Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Sie hatten sich einander gegenüber in die Fauteuils gesetzt; der Fürst schenkte die Gläser voll:

Prosit, mein Junge! und nun wollen wir wieder einmal, wie wir es von jeher gethan, frei von der Leber weg uns gegeneinander aussprechen. Es ist Dir doch recht?

Ich habe keinen dringenderen Wunsch.

346 Konnt es mir denken. Und das ist auch der Grund, weshalb ich schon heute gekommen bin. Mir schien so etwas wie periculum in mora.

Sag mir offen, worin Du die Gefahr siehst. Ich werde Dir ebenso antworten.

Also: to begin with the beginning! das heißt: vorher muß ich doch bemerken, daß sowohl Onkel Reginald als Tante Adele mir die Ehre erwiesen haben, mich in ihr schätzenswertes Vertrauen zu ziehen. Ich habe ihnen geantwortet, daß ich zu dem Amt eines Richters, das sie mir aufdrängen zu wollen schienen, weder Beruf noch Neigung verspürte; und wenn sie durchaus meine Meinung wissen wollten, ich auch mit der zurückhalten müsse, bis ich mit Dir gesprochen. Erwähne ich nun noch die Briefe der lieben Friederike Ülbach an Margarete – Du weißt, welch vertraute Freundinnen die beiden Damen sind – so kennst Du die Quellen, aus denen ich meine Weisheit schöpfe. Mit Ausnahme der letzteren, die freilich die Lauterkeit selbst ist, recht trübe Quellen. So glaube ich kein Wort von den Beschuldigungen, mit denen man Dich wegen Deiner Entlobung überhäuft. Du bist nicht der Mann, unritterlich und frivol zu handeln. Hast Du mit Ebba gebrochen, so hat man Dich dazu gezwungen; so ist es Ebbas Frivolität, so ist es Onkel Reginalds und Tante Isabelles mir nur zu bekannte selbstische und ordinäre Gesinnung gewesen, die Dir keinen andern Ausweg aus einer unabsehbaren Misère ließen als die Zurücknahme Deines Wortes. Vielleicht wirst Du sagen: hättest Du doch früher so gesprochen! Aber ich war immer der Meinung: in die Herzensangelegenheiten eines andern – und selbst, wenn der andre der eigene Bruder ist – darf man sich nicht mischen. Da heißt es ein für allemal: selbst ist der Mann. Nachträglich freilich kann ich Dir nur zu Deinem Entschluß gratulieren. Und damit wollen wir diesen Punkt der Tagesordnung als erledigt betrachten. Bist Du's zufrieden?

347 Ob ich es bin! erwiderte Wilfried. Ich habe freilich auch nicht einen Augenblick gezweifelt, daß Du die Sache so nehmen würdest. Mein Dank ist deshalb nicht geringer. Und daß Deine summarische Behandlung mir die Mitteilung peinlicher Details erspart, ist eine Extra-Wohlthat, die einen speciellen Dank verdient.

Dann also Nummer zwei: der Fall Tante Adele. Hier bin ich – eben durch Fräulein Friederikes Mitteilungen an meine Frau – im Besitz, ich glaube, so ziemlich aller einschlägigen Details. Ich rate Dir also, mit einem so gut gerüsteten Gegner nicht anzubinden; vielmehr, von vornherein zu bekennen, daß er recht hat, und Du hingehen willst, Dein Unrecht schleunigst wieder gut zu machen.

Der Fürst hatte es lächelnd gesagt; auch Wilfried lächelte; aber in den Augen der beiden Brüder, wie sie sich jetzt prüfend anblickten, lag nachdenklicher Ernst, einer Wolke gleich, die sich nur ein wenig zu senken braucht, um die Sonne zu verhüllen.

Willst Du mir verstatten, Dir meinen Standpunkt in dieser Sache klar zu legen; sagte Wilfried. Wenigstens eine solche Klarlegung zu versuchen. Es wird das freilich so einfach nicht sein. Denn in das Zerwürfnis mit Tante Adele spielt etwas anderes hinein, das für mich von unendlich größerer Wichtigkeit ist. Und es mir unmöglich macht, in die Konzessionen zu willigen, die sie auf Antrieb meiner Feinde von mir fordert; und zu denen Ihr, die Ihr es gut mit mir meint, mich drängen möchtet und drängt.

Ich bin überzeugt, wir brauchen die Sache nicht so tragisch zu nehmen, sagte der Fürst, während Wilfried hastig sein Glas leerte und von neuem füllte. Wie ich Tante Adele kenne – und ich glaube, sie gut zu kennen – ist der Zorn, den sie affichiert, nichts als eine Komödie, die sie vor sich selbst und ihren Freunden aufführt; und aus der Ernst zu machen, sie niemals den Mut haben wird.

348 Wie es sich damit verhält, weiß ich nicht, erwiderte Wilfried. Möglicherweise ist es nur eine Komödie; möglicherweise ist es mehr. Aber darauf kommt es nicht an. Der Schwerpunkt liegt für mich ganz wo anders.

Lassen wir ihn vorläufig liegen, wo immer er liegt, sagte der Fürst. Statuieren wir die zweite Möglichkeit trotz ihrer, wie ich glaube, hohen Unwahrscheinlichkeit: die alte wunderliche Dame hält an der tollen Schrulle fest und enterbt Dich. Ja, Wilfried, das wäre für mich ein fürchterlicher Schlag. Du weißt, wie schwer ich an dem Faktum trage, Dich durch den Zufall meiner Erstgeburt von dem Familienvermögen ausgeschlossen zu haben. An dem weiteren, daß ich infolge der ungeheuren Schulden, mit denen unser Großvater das Majorat freilich nicht belasten konnte, dafür aber die Ehre der Familie desto schlimmer engagierte, vom ersten Augenblick an so gar nichts für Dich habe thun können, es wohl auch in Zukunft nicht imstande sein werde. Muß ich doch jetzt, nachdem ich endlich die Ellbogen nach jener Seite hin frei habe, zuerst einmal an meine Frau und die Mädels und den Kleinen denken! Und siehst Du, da ist es immer mein Trost in dieser schlimmen Zeit gewesen: wenigstens für Wilfried ist gesorgt. Er hat Dich, Gott sei Dank, nicht nötig. Ja, mehr: er wird, wenn Du früher sterben solltest, denen, welchen Du nichts hinterlassen konntest, als unsern alten Namen, eine Stütze sein. Wilfried, noch einmal: der Gedanke, es werde dereinst alles ganz anders kommen; die Misère, die jetzt ausnahmsweise und wahrlich nicht ohne seine eigene Schuld, in Onkel Reginalds Haus herrscht, für alle Falkenburgs als traurige Regel gelten – Wilfried, das kannst Du, das wirst Du mir nicht anthun. Dazu – wenn Du denn so gar nicht an Dich selbst denken willst – hast Du mich, hast Du Margareten und die Kinder zu lieb. Habe ich es Dir doch heute abend wieder von Deinen ehrlichen Augen abgesehen, wie lieb Du sie hast! So denn: gieb mir die Erlaubnis, zwischen 349 Tante Adele und Dir zu vermitteln! Eine Unterredung von fünfzehn – was sage ich! – fünf Minuten, und alles ist in die schöne alte Ordnung gebracht!

Mit herzgewinnendem Lächeln streckte er die Hand aus. Wilfried schüttelte traurig den Kopf.

Ich kann Deine Hand nicht nehmen, Dagobert, sagte er, und habe doch immer gemeint, ich könne Dir, zumal wenn Du mich so gütigst ansiehst, nichts abschlagen. Nun muß ich es doch. Es ist keine Phrase: ich würde, wenn es sein müßte, freudig mein Leben für Euch geliebten Menschen lassen. Ich wollte, es müßte sein, und ich wäre der Qual überhoben, in Deinen Augen lieblos, unbrüderlich zu erscheinen. Dagobert, Du wirst mich nicht elend machen wollen! Giebt es ein größeres Elend für einen ehrlichen Menschen, als gegen seine heiligste Überzeugung handeln zu sollen?

Von des Fürsten Gesicht war das Lächeln verschwunden. Er blickte mit tiefem Ernst, der aber nichts Finsteres hatte, vor sich nieder, wie denn auch aus seiner Stimme, als er, nach einigen Momenten die Augen hebend, wieder zu sprechen anhub, nur schmerzliche Enttäuschung herausklang.

So wären wir denn doch da angelangt, sagte er, wo für Dich der Schwerpunkt der Frage liegt. Ich hoffte, Du würdest die Festung ausliefern, nachdem die Außenwerke gefallen. Es hat nicht sein sollen. Deine Überzeugung also! Es ist natürlich die, welcher Du vorvorgestern in der Versammlung des Pfarrer Römer Ausdruck gegeben hast. Ich kenne Deine Rede nur aus den dürftigen Zeitungsreferaten; aber ihr Sinn ist mir verständlich genug und wird es für jeden sein, der ein Herz in der Brust und voll Schaudern in die fürchterliche Kluft geblickt hat, die zwischen der winzigen Minorität der beati possidentes und der ungeheuren Masse der Armen gähnt. Arm nicht bloß an irdischem Besitz und physischem Behagen – obgleich das schlimm genug ist – sondern, was 350 viel schlimmer: an geistigem Gut; an all den ästhetischen Genüssen und Freuden, ohne die uns anderen das Leben nicht lebenswert scheint. Ich finde es verächtlich, wenn sich die vom Glück Begünstigten damit herauszureden versuchen: die Armen in ihrer Unwissenheit und Bedürfnislosigkeit führten ja ein viel behaglicheres Leben als sie selbst, die von Sorgen, Schmerzen, Versuchungen und Leidenschaften heimgesucht würden, von denen jene keine Ahnung hätten. Mag sein, daß man es an einem Wintertage in seinem Pelz manchmal zu warm hat – wird es darum der Frierende weniger für einen Hohn halten, wenn man ihm zu seinen Lumpen gratuliert? Und wenn jeder, der kein hartgesottener Selbstling ist, den Nackten kleiden, den Hungernden sättigen möchte, und es ehrlich beklagt, daß Tausende und Abertausende leben und sterben ohne eine Ahnung der Herrlichkeit der Sixtinischen Madonna und der Venus von Milo; ohne die Wonnen zu kosten, die uns anderen aus dem Studium unserer großen Dichter und Denker fließen – die Zeit ist vorüber, in welcher der sogenannte gemeine Mann in seinem lichtlosen Elend stumpfsinnig so hinvegetierte und Gott dankte, daß er sein liebes Leben hatte. Ihm ist es jetzt nicht mehr ein liebes, es ist ihm ein abscheuliches, unwürdiges, für das er die upper ten thousand der Bildung und des Besitzes verantwortlich macht. Zweifellos wird er sie auch über kurz oder lang zur Verantwortung ziehen; und der trennenden Kluft werden die Schrecken einer Revolution entsteigen, wie sie so furchtbar die Menschheit noch nicht erlebt hat, wenn es nicht gelingt, sie – Du wirst sicher sagen: zu füllen. Ich sage: ihre schroffen Ränder so weit zu sänftigen, daß ein jetzt unmögliches Hinüber und Herüber möglich wird; ein Verständnis angebahnt wird zwischen denen, die sich jetzt nicht verstehen, und, weil sie sich nicht verstehen, voreinander fürchten, einander schmähen und hassen. Das aber kann nur das Resultat und die Frucht mühseliger, geduldiger Arbeit sein. Du, wenn ich Dich 351 recht verstehe, möchtest diesen Prozeß abkürzen, an die Stelle der langwierigen Arbeit eine schnelle heroische That setzen. Aber, Wilfried, der Abgrund auf dem Forum schließt sich nur in der Sage über einem opferfreudigen Curtius; in der Wirklichkeit mag immer noch ein heldenmütiger Mann den Todessprung wagen – der Abgrund bleibt deshalb so weit und so tief, wie er vorher war.

Wenn dem so wäre, sagte Wilfried mit trübem Lächeln, hätte Christus den Leidensweg nach Golgatha nicht zu gehen brauchen.

Mit dem Gottmenschen darf sich keiner vergleichen, erwiderte der Fürst lebhaft. Und ist der persönliche Vergleich ausgeschlossen, so kann man auch unsere Zeit mit der, in welcher das Christentum entstand, nicht ohne starke Einschränkungen in Parallele bringen wollen. Der alte Polytheismus; die überkommene gesellschaftliche Ordnung mit ihrer schroffen Scheidung zwischen Freien und Sklaven; die angestammte hochmütig brutale Unterscheidung von Hellenen und Barbaren, vollberechtigten römischen Bürgern und halb oder ganz rechtlosen Schutzbefohlenen, sie hatten gründlich abgewirtschaftet. Die Geister lechzten nach dem erlösenden Wort, und in der bangen erwartungsvollen Stille, die über der gedrückten Menschheit lag, fand es, als es gesprochen war, eine ungeheure Akustik. Hat es sich trotzdem nicht jahrhundertelang mit spärlichen Früchten begnügen müssen? Und, wenn die Saat dann reichlicher aufging, wieviele Feinde, Schädiger und Verwüster hat sie nicht gehabt und hat sie bis auf den heutigen Tag? Gerade die Geschichte der Ausbreitung des Christentums, deucht mir, sollte uns darüber belehren, wie langsam Gottes Mühlen mahlen.

Leider, fiel Wilfried dem Bruder ins Wort. Aber ich meine, die Räder werden sich schneller drehen, wenn ein schärferer Wind sie umtreibt. Und dieser Wind weht heute durch die Welt; er heißt Gerechtigkeit.

352 Das in Deinem Munde doch wohl nur ein anderes Wort für Nächstenliebe ist, sagte der Fürst.

Durchaus nicht, rief Wilfried. Mir scheint es vielmehr ein andrer Begriff; ein gedankliches Produkt, wie die Liebe eines des Gemütes ist; eine sittliche Potenz, um so viel mächtiger, als jene, als das Denken über dem Fühlen steht. Der Appell an das Gefühl, wie oft findet er keinen Widerhall! Wo nichts ist, hat eben auch der Kaiser sein Recht verloren. Feinheit der Empfindung kann man von dem Menschen so wenig fordern wie künstlerische Begabung. Daß er logisch denkt, kann man und muß man von ihm verlangen. Und logisch denken, heißt, sich in das Rechte hineindenken. Das Rechte aber für das Verhalten der Menschen zu einander ist die Gerechtigkeit. Sie geht mit stolzerem, sichererem Schritte durch die Welt, als die Liebe. Durch nichts läßt sich beweisen, daß man seinen Nächsten lieben, wohl aber läßt sich bis zur Evidenz darthun, daß man gegen ihn gerecht sein muß. Zur Liebe kann man niemand zwingen, zur Gerechtigkeit kann man es. Wehe dem, der auf den Zwang wartet! Aber ihm ist nicht zu helfen und er wird sich gefallen lassen müssen, daß man ihn als einen Unmündigen behandelt und ihm sein Verhalten vorschreibt, wie dem, der nicht zu begreifen vermag, daß zweimal zwei vier ist. So denn wird in Zukunft die Sache der Armen und Elenden nicht mehr der Willkür, dem privaten Wohlthätigkeitssinn und individuellem Mitleid ausgeliefert sein, sondern als eine der öffentlichen Ordnung betrachtet und geregelt werden. Daß, wer Menschenantlitz trägt, Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein hat, wird als so selbstverständlich gelten, wie, daß, wer einmal geboren ist, auch muß atmen dürfen.

Ich gebe jeden Deiner Sätze zu, erwiderte der Fürst. Aber so einfach und leicht begreiflich der Satz, daß zweimal zwei gleich vier, so kompliziert und schwierig ist die arithmetische Wissenschaft, die doch auf ihm als ihrem 353 Fundament steht. Und nicht minder kompliziert, schwierig und langwierig wird sich der Prozeß gestalten, aus dem Fundamentalsatz der Gerechtigkeit, wie Du ihn eben formuliert hast, die praktischen Konsequenzen zu ziehen. Denn, recht betrachtet, ist die ganze Menschheitsgeschichte von ihrem dunklen Anbeginn eben dieser Prozeß, und wird es bleiben bis in alle unabsehbare Zukunft. Wir Menschen von heute stehen mitten darin. Das hat ja auch die Socialdemokratie, zu deren Doktrin Du Dich zu bekennen scheinst, in ihren helleren Köpfen längst begriffen; und sie ist, in Deutschland wenigstens, auf dem besten Wege, sich aus einer revolutionären in eine Reformpartei umzuwandeln. Sehr vernünftigerweise! Ihre vielgepriesene sociale Republik hat heute bei uns die möglichst ungünstigen Chancen. Mag in den Augen der Socialdemokraten Bismarck der wahre Antichrist sein und die Kultur, wie sie sie sich – ohne Königtum und dessen obligate Korrelate: Adel und Kirche – denken, um Jahrhunderte zurückgeworfen haben – die Thatsache, daß er den Traum der deutschen Einheit erfüllt und der Deutsche sich dessen freut und stolz darauf ist, müssen sie einräumen. Und die Utopie der Völkerverbrüderung? Vielleicht verhält es sich mit den entgegengesetzten Prinzipien der heutigen schroffen Accentuierung der Nationalität und der von den Socialdemokraten postulierten Solidarität der Menschheit, wie mit dem Kampf der mittelalterlichen Eisenrüstungen gegen die Feuerwaffen. Niemals waren diese Rüstungen schwerer als bis man einsah, daß keine schwerste gegen die Gewalt der Geschosse aus Feldschlangen und Arkebusen schützte. Aber auch zu dieser Einsicht bedurfte es der Zeit. Und siehst Du, Wilfried, ein anderes Verlangen stelle ich nicht an Dich, als daß Du der Macht der Zeit vertraust, die ihre Arbeit schon thun wird, vorausgesetzt, daß wir die Hände nicht in den Schoß legen. Das sollst Du nicht. Im Gegenteil! Die Schulter ans Rad stemmen mit aller Kraft, über die Du verfügst. »Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, 354 sind ihre Kräfte nicht die meinen?« Du hast es in der Hand, ob Du die Hengste sollst zahlen können, oder nicht; ob Du ein reicher, oder armer Mann sein willst. Zugegeben, daß es dem Reichen schwer wird, in das Himmelreich zu kommen; desto rühmlicher für ihn, wenn er es fertig bringt. Ich will nicht prahlen; aber ich glaube, ein ganz übel gewähltes Beispiel bin ich nicht, daß man zu den Aristokraten gehören und doch ein Herz für das Volk haben kann. Und, Wilfried, Du mußt mir schon die brüderliche Freiheit verstatten, Dir zu sagen: Du läßt Dich von Deinem guten Herzen über Deine Kraft täuschen. Du wirst es beim besten Willen nicht fertig bringen, mit den Socialdemokraten Hand in Hand zu gehen. Deine ästhetische Natur, Deine Erziehung, Deine Bildung, das Milieu, aus dem Du hervorgegangen und dem Du angehörst – alles sträubt sich dagegen. Den Willkomm, den Dir der Vorwärts für Dein Auftreten in jener Versammlung entboten hat, darfst Du nicht ernsthaft nehmen. Natürlich reibt man sich vergnügt die Hände, wenn einer aus unserm Lager zu ihnen übergeht, und zurückweisen wird man Dich sicher nicht. Aber ebensowenig Dir jemals volles Vertrauen schenken; jemals etwas anderes in Dir sehen als einen, der mit dem Makel des Renegatentums behaftet ist. Du willst aufbrechen?

Es ist spät, sagte Wilfried, den Fauteuil zurückschiebend; Ihr werdet von der Reise ermüdet sein. Und, offen gestanden, ich fürchte, je länger wir so fort disputieren, um so fester wird nur jeder auf seinem Schein bestehen.

Ich hoffte bestimmt, unsre Zusammenkunft würde ein anderes Resultat haben, sagte der Fürst traurig. Da wirst Du denn auch wohl nicht wünschen, daß ich morgen, wie ich es vorhatte, zu dem mir, wie Du weißt, befreundeten Justizminister gehe und mit ihm über die Versammlungsangelegenheit spreche?

Auf keinen Fall! rief Wilfried. Wenn es in Deutschland Rechtens ist, daß jemand zur Verantwortung gezogen 355 und in Strafe genommen wird, weil er den Mut gehabt hat, öffentlich auszusprechen, was die stille Überzeugung von Millionen seiner Mitbürger ist – so lange diese wunderliche Sorte von Gerechtigkeit besteht, mag sie ihren Lauf haben.

Wilfried, Wilfried! sagte der Fürst, sich langsam von seinem Sitze hebend, Du bist auf einem Wege, der zu Deinem Unheil führt, ohne daß der Sache, die Du zu der Deinen gemacht hast, auch nur der geringste Vorteil daraus erwächst. Eine Verhandlung vor den fünf Mitgliedern einer preußischen Strafkammer hat nicht ganz die Resonanz in der Geschichte, wie eine vor dem Reichstage von Worms.

Ich glaube, ich habe Dir keine Veranlassung zu dem wenig schmeichelhaften Verdacht gegeben, daß mein Ehrgeiz dahin steht, meine Handlungen berühmten Mustern anzupassen.

Nachdem Du Christus in die Debatte gezogen hattest, war es mir wohl erlaubt, an Luther zu erinnern.

Mein Citieren Christi hatte keinesfalls einen persönlichen Beigeschmack.

Du hattest recht: es ist wohl besser, wenn wir unsre Unterredung abbrechen.

In diesem Augenblick trat die Fürstin herein. Im Nebenzimmer hatte sie aus den immer erregter werdenden Stimmen der Männer gehört, daß das Gespräch die von ihr befürchtete schlimme Wendung nahm. Sie war bereits zu spät gekommen. Darüber belehrte sie ein schneller Blick in das gerötete Gesicht ihres Gatten, das bleiche des Schwagers. Und wunderlich berührte es sie, gerade jetzt zu entdecken, wie unähnlich sich die Brüder waren, von denen alle Welt behauptete, sie glichen sich zum Verwechseln – unähnlich, wie es nur immer ein Mann der klaren, ruhigen Vernunft und ein Schwärmer sein konnten. Hier gab es keine Vermittelung; hier galt es nur, zu verhüten, daß der Bruch nicht noch größer wurde.

356 Mit scheinbar unbefangener Miene entschuldigte sie sich, daß sie die Herren so lange allein gelassen; schalt den Gatten, weil er gegen das Verbot des Arztes doch wieder am späten Abend geraucht zu haben scheine; und kam dann auf das Programm des morgenden Tages zu sprechen. Geheimrat von Bergmann habe sich auf zehn Uhr angemeldet; Gott wolle geben, daß sein Urteil günstig laute! Auf eine Behandlung von Wochen mache sie sich freilich auch im besten Fall gefaßt. Und dann müsse ihr Wilfried eine passende Wohnung suchen helfen; einen so langen Aufenthalt in dem teuren Hotel mit so vielen Personen könne sich ein armer deutscher Fürst nicht leisten. Ob Dagobert dem Bruder gesagt habe, daß er bereits in den nächsten Tagen nach Falkenburg zurück und Frau und Kinder unter seiner Obhut in der schrecklichen großen Stadt lassen müsse? Nun, das und noch so vieles könne man ja, wenn Wilfried durchaus schon fort wolle, morgen des näheren besprechen. Ob es ihm recht sei, um fünf Uhr mit ihnen zu speisen? Aber in einem Restaurant, wenn sie bitten dürfe! Sie sei noch nie in einem gewesen, und brenne darauf, eines jener berühmten Lokale kennen zu lernen, von denen man in jedem modernen Berliner Romane lese.

Es kam das alles munter genug heraus, und die Herren bemühten sich in den Ton einzustimmen. Es gelang Wilfried am besten, während Dagobert immer sichtbarer unter einer starken Abspannung litt.

So denn beschleunigte Wilfried den Abschied, nachdem er zugesagt, die Verwandten um fünf Uhr aus dem Hotel abzuholen.

Er hatte kaum den Salon verlassen, als der Fürst nach dem nächsten Sessel schwankte und, die Hand aufs Herz drückend, schmerzlich stöhnend dort zusammensank.

Die erschrockene Fürstin wollte nach der Klingel eilen; er hielt sie an der Hand, die er krampfhaft ergriffen hatte, zurück.

Nicht doch! murmelte er. Es ist nichts – das dumme 357 Herz, das wieder einmal rumort. Ein wenig Eau de Cologne – Riechsalz, oder was Du hast!

Die Fürstin rannte in das Schlafgemach nebenan. Es brannte Licht dort, und, da die Kammerfrau die Sachen ausgepackt hatte, fand sie auf dem Toilettetisch sofort das Gesuchte. In einer halben Minute war sie wieder bei ihrem Gatten.

Verzeihe, daß ich Dich so erschreckt habe! sagte er mit einem Versuch zu lächeln. Es ist schon völlig wieder gut.

Plötzlich legte er den Kopf an ihre Brust und brach in Weinen aus.

Mein armer, armer Wilfried, schluchzte er. Der arme, liebe Junge!

* * *


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