Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Für das, was so, nach dem Lichte drängend, geheimnisvoll still in seinem Busen sproßte und trieb, hätte er keine sympathischere, verständnisinnigere Seele finden können, als Friederike. Sie war auf Margaretes Bitten gekommen, ihr zum Trost, den Kindern zur Freude, allen, die mit ihr in Berührung kamen, ein klarer, milder Sonnenschein. Nur den Ton ihrer sanften Stimme zu hören, war lieblicher Genuß.

Wilfried konnte sich nicht daran ersättigen: Sprechen Sie doch, Friederike, bat er; es ist ganz gleich, was. Ich will nur Musik haben. Ich weiß jetzt, weshalb Saul so nach Davids goldenen Harfenklängen verlangte.

Er kannte sie, die mit ihm im gleichen Alter stand, seitdem er, ein sechsjähriger Knabe, in Tante Adeles Haus und Obhut kam. Sie hatten zusammen gespielt, gelernt; früher und später wie Geschwister zu einander gestanden: Anteil aneinander genommen: sie an seinen Studien, er an der Ausbildung ihres poetischen und musikalischen Talents; sich ihre Herzensgeheimnisse ohne Scheu anvertraut: sie ihre Liebe zu einem Offizier, mit dem sie halb verlobt war, und der dann sie, das geistvolle arme Mädchen, einer ebenso dummen wie reichen Gutsbesitzerstochter 454 wegen sitzen ließ; er ihr seine frühe Leidenschaft für Ebba, der sie das Wort redete, wenn er auf die kleine Kokette wütend war, die den Zauber ihrer glänzenden braunen Augen und ihrer üppigen rotblonden Locken schon als Backfisch so unheimlich gut kannte.

Dann war der verhängnisvolle Montagabend in Tante Adelens Goethekränzchen gekommen und – all das andre.

Was wußte sie von dem andern?

Er hätte es gern herausgebracht; sie wich, wenn er den Versuch dazu machte, in ihrer klugen, feinen Weise aus, bis er, plötzlich wieder in das Du zurückfallend, das sie, seitdem sie erwachsen, der Welt wegen aufgegeben hatten, rief:

Das ist nichts, Friederike! Das klingt, als wolltest Du mir Bekenntnisse ersparen, deren ich mich zu schämen hätte.

Nein, Wilfried, erwiderte sie, aber die zu machen, Dir peinlich sein wird.

Was daran peinlich ist, habe ich nicht verschuldet. Es ist der Erdenrest, der uns allen zu tragen bleibt. Ich gebe zu, daß er schwerer auf mich drückt, als ich manchmal tragen zu können meine.

Und er erzählte in der Abendstunde, als die Sonne hinter die blauen Harzberge tauchte und die Amseln ihr melancholisches Lied auf den hohen Tannenwipfeln sangen, auf den glatten Parkwegen langsam mit ihr auf und ab wandelnd, die Geschichte seiner Tage von dem Montage bei Tante Adele bis zur Nacht seiner Abreise aus Berlin.

Er hatte mit der redlichsten Absicht begonnen, alles zu sagen, nichts zu verschweigen. Da er selbst die Freundin zu dieser Beichte eingeladen, zuletzt gedrängt hatte, galt ihm das als einfache Pflicht.

Und ihre Erfüllung wurde ihm leicht, solange es sich um Lotte direkt handelte. Da floß sein Herz über; er konnte die Worte nicht finden, ihre Schönheit, ihren klaren 455 Verstand, den Adel ihrer Gesinnung würdig zu preisen. Aber durfte er dieser seinen hochgesinnten Seele den tiefen Widerwillen bekennen, den er gegen Lottes Vater von jener ersten schrecklichen Scene in der Kellerwohnung bis heute empfand? Wie verächtlich und lächerlich ihm die Damenallüren waren, die sich die ehemalige Kammerzofe seiner Mutter zu geben suchte? Die elenden Chicanen, mit denen ihn Frau Rehbein und Tochter in den ersten Tagen verfolgt hatten? Das humoristische Mäntelchen, in das er diese Partien zu kleiden suchte, war so fadenscheinig, wollte so nirgend recht reichen, er ließ es zuletzt verzweifelt fallen und bekannte offen, er sehe eine Rettung aus dieser Misère nur in der gänzlichen Trennung Lottes von ihren Eltern.

Zu der Lotte niemals ihre Einwilligung geben wird, und wie die Dinge traurig liegen, auch nicht geben kann, erwiderte Friederike. Ist es doch nur zu gewiß, daß der Vater, sobald sie die Hand von ihm zieht, in sein altes Laster zurückfallen und schmählich zu Grunde gehen wird!

Aber hat sie verhindern können, daß ihre Schwester auf so schlimme Abwege geriet und ihr Bruder zum Diebe wurde? rief Wilfried erregt.

Friederike blieb stehen und blickte ihn aus den großen blauen Augen traurig an.

Wilfried, solltest Du wirklich nicht fühlen, daß dies für ein so edelmütiges Geschöpf, wie du sie schilderst und sie sicher ist, nur ein Ansporn sein kann, ihre ganze Kraft aufzubieten, um zu retten, was noch vielleicht zu retten?

Dann aber muß ich an ihrer Liebe zweifeln.

Wiederum nicht mit Recht. Du verwechselst da Liebe mit Leidenschaft. Die Leidenschaft freilich kennt keine andere Pflicht, als sich selbst zu leben; die Liebe weiß, daß sie auf Kosten der Pflichten, die wir gegen die andern haben, nicht bestehen kann. Ehe sie die preisgiebt, opfert sie sich selbst.

Wilfried empfand tief den Stachel, der, der Freundin unbewußt, für ihn in ihren letzten Worten lag. Hatte er 456 doch in diesen Tagen bereits so schmerzlich gelitten unter dem Widerstreit seiner Liebe mit den Pflichten gegen seine Familie!

Und, wenn er die innere Unruhe zu beschwichtigen suchte mit dem Einwand: es handle sich nicht allein um seine Liebe, sondern in erster Linie um seine politischen und sittlichen Überzeugungen – er hatte zu seinem Schrecken bemerkt, wieviel sie in den wenigen Tagen an Kraft verloren hatten, hier, wo altgewohnte Verhältnisse ihn umgaben; er im Schoße der Familie, die er jetzt erst recht die seine nennen mußte, sich so angeheimelt fühlte; von den Wänden der prächtigen Säle die langen Reihen seiner Vorfahren auf ihn herabsahen.

So wagte er auch jetzt nicht, seinen letzten Trumpf gegen die Freundin auszuspielen.

Sie kehrten schweigend, er für sein Teil tief verstimmt, in das Schloß zurück.

Aber die Verstimmung schwand, als er nach der Abendmahlzeit auf der Terrasse, seine Cigarre rauchend, langsam auf und nieder schritt, und aus den offenen Fenstern des Salons die feierlichen Accorde einer Beethovenschen Sonate zu ihm kamen.

Er nannte sich unmusikalisch; nur wenn Friederike spielte, glaubte er jeden Ton zu verstehen.

* * *


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