brandt. Bewahre! An so etwas ist sie gewöhnt. Und wenn es sich um die handelt, die sie ein für allemal mit Victor Hugo Les misérablers nennt, weil sie behauptet, wir hätten kein adäquates Wort dafür –

Vielleicht: Erbarmungswürdige?

Bißchen umständlich. Übrigens würde sie es gelten lassen.

Sie nicht?

Cum grano salis: mit der Erbarmungswürdigkeit – Accent auf dem Bestimmungswort – ist es nach meiner Erfahrung nur zu oft nicht weit her.

Das dürfte für unsern Fall noch besonders zutreffen, erwiderte Wilfried lebhaft. Ich halte es sogar für meine Pflicht –

46 Und er gab in gedrängten Worten dem Arzt eine Schilderung der Situation, wie er sie in der Kellerwohnung angetroffen. Er schloß mit der Erwähnung des Umstandes, daß die Frau jahrelang in seinem elterlichen Hause gedient habe, und er schon deshalb die Verpflichtung fühle, sich der Leute anzunehmen.

Eine nicht ganz neue Geschichte, sagte Doktor Brandt; man hat es anfangs besser, vielleicht gut gehabt. Dann ist es bergab gegangen durch des Vaters, oder der Mutter Schuld, vermutlich beider. Finis: das nackte, pfenniglose Elend.

Pfenniglos! jawohl! Herr Doktor. Und ich möchte da –

Bitte sprechen Sie es nur aus, Herr Graf! Sie möchten da zu Hilfe kommen.

Ganz gewiß.

Gut. Es wird zweifellos nötig sein. Aber, bitte, überlassen Sie mir, zu bestimmen, wie weit es nötig ist. Ich werde Ihnen pflichtschuldig darüber berichten. Sie sollen Ihrer Wohlthätigkeit keine Schranken setzen außer, wo die Vernunft, die ich in diesem Falle wohl oder übel repräsentieren muß, Veto sagt. Ist es hier?

Ja.

Und nun, bitte, gehen Sie nach Hause! Sie können für den Augenblick beim besten Willen nicht weiter helfen. Im Gegenteil: die Gegenwart eines andern bringt die Leute nur in Verwirrung. Sind Sie morgen vormittag gegen elf Uhr zu Hause? Gut. Landgrafenstraße – komme öfter in das Haus. Adieu!

Er hatte Wilfried die Hand gereicht und war in das Haus getreten, dessen Thür, nachdem er auf die Portierklingel gedrückt, ein wenig aufgesprungen war.

* * *


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