Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Sie hatten sich vor Jahren nur einige wenige Male, dann neuerdings im Vorübergehen flüchtig gesehen; und die persönliche Erinnerung der letzten Nacht war für beide verworren und schattenhaft. So blickten sie prüfend einander an, während sie ein paar Begrüßungsworte wechselten und Wilfried Platz zu nehmen bat. Der richtige Aristokrat, aber ich glaube, ein guter Kerl; dachte Dr. Brandt. Ein gescheidter Mensch zweifellos, wenn auch gerade kein Gentleman, sagte Wilfried bei sich.

Ich komme Ihnen zu früh, Herr Graf?

Keineswegs; ich habe Sie erwartet. Wie steht es bei unsern Protégés? Sie waren heute morgen schon dort?

71 Bereits um fünf und eben wieder.

O!

Der Doktor fixierte für einen Moment scharf sein Gegenüber. Auf den feinen, regelmäßigen Zügen lag ein Ausdruck von Abgespanntheit; die weichen, blauen Augen blickten so zerstreut, so träumerisch; der kurze Ausruf hatte einen so konventionell gleichgültigen Klang – er wünscht mich zum Kuckuck, dachte der Doktor. Aber ich kann Dir nun nicht helfen. Weshalb hast Du A gesagt?

Die Sache ist, fuhr er fort, entschlossen, dem Herrn Grafen kein Detail zu schenken, sein Interesse an der Angelegenheit mochte nun erloschen sein, oder nicht, ich fand heute nacht den Zustand des Kindes – das Mädchen ist noch ein halbes Kind – so bedenklich, daß ich fürchten mußte, sie erlebt den Morgen nicht. Typhus in einer seiner schlimmsten Formen. Und zuzusetzen hat das arme Ding nichts. Dazu der gänzliche Mangel an rationeller Pflege. Überhaupt an Pflege, die übrigens wahrscheinlich auch nicht viel geholfen hätte. So ließ es mir denn keine Ruhe. Nun, ich fand sie heute morgen noch lebend. Aber seitdem ist der Verfall so fortgeschritten, daß ich ihr jetzt nur noch ein paar Stunden geben kann.

Armes Kind, murmelte Wilfried. Und der Knabe?

Auch ein böser Fall: zwei Zehen gebrochen, die Knochenhaut des Schienbeins lädiert, möglicherweise der Knochen selbst angesplittert. Das habe ich noch nicht konstatieren können; die Typhuskranke ging vor. Jedenfalls wird eine sehr sorgsame und umständliche Behandlung nötig, die in der vertrackten Kellerwohnung, noch dazu unter den obwaltenden niederträchtigen Verhältnissen dort, nicht möglich ist. Werde den Jungen also in meine Klinik nehmen.

Sie haben eine Klinik?

Zusammen mit einem Kollegen, der ein vorzüglicher Chirurg ist. Mein spezielles Fach sind innere Krankheiten. Wir haben vorläufig nur sechs Betten. Glücklicherweise 72 ist gerade eins frei. Mein Kollege, der in dem Hause wohnt – Nettelbeckstraße dreiundzwanzig – ist telephonisch aversiert. Er wird um zwölf mit einem Krankenwagen an Ort und Stelle sein – zugleich mit mir selbstverständlich. Es ist setzt gerade elf.

Doktor Brandt hatte nach der Uhr gesehen und machte eine Bewegung.

So darf ich Sie nicht aufhalten, wie gerne ich Sie um so manches fragen möchte.

Ein paar Minuten habe ich immerhin noch.

Dann bitte ich Sie, ein wenig Platz zu behalten. Aber – verzeihen Sie die Frage: darf ich Ihnen nicht eine Erfrischung anbieten?

Vorausgesetzt, daß es keinerlei Umstände macht.

Nicht die mindesten.

Wilfried hatte auf einen Knopf neben der Thür gedrückt; dem Diener, der alsbald erschienen war, einen leisen schnellen Auftrag gegeben und sich wieder zum Doktor gewandt, der jetzt ebenfalls aufgestanden war und eine kleine Kollektion von Ölgemälden in verschiedenen Formaten musterte, mit denen die Wände dekoriert waren.

Alles neueste Schule, wenn ich nicht irre, sagte er.

Nicht alles, aber doch das meiste, erwiderte Wilfried. Ich achte in diesen Künstlern das ehrliche Streben, aus dem alten Schlendrian herauszukommen und dem Geist unserer Zeit die gebührende Ehre zu geben.

Und was nennen Sie den Geist unserer Zeit?

Zu denken, zu sagen und darzustellen, was ist.

Doktor Brandt blickte den Sprecher groß an. Er hätte aus dem Munde dieses Aristokraten jedes andere Wort eher erwartet. Es war seiner Mieze Glaubensbekenntnis, das sie in ganz ähnlichen Wendungen wiederholt ausgesprochen hatte.

Zunz war wieder erschienen, zu melden, daß für den Herrn Doktor serviert sei.

Aber Sie werden mir doch Gesellschaft leisten, Herr Graf?

73 Selbstverständlich, ich war mit meinem Frühstück erst halb fertig, als Sie kamen. Darf ich bitten?

Zunz hatte die Schiebethür nach dem Arbeitszimmer geöffnet; die nach dem Speisezimmer stand noch von vorhin offen. Doktor Brandt machte abermals große Augen. War das Empfangszimmer schon hochelegant eingerichtet gewesen, dies zweite – offenbar das Arbeitszimmer – imponierte ihm noch mehr: an den Wänden hohe, breite, mit prächtig eingebundenen Büchern gefüllte, reich ornamentierte Schränke aus Eichenholz; in der Mitte des weiten Gemaches ein mächtiger, gewiß sehr kostbarer, mit Büchern, Skripturen, so weit allerlei seltsames Bric-à-Brac den Platz frei ließ, bedeckter Arbeitstisch; auf den Schränken Büsten und Köpfe, zum Teil entschieden Originale; in den Zwischenräumen Aquarelle, Kupferstiche; der Fußboden, wie auch schon der in dem Empfangszimmer, teppichbelegt – hier ein einfarbiger dunkelroter, wie dort ein bunter persischer. Und diese, bei aller Decenz und allem Geschmack, dem Doktor verwunderliche Pracht setzte sich in dem verhältnismäßig kleinen Speisezimmer fort, nur daß seltsam geformte Delfter Vasen und Krüge auf Gestellen, die an den Wänden herumliefen, an schicklichen Stellen dort angebrachte Fayenceschüsseln und Teller den Schmuck bildeten. An bevorzugter Stelle ein großes, farbenglühendes Stillleben, sicher von der Hand eines ersten Meisters.

Der Doktor war verstummt. Nach dem Wort, das der Graf vorhin gesprochen, hatte er für einen Moment einen Gesinnungsgenossen in ihm gesehen, sich ihm menschlich nahe gefühlt. Der exquisite Luxus, mit dem sich der Mann, der nicht älter sein konnte als er, umgeben hatte – nicht etwa einer verwöhnten Gattin, nur dem eigenen, verwöhnten Geschmack zuliebe – ließ ihn wieder den Abstand empfinden, der ihn, den Sohn des Bürgerstandes, von dem Abkömmling eines Fürstenhauses trennte, und weniger als je begreifen, wie der Epikuräer heute nacht 74 zu seiner Samariterrolle gekommen war. Er hatte darüber schon mit seiner Mieze gesprochen, und die Kluge gemeint: das wandelt denn so manchmal diese Leute an; es ist eben einmal etwas anderes. Sie würde wohl, wie meistens, auch in diesem Fall recht gehabt haben.

* * *


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