Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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In der That hatte Wilfried anfangs auf das, was da am großen Tisch gesprochen wurde, nur mit halbem Ohr gehört. Was kümmerten ihn nach der Revolution, die er heute in seiner Seele durchgemacht, die Dinge, über die man dort zu verhandeln schien? Die Kinderspiele, denen er im Tiergarten zugeschaut, kamen ihm im Vergleich dazu tiefsinnig vor.

Dann war doch ein und das andre Wort gefallen, das ihn aufhorchen ließ. Und, nachdem er einmal den flatternden Faden erfaßt, fühlte er sein Interesse erwacht, zugleich auch seinen Unwillen erregt. Wie durften der Professor, der Major es wagen, so sich über den würdigen, geist- und gemütvollen Veteranen zu äußern? Wie konnte Tante Adele es dulden? Wie mochte man ihm, der die Courtoisie selber war, imputieren, er habe eine Gesellschaft, in der er sich so gern bewegte, absichtlich verletzen wollen? Wie ein Traumbild, dessen phantastische Umrisse der alte Mann, gewiß in bester Absicht, nachzuzeichnen versucht hatte, zum Gegenstand einer Kritik machen, als handle es sich um eine reiflich durchdachte gelehrte Arbeit? Und was er da seinen Traum-Goethe hatte sagen lassen, war es denn so unberechtigt? war es sinnlos? Hatte er selbst nicht oft Ähnliches empfunden, gedacht und damit zurückgehalten, keinen Anstoß zu erregen, niemandem die geliebten Kreise zu stören – Rücksichten, die ihm jetzt kleinlich und kläglich erschienen?

Was haben Sie vor? flüsterte Friederike, durch eine plötzliche heftige Bewegung, die er gemacht hatte, und sein verändertes Aussehen erschreckt.

Ich kann das nicht länger mit anhören; murmelte er.

Aber Wilfried, was geht es Sie? was geht es uns an?

So dachte ich früher auch; heute kann ich es nicht mehr.

135 Er war von ihrer Seite fort. Ihr angstvolles: Mir zu Liebe, Wilfried! hatte er nicht gehört oder nicht hören wollen.

An dem großen Tisch waren heute einige Plätze nicht besetzt worden; aber er blieb hinter einem der leeren Fauteuils stehen, seine Hände auf die Lehne stützend, ein wenig blaß, mit leiser und doch fester Stimme zu sprechen anhebend, während sein Blick über die Gesellschaft weg ins Leere gerichtet schien:

Jede litterarische Großthat, däucht mir, ist zugleich auch eine sittliche. Der Geist kann sich nicht zu höchsten Höhen aufschwingen, ohne den moralischen Menschen mit emporzuheben. Ein wahrhaft großer Dichter mag mit den Schwächen, die unsers Fleisches Erbteil, in peinlicher Weise behaftet sein, an dem Erdenrest noch so schwer zu tragen haben, ein niedrig gesinnter Mensch ist er sicher nicht, kann es nicht sein. Und so, scheint mir, daß die sittigende Kraft, die von den Großthaten unserer geistigen Heroen ausstrahlt, ihre herrlichste Wirkung ist, schon deshalb, weil sie allen zu gute kommt; auch denen, deren ästhetisches Empfinden die dichterisch-künstlerischen Schönheiten nicht auszuschöpfen vermag. Die gelehrten Herren werden mir einwenden, daß dies ein Laienstandpunkt sei. Aber auf tausend Laien kommt noch nicht ein Kenner; und so meine ich: diese ungeheure Majorität ist keineswegs eine quantité négligeable in der Frage: was sind uns unsre Dichter und Künstler? was sollen und können sie uns sein?

Daß solche Gedanken und Erwägungen in der Seele des verehrten Mannes, dessen harmlose Mitteilungen bei Ihnen einen so großen Anstoß erregt haben, lebendig sind, er oft und gern bei ihnen verweilt – ich weiß es, denn er hat mich nicht selten seines Vertrauens gewürdigt. Und mir ist kein Zweifel: sie haben ihm wieder vorgeschwebt bei allem, was er seinen Traum-Goethe sagen läßt. Nichts kann ihm ferner gelegen haben, als eine Herabsetzung der Goethe-Gesellschaft, deren eifriges Mitglied er von Anfang an gewesen ist; deren hohe Verdienste um die Vertiefung 136 der Einsicht in unsers größten Dichters Wesen und Schaffen er stets auf das bereitwilligste anerkannt hat, wenn er auch bescheidentlich zugiebt, daß er den Auseinandersetzungen der Herren Gelehrten nicht immer zu folgen vermöge. Von diesem Vorwurf also sprechen Sie den Würdigen frei! Er trifft ihn nicht. Ob er nicht auf die zurückfällt, die ihn erhoben haben, ist eine Frage, die Sie sich selbst beantworten mögen.

Hier konnte Major von Bronowski, gewohnt, in diesem Kreise als der »bedeutende« Mann widerspruchslos anerkannt zu werden, seine Ungeduld, seinen Unmut um so weniger zügeln, als er Wilfried gründlich haßte. War er doch sicher, daß der »melancholische Graf«, der in Breslau vor vier Jahren aller Welt den Kopf verdrehte, auch zwischen ihm und der schönen Marie von Erlbach gestanden hatte, die dann par dépit, weil Wilfried nicht von seiner Cousine Ebba ließ, den alten Herrn von Haida heiratete.

Sich nicht zu Wilfried, sondern zu der Gesellschaft wendend, sagte er, scheinbar gelassen, während die Erregung, die in ihm wühlte, nur allzu deutlich durchklang:

Ich bin recht begierig, zu erfahren, worauf der Herr Graf hinauswill.

Sie sollen es alsbald, fuhr Wilfried fort, den Major mit einem kalten Blicke streifend, um die Augen, die, je länger er sprach, immer heller aufleuchteten, wieder in eine imaginäre Ferne zu richten. Meine Meinung und Überzeugung ist: wenn wir unsern Goethe wahrhaft ehren wollen, beweisen wollen, daß er in unser Fleisch und Blut übergegangen ist, müssen wir des Schriftwortes gedenken, welches nicht den Herr-Herr-Sagern das Himmelreich verspricht, sondern ihnen, die den Willen des Vaters thun. So sollen wir freilich das Studium seiner Werke hoch halten, in erster Linie aber uns mit allen Kräften bestreben, das Evangelium, das er uns verkündet, durch Thaten zu beweisen. Sein Evangelium! Es ist so kurz und bündig! In kaum mehr als zwölf Worte hat er es zu bringen verstanden: 137

Unablässig streben,
Uns vom Halben zu entwöhnen,
Und im Ganzen, Guten, Schönen,
Resolut zu leben.

Können wir auf die Absolution Anspruch machen, die er seinen Treuen nur unter dieser Bedingung geben will? Wer von uns lebt denn resolut im Ganzen, Guten, Schönen? Wer von uns bleibt denn nicht im Halben kläglich stecken? »Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt« – das weiß jeder von uns, der die wissenschaftlichen Mühen unsrer Philosophie und Naturkunde, ihre Errungenschaften und Entdeckungen nicht verschlafen hat. Wir sind so fest, wie von unserm Dasein selbst, überzeugt, daß es mit dem Tode in Nirvana endet – haben wir den Mut, ihn, der »dorthin die Augen blitzend richtet, Sich über Wolken seines Gleichen dichtet«, ins Gesicht einen Thoren zu nennen? Lassen wir ihn nicht gewähren, als gehe nichts über seine Vernunft, und er thue ein hochverdienstliches, heiliges Werk, wenn er, Natur und Wissenschaft verspottend, Mündige zu schrecken, Unmündige, die Staatsgewalt zu Hilfe rufend, in den Dunstkreis zu zwingen sucht und zwingt, in dem es ihm wohlig ist aus Gründen, die alles andre, nur nicht ehrwürdig sind? Strecken wir willig die Arme aus, verlorene Kinder zum Himmel sittlichen Lebens aus einem Dasein voll Schmach und Schande emporzuheben? Gehen wir ihnen nicht scheu aus dem Wege, als brächte ihre Berührung schon untilgbare Befleckung? Fragen wir danach, ob nicht doch wohl Gehorsam in ihrem Gemüte ist – der fruchtbare Boden, in welchem schon der Keim schlummert, der, nur ein wenig gepflegt, tausendfache Frucht der Liebe bringen würde? Und wie können wir erwarten, je zum Augenblicke sagen zu dürfen: »Verweile doch, du bist so schön!« wenn wir uns ducken und beugen, wo und wann immer eine usurpierte Gewalt uns in den Weg tritt, und so freilich es nie erleben werden, »auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen?«

138 Ich weiß, es ist das heiße Sehnen des edlen Mannes, für den ich hier spreche; und daß er sein Blut in drei Kampagnen gern verspritzt haben will, wenn es für sein geliebtes Volk dermaleinst in Erfüllung geht. Und weiß weiter, daß er, wie auch ich, den Dichter, den er nach Herrn von Bronowskis Ansicht so gekränkt haben soll, hoch verehrt, sein edles Streben, sein großes Können aufrichtig bewundert. Ich habe es aus seinem Munde. Hat er den Traum-Goethe anders sprechen lassen, kann es nur aus einem Gedanken gewesen sein, den er ebenfalls gelegentlich gegen mich äußerte: Der Dichter ist der Spiegel seiner Zeit; Goethe ist es für das achtzehnte Jahrhundert gewesen. Für einen Dichter des neunzehnten, meine ich, sollte der Heroenkultus ein überwundener Standpunkt sein. Will er – und er muß es wollen – in seinen Bildern die machtvollen Ideen seiner Zeit zur Darstellung bringen und verkörpern, bleibt ihm nur ein Mittel: dem Volke zu geben, was des Volkes ist; dem Volke, das aus seinem brütenden Gehirn, aus seinem heißen Herzen diese Ideen zeugt, und dessen bloße, immerhin hochverdienstvolle Mandatare die Männer sind, die nur noch eine archaistische Weltanschauung und Geschichtsschreibung uns als Götter hinstellen können, welche aus nichts eine Welt schaffen.

Wilfrieds sonst weiche Stimme hatte während der letzten Worte einen starken metallenen Klang bekommen. Nun blickte er um sich, wie jemand, der, erwachend, nicht alsbald weiß, wo er sich befindet, und strich sich ein paarmal mit der Hand über die Stirn. Die lebhafte Röte, die, während er sprach, seine Wangen bedeckt hatte, war plötzlich verschwunden; die Finger auf die Stuhllehne krampfend, schien er sich noch eben aufrecht zu halten. Doch dauerte dieser ängstliche Zustand nur wenige Momente. Mit bleichen Lippen lächelnd, wehrte er Friederike ab, die im Bann seiner Rede näher und näher gekommen war, zuletzt 139 dicht neben ihm gestanden hatte und angstvoll nach seinem Arm faßte: Es ist nichts, Beste!

Dann zur Gesellschaft sich wendend, bat er um Entschuldigung, wenn er ihre Geduld länger in Anspruch genommen, als es irgend in seiner Absicht gelegen.

Meine Strafe soll sein, daß ich mich sofort zurückziehe und meinen etwas überreizten Nerven die Ruhe gönne, der sie bedürfen.

Er hatte Tante Adele die Hand geküßt, sich vor der Gesellschaft verbeugt, Friederike noch einmal freundlich angelächelt und sich rasch aus dem Salon durch die Vorzimmer entfernt, in denen mittlerweile ebenfalls die Lichter angezündet waren.

* * *


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