Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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432 Inzwischen donnerte der Zug durch die Sommernacht. In den anderen Waggons ging es laut genug her; Wilfried und Lotte saßen sich schweigend gegenüber, nachdem Wilfried mehreremale vergeblich den Ansatz zu einem Gespräch gemacht hatte. Sie konnte nicht antworten, tödlich erschöpft, wie sie war.

Nicht von der körperlichen Anstrengung. Die hätte sie wohl ertragen. Was ihr die Kraft geraubt, war die Seelenpein, die sie den Tag über erduldet. O, des fürchterlichen Tages, dessen Schrecken ihre schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen hatten! Nicht, als ob etwas Besonderes vorgefallen, oder gar die Gefahr eingetreten wäre, die von ihm fernzuhalten, sie mitgegangen war! Abgesehen von ein paar schärferen, schnell wieder gütlich geschlichteten Wortwechseln zwischen einigen besonders Aufgeregten, war alles so friedlich verlaufen wie möglich. Man hatte geplaudert, gesungen, gespielt, getanzt, gegessen, getrunken; sich augenscheinlich köstlich amüsiert, etwas sehr lärmend hier und da und dann und wann; aber über die Tausende hatte ein Geist der Ordnung, der Wohlgesinntheit und Kameradschaftlichkeit gewaltet, der für Lotte, die zum erstenmal in ihrem Leben einem solchen Feste beiwohnte, etwas Ergreifendes gehabt und auch von Wilfried mit warmen Worten anerkannt war – Und doch! und doch!

Sie sann und sann in ihrer stillen Ecke und konnte es nicht zusammenbringen. Es war auch nichts Einzelnes. Denn daß ihm ein und das andre Mal ein angeheiterter Genosse auf die Schulter geklopft; ein bereits halb Berauschter durchaus Brüderschaft mit ihm trinken wollte; man sie vielfach, wenn sie Arm in Arm vorübergingen, angestiert, auch wohl halblaute Bemerkungen hinter ihnen her gemacht; eine Genossin aus ihrem Atelier und ihr Bräutigam sich zu ihnen gesellten und stundenlang nicht von ihrer Seite wichen – Wilfried war ja auf alles freundlich eingegangen; hatte jedem bereitwillig Rede und Antwort gestanden. – Und doch! und doch!

433 Doch hatte sie durch seine lächelnde Miene hindurch gesehen, aus seinen höflichen Worten herausgehört, daß er innerlich Qualen ausstand. Warum er da nicht ging? Er hatte sich ja nun gezeigt; mit einigen der Führer längere Unterredungen gehabt; es würde niemand aufgefallen, nicht einmal bemerkt sein. Sie hatte ihn wieder und wieder gebeten; er es jedesmal – erst freundlich, zuletzt in sichtbar schlimmer Laune – abgelehnt: er sei einmal da und wolle nun auch bis zu Ende bleiben.

Und als er dann endlich einwilligte, war es zu spät gewesen: auf den Dampfern jeder letzte Platz besetzt; an den Bahnzügen ein Stoßen und Drängen, wildes Rufen der Männer nach ihren Frauen und Mädchen, Gezeter der Kinder – es ist nicht möglich, hatte er gesagt; wir müssen warten.

Und sie hatten gewartet in einer dunklen Ecke des menschenüberfüllten Saales, durch dessen blaugraue Tabaksluft die Gaslichter trübe schimmerten; in dem ohrenbetäubenden Lärm der sich einander von Tisch zu Tisch Anschreienden – eine, zwei Stunden lang, bis endlich die Erlösung kam –

Keine Erlösung für Lotte –

Sie hätte lieber in dem wüsten, schmutzigen Wartesaal so weiter gesessen, als hier in dem stillen Wagen mit den weichen Polstern, die ihr nicht zukamen, gegenüber dem nun auch verstummten Geliebten, dessen schönes Gesicht, während er durch das offene Fenster in die Nacht starrte, so totenbleich, und der so tief, tief unglücklich war –

Unglücklich durch sie –

Das war jetzt ihre feste Überzeugung –

Nur sie war es, die ihn in diesem Elend festhielt, nachdem er um ihretwillen alles aufgegeben, was er von Kindesbeinen an besessen und – an dem sein Herz hing –

Mochte er es tausendmal leugnen, es war doch so: sein Herz hing daran, wie voll Mitleid und Güte es auch für die Armen war und wie voll großmütiger Liebe zu 434 ihr. Und würde nicht eher wieder leicht und fröhlich schlagen, als bis diese Last von ihm genommen war –

Das mußte geschehen. Wie es jetzt war, konnte, sollte es nicht bleiben. Was dann aus ihr wurde, war gleichgültig. Nur er durfte nicht auch zu Grunde gehen –

Es war beinahe zwölf Uhr geworden, als sie ihr Haus erreichten. Auf dem langen Weg dahin, von dem Bahnhof des Zoologischen Gartens, waren sie Arm in Arm gegangen, ohne kaum ein Wort zu sprechen. Als sie oben auf dem Treppenabsatz ihrer Etage standen, entzündete Wilfried ein Wachskerzchen, das erlosch, während sie ihre Thür öffnete. Wie sie sich wieder zu ihm wandte, fiel durch das hohe Treppenfenster das Licht des Mondes voll in ihr Gesicht. So bleich hatte er es gesehen in jener ersten Nacht, als er sie nach der Apotheke und zu ihrer Wohnung zurückbegleitete. Und so, genau so hatten die großen melancholischen Augen zu ihm aufgeblickt, als sie mit ihrer leisen, tiefen Stimme sagte: Uns kann niemand helfen!

Lotte!

Sie hatte sich an seine Brust gestürzt.

Verzeihe mir! Ich bin heut nicht gut zu Dir gewesen.

Doch! doch! Du bist immer gut! Viel, viel zu gut!

So liebst Du mich?

Tausendmal mehr als mein Leben.

Die Thür schnappte zu; sie drehte den Schlüssel um. Eine Wehmut überkam ihn, daß er hätte weinen mögen. Es war ja gewiß nur, daß er eben so lebhaft an ihre erste Begegnung gemahnt war; aber in der Verdüsterung seiner Seele hatte er ganz das Schmerzgefühl eines, der sein Liebstes zum letztenmale sieht.

* * *


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