Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wilfried hatte heute Stunden verlebt, von denen er sich dankbaren Herzens sagte, daß ihm das Schicksal, solange er lebte, schönere nicht beschieden. Die ganze Nacht hatte sein Herz an Lottes Brief gepocht; den ganzen Tag war der Brief nicht von seinem Herzen gekommen. Daß er die Geliebte einmal völlig sein nennen werde, daran zweifelte er jetzt keinen Augenblick; das war nur eine Frage der Zeit. Sie liebte ihn; des war er gewiß, und vorläufig war es ihm genug. War so viel, daß er es nicht fassen konnte, trotzdem er es sich hunderte von Malen wiederholte. Laut und leise vor sich hinsprach auf dem langen köstlichen Morgenritt durch den Grunewald; und während er in der gastlichen Försterei am See im Schatten der hohen Bäume eine Stunde lang saß, und den weißen Wolken nachträumte, die langsam über den tiefblauen Himmel zogen; seine Freude hatte an den Hühnern, die zutraulich, die Brosamen aufzupicken, bis unter den Holztisch liefen, an welchem er sein frugales Frühstück verzehrt hatte; an dem braunen Jagdhund, der wedelnd herankam und, den Kopf auf seine Kniee legend, mit guten treuen Augen zu ihm aufblickte. Es war alles so wonnig, die Welt so morgenschön, als sähe er sie mit den frischen, zarten Sinnen eines von schwerer Krankheit Genesenen. War denn nicht auch bis heute sein Leben eine lange, schwere Krankheit gewesen, mit heißem Sehnen nach Gesundheit, ohne Hoffnung, je gesund zu werden in echter freudiger Goethescher Resolutheit? Die gute, thörichte Tante Adele! Nächsten Montag wollte er in ihr geliebtes Kränzchen kommen und feierlich erklären, daß es so tiefgründige Goethekenner, 287 so zartbesaitete ästhetische Gemüter, wie da versammelt seien, noch nie gegeben habe, nie wieder geben werde. Ja, Friede mit aller Welt! Und Ebba zu ihrer Hochzeit mit Leßberg ein ellenlanges Gedicht, so gut er es nur irgend fertig bringen könnte!

In dieser glückseligen Stimmung war er nach Hause gekommen.

Und sie wurde wahrlich nicht getrübt durch ein Briefchen von Frau Brandt: sie habe noch einmal mit Lotte gesprochen; die Wohnungsangelegenheit sei jetzt ganz in seinem Sinne, der ja auch der ihre sei, geregelt.

Und durch ein anderes von Frau Pfarrer Römer: ihr Mann sei heute auf mehrere Tage verreist, sonst würde er zu ihm gekommen sein, ihm für seine gestrige gehaltvolle Rede zu danken und ihm zu sagen, daß in dem Hause des himmlischen Vaters viele Wohnungen seien; es nur darauf ankomme, sich durch die Liebe den Zutritt zu dem Hause errungen zu haben, wobei es denn ganz gleichgültig, ob der eine: »Vater unser«, und der andere »Unser Vater« sage.

Und so brachte er die übrigen Stunden hin, immer glückselig.

Und so, wie vom Glück durchleuchtet, hatte er die Gesellschaft betreten.

* * *


 << zurück weiter >>