Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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203 Am nächsten Morgen erwachte Wilfried aus einem beängstigend schönen Traum.

Wieder war er über ein blaues Meer, das sich endlos unter ihm breitete, dahingeschwebt, der Robinsoninsel zu, dem ewigen Ziel seiner Sehnsucht. Diesmal aber nicht allein. Ein ätherisches Wesen schwebte neben ihm: Lotte, und sie hielten einander an den Händen und er blickte in ihre strahlenden Augen. Die lächelten Liebe, und Liebe lächelte ihr Mund. Da tauchten dunklere Wolken aus dem Meeresblau, und er sagte: Sieh, Lotte, das ist unsere Insel; wie selig werden wir sein! Und wie er das gesagt, begann die Äthergestalt zu zerfließen. Er wollte sie halten und griff in die leere Luft. Verzweifelt rief er ihren Namen. Über dem lauten Ruf war er erwacht.

Aber das zerflatternde Ende des Traumes gab er gern in den Kauf für dessen eigentliche Substanz: das Schweben Hand in Hand mit ihr, deren holdes Antlitz von Liebe durchglänzt war. Dem Abglanz der Liebe, die sein Herz erfüllte, wie Sonnenlicht den Frühlingsmorgen. Er mußte in den Morgen, in das Licht; es heute mit seiner Toilette so eilig nehmend, daß Zunz abermals Grund zum Staunen hatte, um so mehr, als der Herr Graf den Reitanzug anlegte und eiligst die Wohnung und das Haus verließ, während doch noch gute anderthalb Stunden an der Zeit fehlten, in welcher er mit der gnädigen Komtesse seinen Morgenritt zu machen pflegte.

Wenn keine besondere Absage stattgefunden hatte, trafen sich Wilfried und Ebba regelmäßig Punkt acht im Reitstall. Der Stallmeister war verwundert, daß der Herr Graf, als ihm sein Brauner vorgeführt wurde, und er ihn fragte: ob Komtesse heute nicht komme? ein kurzes: Ich weiß es nicht, erwiderte und abgeritten war, ohne auch nur zu sagen, wohin.

Wilfried, der die stutzige Miene des Stallmeisters ebenso bemerkt hatte, wie vorhin die seines Zunz, lachte in sich hinein, als er jetzt, auf dem Reitweg des Kurfürstendammes 204 angekommen, den Wotan in schlanken Trab setzte: Ihr seid nur die ersten; es werden sich noch viele wundern.

Seine Seele war voll eitel Glück. Jetzt erst fühlte, wußte er, wie entsetzlich schwer die Last gewesen, die er mit sich herumgeschleppt; welchem namenlos großen Unglück er entronnen war. Ein Leben an ihrer Seite, deren völlige Herzensleere, deren bodenloser Egoismus und cynische Frivolität der gestrige Abend in einer Klarheit aufgedeckt, daß auch ein Blinder hätte sehend werden müssen, geschweige er, der das alles in trübem Herzen längst geahnt – war ein Furchtbareres zu erdenken?

Und was hatte ihn vor dem Sturz in den Schreckensabgrund gerettet? Die eigene Kraft? Nimmermehr! Er wäre wohl trotz alledem hineingetaumelt um ein paar schmeichlerisch begütigende Worte, ein paar verführerische Blicke, buhlerische Küsse. Was ihm das Herz fest gemacht, seinem Zorn die rechte Kraft gegeben, seinen Entschluß gestählt, den Cancan der Gesellschaft, den er jetzt entfesselt, so verächtlich erscheinen ließ: sie war es, mit der er im Traume Hand in Hand und Aug' in Auge geflogen war über des Lebens ödes Meer, entgegen seiner Zauberinsel, die schon den Knaben allmächtig gelockt und sich dem Mann in ihrer ganzen Paradiesesherrlichkeit erschließen mußte.

Und er murmelte andächtig die Verse Longfellows vor sich hin:

The boy's will is the winds will,
And the thoughts of youth are long, long thoughts –

Wotan, der unter seinem nachdenklichen Reiter längst in beschaulichen Schritt gefallen war, wurde durch einen kräftigen Schenkeldruck an seine Pflicht erinnert, die, wie er finden sollte, heute keine ganz leichte war. Denn als letztes Ziel erwies sich nicht, wie sonst wohl, die Saubucht; es ging weiter durch den Wald, bis zu dem hohen Ufer der Havel. Da hielt Wilfried, daß sich das edle Tier 205 verschnaufen möge, und blickte lange träumend über den breiten, glitzernden Fluß in die sonnige Landschaft. Großer Gott, wie schön war heut die Welt! So mußte sie dem Kaiser Heinrich erschienen sein, als er am Vogelherd saß und ihm die edlen Herren des Reiches Krone brachten!

Im Sattel sich hebend, die Zügel auf den Hals des Pferdes fallen lassend und beide Arme weit ausbreitend, rief er laut in den hellen Morgen hinaus: Nicht um eine Krone und alle ihre Herrlichkeit!

Er hatte die Zügel wieder in der Hand und wollte den Wotan hügelabwärts wenden, als er durch die Stille ringsumher, die das sanfte Rauschen des Windes in den Gipfeln und das gedämpfte Zwitschern der Vögel noch stiller und feierlicher zu machen schien, Gelächter und rasch zwischen Männer- und Frauenstimmen wechselnde Worte unweit im Walde hinter sich vernahm. Es mußte eine ganze Kavalkade sein, die eben im Galopp über festeres Terrain ritt, wie er aus dem lauteren, vielfachen Hufschlag schließen konnte. Ihm war die Störung peinlich, besonders wenn er dachte, daß die Herrschaften hier auf seinem Hügel landen würden. Aber der Schall zog sich nach links in der Richtung auf einen zweiten, etwas niedrigeren Vorsprung, der eine breitere Fläche bot. Die Gesellschaft mußte einen terrainkundigen Führer haben. Oder eine Führerin – die Dame, die jetzt, als die erste, aus dem Unterholz auftauchte, die Anhöhe mit einem Hop! allez! hinaufjagte, das Pferd herumwarf und den Nachfolgenden, mit der Reitpeitsche salutierend, ein triumphierendes: Me voilà! entgegenschrie – Ebba!

Er hatte sie auf den ersten Blick erkannt an dem rotblonden Haar, dessen Knoten der rasche Ritt gelockert hatte, daß ein paar Strähnen über den schlanken Rücken herabflossen. Jetzt wurden auch die andern schnell nacheinander sichtbar: als der erste Leßberg, der weit genug voraus war, um Ebbas ihm entgegengestreckte Hand ein paarmal zu küssen; dann Bronowski und Frau von Haida; dann zwei 206 junge Offiziere, die Wilfried gestern abend ebenfalls in der Gesellschaft gesehen hatte. Die Entfernung zwischen seinem Standpunkt und dem zweiten Hügel war so gering – er konnte in der hell von der Sonne beleuchteten Gruppe jedes Detail deutlich erkennen; aber jetzt einzelne Worte nicht mehr verstehen, da alle auf einmal durcheinander zu sprechen schienen. Der Eifer, mit dem man sich lachend und lärmend unterhielt, war wohl der Grund, weshalb man ihn nicht bemerkte, den die wenigen schlanken Fichtenstämme, die sich dazwischen schoben, kaum verdeckt haben würden. Auch ließ er den Herrschaften nur kürzeste Zeit, den unbequemen Zuschauer ausfindig zu machen. Dann hatte er den Braunen auf der entgegengesetzten Seite hügelabwärts gelenkt und war im Walde verschwunden.

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