Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Tiefbekümmert ging er durch die morgensonnigen Straßen nach Hause. Nächst dem Verlust des Bruders konnte ihn keiner tiefer schmerzen, als der des alten Freundes. Es wäre eine Erleichterung gewesen, hätte er ihm gram sein können – er konnte es nicht. Während der Alte seinem Zorn die Zügel schießen ließ, ihn mit wütenden Blicken hätte durchbohren, zerschmettern mögen 411 – sagte fortwährend in ihm eine vernehmliche Stimme: er meint es ja doch gut mit Dir! Und plötzlich hatte er auch die Erklärung für die höhnische, verletzende Weise, mit der er ihn während der kurzen Zeit seiner Hilfsarbeiterschaft behandelt; für die widerwärtigen Sachen, die er ihm zur Bearbeitung gegeben: er hatte ihm die Situation verleiden wollen; geglaubt, ihn zur Raison zu bringen, wenn es ihm gelang!

Hatte es sein müssen?

Gewiß! Dies war keine persönliche Differenz, die sich zur Not durch Nachgiebigkeit ausgleichen ließ. Hier handelte es sich um zwei von Grund aus verschiedene Weltanschauungen, von denen die eine die andere nicht anerkennen konnte, ohne sich aufzugeben. Hier hieß es: wer nicht für mich ist, der ist wider mich. Das Herz dessen, der das herbe Wort sprach, war eitel Liebe gewesen. Doch hatte er es sprechen müssen. Das sollte sein Trost sein.

Als er in seine Wohnung kam, meldete Frau Rehbein, es liege für den Herrn Grafen ein Brief auf seinem Zimmer. Seitdem Wilfried bei ihr wohnte, war erst einmal ein Brief an ihn gekommen, und der hatte ein verdächtiges, gerichtliches Aussehen gehabt. Dieser kam aus Karlsbad, war mit einem mächtigen Siegel geschlossen, auf dem über dem Wappen eine Krone prangte; und auf der Adresse hatte groß »Hochgeboren« gestanden. Da es dasselbe gekrönte Wappen war, wie auf Wilfrieds Schreibmappe, seinem Reisenecessaire und andern seiner Sachen, mußte der Brief von einem Familienmitgliede herrühren: von einem Onkel, hatte Frau Rehbein gemeint: Agnes: oder von seinem Bruder, der ja, sagt Herr Schulz, ein richtiger Fürst ist. Beide hatten sich dahin geeinigt, daß die Versöhnung Wilfrieds mit seiner Familie jetzt im besten Gange sei.

Der Brief war von Falko.

»Karlsbad. Alte Wiese. Steinernes Haus. Juli.

412 Alter Sohn! Nimm's mir nicht übel, daß ich Dir erst jetzt für Deinen freundlichen Glückwunsch zu meiner Verlobung danke. Wir – das heißt: Else, ihr Papa, Cousine Chlotilde und ich – sind seit vierzehn Tagen in Karlsbad und da mag der Kuckuck zum Schreiben kommen. Kennst Du Karlsbad? Ich glaube, nein; und da kannst Du Gott danken! Ein so häßliches, widerwärtiges, langweiliges Nest ist noch nicht dagewesen. Straßen, eng und steil, wie Hühnersteige; ein sogenannter Marktplatz, auf dem man einen Viererzug knapp umwenden könnte; ringsumher himmelhohe Berge, auf denen nicht bloß die Landbewohner, sondern sogar besonders hirnverbrannte Kurgäste herumkraxeln sollen. Ich bin natürlich noch nicht oben gewesen, erstens weil ich nicht hirnverbrannt, zweitens kein Kurgast bin, und drittens weil von der letzten Sorte hier unten mehr anzutreffen sind, als einem Christenmenschen lieb sein kann. Jeder zweite nämlich, mußt Du wissen – na, ich darf von der Nation nicht despektierlich sprechen, die dann doch auch ihre großen Meriten hat: schöne Weiber (Else for ever!) und so viel echt goldenes Gemüt. (Famoser Witz das! nicht?) Aber darauf zurückzukommen: von dem Gedränge machst Du Dir keinen Begriff, wobei ich absolut nicht begreife, warum sich die Leute alle auf zwei oder drei Brunnen geworfen haben, während es doch ein paar hundert in dem Rattennest geben soll. Dazu ein sogenanntes Kurhaus mit Kurgarten, die positiv im Sumpf liegen; eine Straße, in der alle Welt wohnt (wir auch), trotzdem sie nur auf der einen Seite Häuser und auf der andern Buden hat, und die man die alte Wiese nennt, ich weiß nicht warum, es müßte denn sein, daß die Menschen dumm genug sind, sich wie die Schafe den ganzen Tag auf ihr herumzutreiben; eine Promenade durch das Thal an einem Bach hin – Tepel oder Eger, oder so was – in dem zwischen weißen Steinen ein braunes übelduftendes Wasser sickert, und die soweit ganz nett sein würde, bloß daß man da wieder dieselben 413 Menschen trifft, denen man schon auf der alten Wiese hundertmal zu oft begegnet ist – enfin, es wäre einfach zum Totschießen, ohne das Pupp, wie sie hier zu Lande komischerweise ein Restaurant nennen. Aber dies Pupp! allerhand Achtung! So groß, daß Hiller, Dressel und noch ein Dutzend von unsern bequem d'rin Platz hätten, wo man an kleinen Tischen kleine Portionen speist, von denen ich es unter einem halben Dutzend nicht thun kann, worüber Else sich totlachen will, und Schwiegerpapa die Güte hat zu schmunzeln, bis es an das »Zahlen« geht, das denn allerdings eine ernsthafte Sache zu sein scheint nach den Packen Fünf- und Zehnguldennoten zu schließen, um die dabei regelmäßig seine Brieftasche leichter wird.

Na, das ist dann ja seine Sache –

Nun aber komme ich endlich zu dem, was ich Dir eigentlich schreiben wollte.

Ich hatte nämlich gestern einen Brief von meinem Schwager Leßberg (die Hochzeit soll im Oktober sein), worin er mir außer gewissen dienstlichen Sachen, wovon vielleicht hernach (wenn es so weiter in Strippen regnet und die Damen nicht aus dem Bade zu früh zurückkommen), schreibt, daß Du Deine Sachen, sogar den Gaul, verkauft hast und aus Deinem alten Quartier in eine ganz obskure Gegend drei Treppen hoch gezogen bist und jetzt bei dem alten Justizrat Berner (ich bin ihm einmal bei Tante Adele begegnet, ein schrecklicher Kerl) Schreiberdienste thust. Wilfried, ich war und bin noch ganz paff. Solltest Du wirklich in so schwerem Dalles sein? Lieber, alter Kerl, sei doch vernünftig! Tante Adele ist ja unter uns eine verdrehte alte Schraube, aber das nötige Kleingeld hat sie, und das ist und bleibt nun einmal Trumpf. Nimm Dir ein Beispiel an mir! Meine Else ist ja ein entzückendes Mädchen und ich liebe sie, auf Ehre. Hätte ich mich darum mit ihr verlobt? Wäre mir ja nicht im Traum eingefallen. Und ich kann Dir sagen, ich muß auch so manches mit in den Kauf nehmen, was nicht von 414 schlechten Eltern ist. Der Schwiegerpapa, na ja; aber die Schwäger – Schwamm drüber! Und da schreibt mir Leßberg, der Obrist habe ihm, vorläufig allerdings nur vertraulich, aber das dienstlich würde schon hinterher kommen, gesagt: es sei doch besser, wenn ich, trotzdem meine Schwiegermama eine geborene Freiin von Kesselbroock und die ganze Gesellschaft getauft ist, noch während meines Urlaubs um meine Versetzung zu einem Provinzregiment einkäme! Na! ich dächte, das wären weiß Gott ganz andre Opfer, die ich da bringen muß! Und denke doch auch ein wenig an mich und die peinliche Lage, in die Du mich durch Deinen Eigensinn bringst! Glaubst Du, es ist mir angenehm, Dir an die 20,000 Mark (die genaue Summe mit allen Items steht in meinem Rennkalender, den ich zu Hause gelassen habe,) schuldig zu sein, während Du so krumm liegst und ich doch bei Gott nicht schon vor der Hochzeit dem Schwiegerpapa damit auf die Bude rücken kann um so weniger, als bei der Gelegenheit noch einige andre kleine Rechnungen werden geregelt werden müssen. Wie Du da gegen mich handelst, muß ich wirklich sagen: schön ist anders. Das ist meine private Auffassung von der Sache; was ich Dir aber jetzt schreibe, kommt direkt von Else, also Achtung, wenn ich bitten darf! Sie sagte mir gestern abend: ›Wenn er denn absolut die Tante Adele schießen lassen will, so braucht er nur ein Wort zu sagen, und er kann Chlotilde haben, die mehr Gemüt (siehe oben!) hat, als zwei Tante Adele zusammengenommen. Das arme Ding! Wir glaubten, wenn wir sie mit hierher nähmen, es würde besser werden. Au contraire! Du siehst doch selbst, Falkchen (sie nennt mich Falkchen, was ich scheußlich finde; aber sie ist ein so reizendes Mädchen), täglich wird sie bleich und bleicher, wie der Asra (heißt es so?); fünf Kilo hat sie schon abgenommen, was ihr ja ganz gut steht (auch meine Meinung); aber das kann doch nicht so fortgehen? Schreib ihm doch, er soll sofort kommen. Ich 415 garantiere: in zwei Tagen sind sie verlobt, und das wird dann furchtbar nett werden.‹

So sagt Else, und ich sage es auch: ganz furchtbar nett. Du und ich und die beiden Mädels – großartig!

Also packe Deinen Koffer und fliege in die Arme

Deines

Dich liebenden Cousins
Falko von Falkenburg.«
       

P. S. Eben kommt Schwiegerpapa: heute morgen am Brunnen habe ein Herr aus Berlin erzählt, Du habest Dich mit einem kleinen Bürgermädchen – Schulz oder Müller oder so was – verlobt. Ich habe dem Schwiegerpapa gesagt, er solle dem Herrn sagen: wenn er solchen Blödsinn noch weiter debitiere, würde ich ihn auf der Alten Wiese reitpeitschen.

P. S. Vergiß nicht, 100, besser 200 Cigarren in den Koffer (nota bene: ganz unten) zu packen. Schwiegerpapa raucht nicht; und meine mitgebrachten gehen höllisch auf die Neige.

D. O.

* * *

Wilfried schloß den Brief in den Schreibtisch und begann nachdenklich im Zimmer auf und nieder zu gehen.

Wie verpicht sie alle darauf sind, mich zu einem Schuft zu machen!

Er war an das offene Fenster getreten. Aus dem ebenfalls offenen Fenster in dem Hinterhause ihm gegenüber drang das klägliche Geschrei eines kleinen Kindes, in welches alsbald das eines größeren einstimmte. Dann wurde es still. Eine junge blasse Frau kam an das Fenster, das Baby auf dem Arm, während neben ihr der blonde Kopf eines Knäbleins über dem Fensterbrett 416 sichtbar wurde. Sie starrte gerade vor sich hin, in ihre trüben Gedanken so versunken, daß sie ihn trotz der geringen Entfernung offenbar nicht sah. Manchmal, wenn das Bübchen an ihrer Seite von dem Stuhl, auf den es geklettert war, sich über das Fensterbrett lehnen wollte, legte sie ihm mechanisch die Hand auf den Blondkopf.

Durch Frau Rehbein hatte Wilfried gelegentlich gehört, wer sie war: die Frau eines Geigers an einem Vorstadttheater, den sie gegen den Willen ihrer sehr wohlhabenden Familie geheiratet. Die hatte sich von ihr losgesagt. Nun war der Mann schon seit Wochen krank; der Arzt hatte gemeint, es sei galoppierende Schwindsucht, und er werde schwerlich wieder aufkommen.

Wilfried schloß leise das Fenster und begann abermals seine Wanderung durch das Zimmer.

Hatte er eben Lottes Zukunft gesehen? War er doch auch damals nach Madeira geschickt, weil es mit seiner Lunge nicht in Ordnung sein sollte! Seitdem hatte er sich für gesund gehalten. Wer konnte es wissen? Bei Dagobert hatte sich das alte Herzübel nach Jahren ebenfalls wieder geregt. Und der Arme da drüben hatte seine Geige gehabt, Weib und Kinder zu ernähren. Was hatte er, wenn sein kleines Kapital, an dem so viele zehrten, zu Ende war? Wie wenig weit es mit seiner Juristerei reichte, das hatte er in diesen letzten vierzehn Tagen schaudernd erfahren.

Es klopfte; Frau Rehbein brachte eine Karte herein:

Max von Frötstedt. Generallieutenant a. D.

Ein ganz alter Herr, fügte Frau Rehbein als Erläuterung hinzu.

Wilfried war an ihr vorüber auf den Flur gestürzt, hatte den alten Freund bei beiden Händen ergriffen, in das Zimmer gezogen, zu dem Sofa, auf welchem jener mit einem Uff! zusammenknickte, um sich alsbald wieder emporzurichten:

Es ist man die Puste, Wilfried. Die wird jetzt manchmal ein bißchen knapp.

417 Ich mache mir die bittersten Vorwürfe, Excellenz, sagte Wilfried. Wenn ich das hätte ahnen können! Ich hätte Sie ja längst aufgesucht. Nur war ich in dieser letzten Zeit so in Anspruch genommen – es hat sich in meinem Leben so viel verändert –

Weiß! weiß! unterbrach ihn der Greis. Komme jetzt nicht eben oft unter die Leute – ist auch nicht nötig: sie bringen es einem ja aufs Zimmer, wie die Hökerweiber ihre Ware in die Küchen. Ist auch danach: Hökerweiberware! Da hatte ich doch den Wunsch, von Ihnen selbst zu hören, wie die Sache denn nun in Wirklichkeit sich verhält. Gegen mich werden Sie, denke ich, so wenig ein Blatt vor den Mund nehmen, wie ich es Ihnen gegenüber von jeher gethan habe.

Gewiß nicht, Excellenz. Ich möchte nur nicht gern Ihnen bereits Bekanntes wiederholen.

Das schadet gar nichts. Ich höre es dann in Ihrer Auffassung, auf die es mir zumeist ankommt.

So begann Wilfried zu erzählen. Stockend im Anfang und wiederholt nach den rechten Worten suchend; fließend, ohne Scheu, je weiter er in seiner Beichte vorschritt. Denn eine Beichte wars, die ihm, vom Herzen kommend, das Herz erleichterte. Was er in diesen Wochen stumm in sich durchgekämpft, durchgelitten; seine himmelstürmenden Aspirationen; seine herzbeklemmenden Zweifel, ob er nicht beim ehrlichsten Willen, den richtigen Weg zu gehen, dennoch in einem Labyrinth umherirre, aus dem er sich nie wieder zum Licht des Tages finden werde – diesem guten und tapferen Menschen durfte er alles sagen, auch, was er sich selbst zu gestehen kaum gewagt hatte.

Der Greis hatte schweigend zugehört, den goldenen Knopf seines Stockes an die welken Lippen drückend, um die hin und wieder ein feines Lächeln spielte; ein paarmal bedenklich den Kopf mit dem noch immer vollen, weißen Haar schüttelnd. Nun, als Wilfried geendet, hob er die 418 Augen, die während der letzten Wochen noch tiefer eingesunken schienen, und sagte:

Ich danke Ihnen, lieber Wilfried! So spricht man nur zu einem, den man für seinen wahren Freund hält, und auch dann nur, wenn man selbst ein grundehrlicher Mensch ist. Ja, Wilfried, was soll man da sagen? Was der Georg von Frundsberg zu dem Martin Luther in Worms sagte: Mönchlein, Mönchlein, Du gehst einen schweren Gang! Mit dem Luther haben Sie ja nichts gemein, außer dem redlichen Drang nach Wahrheit; desto besser stimmen die Zeiten: seine und unsre. Heute, wie damals, geht der Ruf nach Freiheit durch die Welt; und der Wald, in den gerufen wird, antwortet: Gehorchen sollt Ihr, wie Ihr bisher gehorcht habt! Daß hüben und drüben aus den Tausenden der Streiter Hunderttausende und Millionen geworden sind, man auf beiden Seiten geistig und materiell ganz anders gerüstet ist, macht wohl das Schlachtfeld größer, verändert die Kampfmethoden – das Streitobjekt bleibt dasselbe. Ich glaube auch: der Ausgang wird diesmal derselbe sein: die Socialdemokraten werden gegen die kleinkalibrigen Gewehre und die Disciplin der Armeen nicht aufkommen, wie die Bauern nicht gegen die besseren Waffen und die Kriegskunst in den Bündlerheeren. Das braucht Sie nicht zu kümmern. Causa victrix diis placuit, sed victa Catoni[Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, Cato indes die unterlegene.] heißt es, wenn ich mein Latein nicht ganz vergessen habe. Es ist ein bißchen lange her. O, wir waren damals gute Lateiner! Und Republikaner! Trotz der Epauletten und Portépéees. Später findet man, daß es mit der Republik auch nichts ist. Sehen Sie nach Frankreich! Und wir Deutsche gar! Kein Volk der Welt eignet sich so wenig dazu, Querköpfe, die wir sind, von denen jeder partout seinen besonderen Weg gehen will; und Gefolgsleute trotzdem, die en masse willig hinter ihrem Herzog hertrotten, heute, wie Tacitus uns vor zweitausend Jahren gefunden hat. Die Socialdemokraten haben den lieben Gott abgesetzt. Da ist nichts zu verwundern. Als 419 Luther uns die Bibel freigegeben, gab er auch die Kritik frei, und der Atheismus war nur noch eine Frage der Zeit. Aber hat der Klang der Kirchenglocken heute für Unzählige seinen Zauber verloren, dem des Kalbfells kann keiner widerstehen. Sehen Sie den Janhagel, wenn Majestät von einer Parade kommt, wie er neben den Trommeln herläuft! Socialdemokraten sicher zum größten Teil und zu einem nicht kleinen Taugenichtse sehr wahrscheinlich. Rufen Sie sie zur Fahne, führen Sie sie gegen den Feind, taugen sie alle was und schlagen sich trotz ihrer internationalen Republik wacker wie die Leute von anno dreizehn für Gott, König und Vaterland.

Der Greis hatte bis zuletzt mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit gesprochen. Plötzlich nickte er ein paarmal mit schwimmenden Augen und war dann entschieden eingeschlafen. Es hatte etwas Erschreckendes und Rührendes zugleich: dieser hier mit dem müdflackernden Lebensflämmchen, starkgeistig kämpfend gegen die hereinbrechende Nacht!

So mochte er eine halbe Minute gesessen haben, als er die Augen wieder aufschlug und freundlich lächelnd fragte:

Wovon sprachen wir doch gleich, lieber Wilfried?

Von der Art der Deutschen, Excellenz: wie wenig sie sich für die republikanische Staatsform eignen.

Na, dann lassen wir sie in Gottes Namen, wie sie sind; rief der Greis heiter. Mag die Weltgeschichte sehen, wie sie mit ihnen fertig wird. Aber wie sind wir auf das kuriose Thema gekommen? Wir wollten doch von Ihnen sprechen. Richtig: Sie haben sich mit einem braven Bürgermädchen verlobt und werden sie zu Ihrer Frau machen. Darüber bekommen denn nun die Leute rote Köpfe, wie die Puter, und kollern entsetzlich. Sie haben auch mir vorgekollert. Ich habe dazu geschwiegen. Was ich ihnen hätte sagen mögen und müssen, würden sie ja doch nicht verstanden haben. Ihnen aber, Wilfried, sage ich: kehren Sie sich nicht an diese Puter! Es ist 420 hoffärtiges, eitles, borniertes Gesindel. Was können sie einem denn bieten für das Glück des Besitzes eines geliebten Weibes, das uns wieder liebt? Es klingt prächtig, sieht auch so aus: Stand, Rang, Vortritt vor vielen andern, Gunst der Mächtigen. Mag auch Spaß machen, solange man jung ist. Wird man alt, sagt man – und je älter man wird, mit um so innigerer Überzeugung – Firlefanz, Trödelware, nicht wert, daß man den Finger drum rührt! Ach, Wilfried, Sie glauben ja gar nicht, wie flach die Welt wird, wenn man sie nur so ein bißchen von oben herab sieht!

Das war das eine. Nun ein anderes, letztes! Sie sagen, Sie haben aus dem Verkauf Ihrer Sachen ein Kapital gerettet; aber Sie haben auch große Lasten für andre übernommen. In deren Interesse spreche ich. Ich habe nicht über Hunderttausende zu verfügen; aber eine Handvoll Tausende sind von mir immer zu haben von einem Freunde, der sie braucht, und einem alten Mann, der sie sicher nicht mehr lange brauchen wird, eine Liebe erweisen will. Sie werden das nicht vergessen, Wilfried! Ich verlasse mich darauf. Keinen Dank! So was versteht sich von selbst. Es muß Musik ohne Worte, oder gar nicht sein. Und nun, lieber Junge, muß ich Sie bitten, mich zu meinem Wagen zu eskortieren – ich habe mir nämlich eine neue Equipage angeschafft. Rauf geht es noch; aber runter hapert es manchmal ein bißchen.

Wilfried geleitete den Greis vorsichtig die Treppen hinab über den Hof bis auf die Straße. Vor der Thür hielt die Droschke zweiter Klasse, in welcher er gekommen war. Wilfried hob ihn hinein. Das wackelige Fuhrwerk setzte sich in Bewegung. Über dem Schlag winkte ihm, der sinnend hinterherblickte, eine welke, weiße Hand.

* * *


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