Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Während der Stunde, die er oben bei der Dulderin verbrachte, hatte unten das Fest seinen Fortgang genommen. Nicht ganz nach dem von Else entworfenen Programm. Danach sollte aus dem dritten der Tänze, dem 308 Blumenwalzer, ihre schöne Cousine als Königin hervorgehen, um dann im Triumph von der ganzen Gesellschaft durch den Garten zu ihrem Thron geleitet zu werden. Aber bereits in der Pause zwischen dem ersten und zweiten Tanz, einer Quadrille à la cour, war Chlotilde aus dem Ballsaal verschwunden. Ein Diener wollte das gnädige Fräulein vor fünf Minuten mit dem Taschentuch vor dem Gesicht über den unteren Flur die Treppe hinauf haben gehen sehen. Else eilte selbst nach oben und fand sie unter den Händen ihrer Fifi in einem Zustand, der von Weinkrampf nicht weit entfernt war. Auf ihr Bitten und Flehen, zu sagen, was denn nur um Himmels willen geschehen sei? kam zuerst keine Antwort und dann mit einer Leidenschaftlichkeit, die sie der Lässigen niemals zugetraut hätte: der, mit dem sie hätte tanzen wollen, sei gegangen, und mit dem andern wolle sie nicht tanzen. Mit ihm nicht und mit keinem sonst. Überhaupt sei das Leben scheußlich; sie habe es satt und sie wolle sterben. Dies unter vielem Schluchzen in stoßweisen, kaum verständlichen Worten, während Fifi mit ihrer schrillen Stimme dazwischen rief: Oh, mon dieu! mon dieu! vous l'avez entendu: elle veut mourir! elle veut mourir! Et vous, cruels Allemands, vous l'avez tuée.

Else wußte nicht, ob sie lachen oder wütend werden sollte. Zeit sich darüber zu entscheiden, hatte sie nicht. Unten wartete die Quadrille auf sie. Den Trost, daß Wilfried wiederkommen werde, – wen anders als ihn konnte Chlotilde meinen? – vermochte sie der Verzweifelten nicht zu spenden, da Arthur ihr von dem Besuch, den jener in dem andern Flügel des Hauses der Mutter abstattete, nichts gesagt hatte, und sie ebenfalls annahm, er habe die Gesellschaft bereits verlassen, wie er denn auch sonst sich früh zu entfernen pflegte. Das Fest war freilich Chlotilde zu Ehren arrangiert; aber es war nun einmal im Gange, und wenn sie die verlassene Elvira tragieren 309 und nicht weiter mitspielen wollte, in einem vollständigen Fiasko enden durfte es nicht.

Mit den Worten: hoffentlich kommst Du wieder zur Vernunft und nach unten. Ich kann nicht länger an Dir herumtrösten, eilte sie zum Zimmer hinaus, die Treppe hinab, in den Ballsaal zurück.

Dort hatte sich die Quadrille, die bereits halb formiert war, wieder aufgelöst. Weshalb auch noch erst die Quadrille, da alle Welt ins Freie begehre? Man möge doch nur gleich den Blumenwalzer folgen lassen und damit Schluß!

Es war Arthur, der das halb vorgeschlagen, halb dekretiert hatte. Er fand allgemeinen Beifall. Auf Elses Erklärung, daß Chlotilde sich infolge eines nervösen Anfalls, hoffentlich nur auf kurze Zeit, habe zurückziehen müssen, achtete kaum einer. Der Blumenwalzer, für den sich schon jeder Herr seine Dame gesichert hatte, – Else tanzte ihn mit Falko, Frau von Haida mit Bronowski – nahm nach den Klängen der »Blauen Donau« seinen Anfang. Es wurde rasend getanzt. Als dann einem schon vorher erwählten Schiedsgericht von drei Herren die Damen ihre erhaltenen Bouquets auslieferten, durfte Frau von Haida einen glänzenden Sieg feiern; selbst Else konnte kaum die Hälfte der Bouquets zur Strecke bringen, wie der von dem Offizierskreise lancierte, mit jubelndem Beifall aufgenommene Ausdruck lautete.

Nun unter Vorantritt der Musik, die den Tannhäusermarsch spielte, Umzug durch den inzwischen bis in die fernsten Ecken und dichtesten Bosketts festlich erleuchteten Garten. An der Spitze des Zuges vier der jüngsten Damen, die aus großen Körben Blumen auf den Weg streuten für die Königin, welche ihnen an der Hand Bronowskis folgte. Hinter der Königin paarweise die lange Schar der Gäste: phantastische, abenteuerliche Erscheinungen: die Herren kleidsame Papierbaretts, mit denen sie bereits den Blumenwalzer getanzt hatten, auf den Köpfen; die Damen mit 310 bunten Shawls und Tüchern, schwarzen und weißen Schleiern aus Elses auf ihren Reisen sammelwütig zusammengebrachten Garderobestücken wunderlich ausstaffiert. Endlich Installierung der Königin auf ihrem Thron, einem vergoldeten, mit Blumen umwundenen Rokokoprachtstück aus der Sammlung des Kommerzienrats, unter einem rotseidenen Baldachin; rechts und links die vier Ehrenjungfrauen. Bengalische Beleuchtung; mächtiger, wiederholter Tusch der Musik. Vorüberdefilieren der Gesellschaft am Thron unter tiefen Verbeugungen der Herren und Hofknixen der Damen, von der Königin mit anmutvollen Neigungen des mit einer Krone geschmückten Hauptes erwidert.

Sie hatte ihrem Kavalier Bronowski gewinkt, war an seiner Hand die Stufen hinabgestiegen. Im Nu war der Thron verschwunden. Da, wo er geprangt, stand die anmutig schlanke Gestalt Sandners. Es bedurfte auch keines Geringeren, um in diesem Stadium die Aufmerksamkeit der Gesellschaft noch einmal auf einen Punkt zu sammeln, und so hatte man auf die projektierte Mitwirkung der Sängerin verzichtet. Aber Sandner, wo und wann auch immer sein feines, geistreiches Gesicht erschien, durfte der Wirkung sicher sein. Wie vorhin die Königin von den Herren angejubelt war, so jetzt der interessante Mime von den Damen. Des tollen Klatschens, des frenetischen Bravorufens, bevor er noch ein Wort gesprochen, wollte schier kein Ende nehmen, bis er, mit einer großen Geste den rechten Arm ausstreckend, die hochgehenden Wogen des Enthusiasmus seiner Verehrerinnen, wie mit einem Zauberschlage, bändigte und dem Sturm lautlos tiefe Stille folgte.

Und nun der vibrierende Klang seiner Wunderstimme die schweigenden Räume des Gartens bis in ihre Tiefen füllte. Nichts Sentimentales heut, keine Carlos- und Romeotöne: kecke Reiterstücke Detlevs von Liliencron, wie Fanfaren schmetternd; drollige Schwänke Heinrich Seidels, Peter Roseggers, wie Schellengeklingel eines übermütigen 311 Schalks; und dann: Als Schluß, meine Herrschaften, von einem Autor, der nicht genannt sein will:

Der Salonsocialist.

        Ich wär' so gerne waschecht demokratisch
Mit einem kecken Stich ins Sociale.
Da glaubt man doch noch an das Ideale
(Die Anarchisten sind mir zu fanatisch);

Da redet man mit Herzton noch, emphatisch;
Da gilt der biedre Kern noch, nicht die Schale;
(Wer andrer Meinung ist, fliegt aus dem Saale)
Nur eines bleibt mir äußerst problematisch:

Den schnöden deutschen Sekt, ich trink' ihn nie;
Ich rauche nur Cigarren fraglos echt;
Mein Rock nach neuestem Schnitt zu jeder Frist.

So irr' ich, ach! durch die Demokratie,
Wo einem billig, was dem andern recht,
Als putziger Salonsocialist.

Das Sonett erntete einen ungemessenen Beifall; und wirklich war der Vortrag meisterhaft gewesen: im decent schnarrenden Tone eines jungen, vornehmen Herrn, der durchaus nicht weiß, was er will. Und der Inhalt! Nachdem bereits die Morgenblätter kürzere, die Abendblätter ausführliche Berichte über die Versammlung im Handwerkervereinssaale, zum größten Teil mit voller Nennung von Wilfrieds Namen, gebracht hatten, wußten wenigstens von den Herren jeder und von den Damen nicht wenige, auf wen die Satire einzig und allein gemünzt sein konnte; und da der Getroffene jedenfalls bereits die Gesellschaft verlassen hatte, brauchte man seiner Schadenfreude keinerlei Zwang aufzuerlegen. Nur Falkos Stirn hatte sich verdüstert und er murmelte zu Else, die an seinem Arm hing, ein ärgerliches: das ist aber stark! worauf Else lustig erwiderte: Ach was! heute abend wird geulkt!

Und geliebt, flüsterte Falko.

312 Und geliebt, flüsterte Else, zärtlich seinen Arm drückend.

Es schien nicht nur die Parole dieses Paares. Andere Paare in immer größerer Zahl fingen an die Gartengänge zu durchschweifen, in eifrigem, heimlichem, galantem, leidenschaftlichem Geplauder. Lautes Gelächter und Jubilieren von der Pergola her, in der auf langem Tische ein üppiges Büffett improvisiert war, mit einem Bierschank an dem einen, einem Sektschank an dem andern Ende. Dazwischen die bald heiteren, bald sentimentalen Weisen der Kapelle von der Estrade, auf der vorhin der Thron der Königin gestanden.

Ulk und Liebe, ganz nach Elses und Falkos Begehr, feierten ihre Triumphe.

. . .

Unterdessen schritt die lange Tiergartenstraße nach dem Westen der Stadt zu Wilfried, das Herz voll banger Sorge um das geliebte Mädchen, das jetzt vielleicht, wie alle Welt, das Verbrechen des Bruders erfahren hatte, es sicher morgen erfahren würde. Dagegen wollte alles, was sich zudrängte, weit zurücktreten. Auch die Verhöhnung, mit der ihn die Gesellschaft gekennzeichnet. Er hatte sie mit angehört, als er, von oben kommend, durch den leeren Ballsaal in den Garten getreten war, sich wenigstens von den Damen des Hauses zu verabschieden, besonders von Chlotilde, die durch die Liebenswürdigkeit, die sie für ihn während der Tafel gehabt, wohl ein freundliches letztes Wort verdiente. In dem dichten Schwarm, der sich um das Podium scharte, auf dem der Recitator stand, konnte er die Damen nicht entdecken. Er wollte warten, bis der Mann da oben geendet und der Schwarm sich löste. Da, während er, etwas abseits von der Menge, im dichten Schatten eines Bosketts des Schlusses der Scene harrte, war das mit erhobenem Ton gesprochene Wort »Salonsocialist« an sein Ohr geschlagen; es war ihm weiterhin 313 kein Wort des Spottgedichtes entgangen; keinen Augenblick war er zweifelhaft gewesen, daß ihm der Spott gelten sollte, und Frau von Haida den Krieg, den sie ihm erklärt, in ihrer Weise mit vergifteten Pfeilen weiter führte. Vor der Tafel im Gedränge waren sie mit stummen, kühlen Verbeugungen aneinander vorübergeglitten; jetzt hatte er sie in der Nähe des Podiums stehen sehen, umgeben von den Offizieren, die den »Salonsocialist« wütend beklatschten.

Es war das Letzte gewesen, was er sah und hörte. Dann, während die dichtgescharte Gesellschaft, sich auflösend, tiefer in den Garten strebte, hatte er das Haus mit wenigen Schritten wieder gewinnen und es, nur von ein paar Dienern bemerkt, verlassen können.

Mochten sie ihn Salonsocialist höhnen! Was hatte er mit ihnen zu schaffen? Sie verstanden einander nicht: sie nicht ihn, der ein Herz hatte für das Elend des Volkes; er nicht sie, die das Mark des Volkes in sinnlosen Schwelgereien verpraßten. Hatte er denn nicht recht, zehnmal recht, an den blinden Sklaven zu mahnen, der in grimmem Zorn die Säulen brach des Hauses, in dem sie tanzten den Tanz der übermütigen, hohnlachenden Sieger? Hermann Schulz war ein Dieb; aber wen hatte er bestohlen? Die nach seiner, auf lange und scharfe Beobachtung gestützte Überzeugung selber Diebe waren, nur innerhalb der Grenzen von Gesetzen, die sie selber gezogen hatten, weit genug, um in dem eingefriedigten Gebiet ihre Raubzüge ungestraft nach allen Richtungen ausführen zu können! Salonsocialist! Er, der in diesem Augenblick den Anarchisten zu verstehen glaubte und seine Wut der Zerstörung einer Welt der brutalen Ungerechtigkeit, damit aus ihren Trümmern eine der Gerechtigkeit erblühen könne. Salonsocialist! Nun denn, war er es gewesen, er hatte heute abend seine letzte Rolle in der Maske gespielt. Tante Adele wußte, was ihm not that. Sie riß ihm den Rock nach dem neuesten Schnitt vom Leibe, sperrte ihm den 314 Kredit bei Bielefelder und Sohn und den echten Sekt und die echten Cigarren.

Salonsocialist!

Sonderbar! er hatte die Spottverse doch nur eben einmal gehört, und er meinte, er könne sie hersagen vom ersten bis zum letzten Wort!

Und in der Stimme und mit den Gebärden des berühmten Mimen!

Hatte der Pfeil doch eine offene Stelle getroffen und eine blutende, schmerzende Wunde gebohrt?

Gewiß. Aber er würde an dieser Wunde nicht sterben. Darin hatte sich die mitleidlose Feindin und ihre beifallklatschenden Freunde verrechnet. Er würde den Pfeil aus der Wunde reißen. Und die Wunde würde sich schließen; die schwache Stelle stark und fest werden. Wie anders konnte er auch hoffen, daß sich das geliebte Mädchen je zu ihrer Liebe bekennen würde. Sie schauderte vor dem Aristokraten. So denn weg mit dem Aristokraten! Weg mit der Aristokratie! Weg mit dem Salonsocialisten!

Er stand in seinem eiligen Gange still, klopfenden Herzens. In dem nächtlichen Walde zu seiner Rechten hatte eine Stimme, wie die des Schauspielers, etwas gerufen: ein einziges Wort; und das Wort hatte geklungen wie Salonsocialist.

Er atmete tief auf.

Den Spuk will ich bannen, sagte er, jetzt langsamer weiterschreitend.

* * *


 << zurück weiter >>