Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Während der ganzen Zeit hatte Mathis an dem Theetisch gekramt mit jenen Händen, von denen unter den Bekannten des Hauses der Scherz ging, daß in ihnen keine Tasse klappern, kein Glas klirren dürfe. Die Baronin und Friederike wußten, daß Tante Adele keinen Anstand nahm, in Gegenwart ihres Majordomus die intimsten Dinge zu verhandeln. Und da sie ihn selbst bei dieser Scene nicht weggeschickt hatte, waren sie nur darauf bedacht gewesen, nichts zu sagen, was der Vertraute nicht allenfalls hören durfte.

Mathis hantierte noch ein paar Minuten weiter, stellte einen letzten Glasteller auf die andern, kam langsam auf die Gebieterin zu, die, den Kopf in beide Hände gestützt, auf dem Sofa saß, blieb zwei Schritte vor ihr stehen und sagte mit respektvollem, aber eindringlichem Ton:

Frau Geheimrat, das kommt alles von der Socialdemokratie.

Tante Adele hob das Gesicht, höchlichst verwundert:

143 Wie meinen Sie das, Mathis?

Ich meine, Frau Geheimrat, justement so schreiben die Socialdemokraten.

Woher wissen Sie denn das? Sie lesen doch keine socialdemokratischen Zeitungen.

Dann und wann, Frau Geheimrat. Wenn Frau Geheimrat ihr Nachmittagsschläfchen machen und ich eine halbe Stunde Zeit habe. Ich gehe dann wohl, mit Frau Geheimrats Erlaubnis, in den Keller Königin Augustastraße Nummer sechzehn. Da wird der »Vorwärts« gelesen.

Und ein solches Schandblatt lesen Sie?

Es liegt kein anderes aus. Und man will sich doch auch unterrichten, wie es da unten aussieht. Ja, Frau Geheimrat, und in dem Vorwärts stehen justement solche Reden, wie der Herr Graf eine gehalten hat.

Ist es nicht unerhört, Mathis?

Mathis bewegte würdevoll den Kopf:

Gar nicht, Frau Geheimrat, das liegt heutzutage in der Luft. Bei dem Herrn Grafen außerdem noch im Blut.

Unsinn, Mathis. Seine Mutter war meine Schwester!

Weiß ich, Frau Geheimrat. Aber der Herr Vater Durchlaucht, haben Frau Geheimrat selbst gesagt, hatte einen Schnitt ins Bürgerliche –

Einen Stich, Mathis!

Stich oder Schnitt, das kommt auf eins 'raus, Frau Geheimrat. Und der Herr Bruder Durchlaucht hat in der letzten Reichstagssession eine Rede gehalten – gegen die Agrarier, wie sie sie nennen – ja, Frau Geheimrat, Bebel hätte es nicht besser gekonnt.

Aber mein Neffe! mein Wilfried! rief Tante Adele ganz verzweifelt.

Mathis zuckte die Achseln.

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, Frau Geheimrat. Das ist bei den großen Herren justement so, wie bei den kleinen Leuten.

Sie haben ihn niemals leiden können, Mathis; sind 144 immer eifersüchtig auf die Gunst gewesen, durch die ich ihn, ich gebe es zu, grenzenlos verwöhnt habe.

Wenn Frau Geheimrat es selber sagen!

Ihm nie gegönnt, daß ich ihn zu meinem Erben machen will.

Und ich vermeine, Frau Geheimrat werden es sich nach diesem noch zweimal überlegen.

Schicken Sie mir Frau Wenzel! sagte Tante Adele, sich schnell erhebend und durch die kleine Tapetenthür in ihrem Schlafgemach verschwindend.

Ihr nachblickend kraute sich Mathis in dem grauen Haar.

Er hatte da möglicherweise eine große Dummheit gemacht, möglicherweise auch nicht. Wer konnte das bei der Gnädigen so prick wissen? Aber ehe der Herr Graf, den er nicht leiden konnte – wie die Gnädige sehr richtig bemerkt hatte – und der ihn nicht leiden konnte – was die Gnädige hinzuzufügen vergessen – all das heidenmäßig viele Geld erbte – da würden er und Frau Wenzel auch noch ein Wort mitzusprechen haben.

Mathis ging, den Auftrag der Gnädigen auszuführen, in Gedanken versunken, die sein glattrasiertes Gesicht, das so wohlwollend dreinzuschauen und so höflich zu lächeln wußte, in eine boshafte Fratze verzerrte.

* * *

Unterdessen schritt Wilfried den Kanal entlang seiner Wohnung zu, in der Seele noch den unerfreulichen Nachklang der Scene, die er hervorgerufen hatte. Und hätte vermeiden können, einfach dadurch, daß er schwieg.

Warum mußte er sprechen?

Was konnte es der lieben alten Excellenz ausmachen, ob man sein Traumgeschichtchen hinter seinem Rücken lobte oder nicht? Ins Gesicht würde man es ihm doch an der Ehrerbietung, die er verlangen durfte, nicht fehlen lassen. 145 Schon Friederikes wegen hätte er schweigen sollen. Sie würde nun, wie immer, seine Partei nehmen, schlimme Dinge zu hören bekommen; es wo möglich mit der Tante verschütten. Und Mutter und Tochter genossen im Hause der Tante so manche gesellschaftliche und sonstige Annehmlichkeiten, die ihnen, den Alleinstehenden, Blutarmen, wahrlich zu gönnen waren.

Warum mußte er sprechen?

Wer war denn diese Gesellschaft, vor der er sein volles Herz nicht hatte wahren können? Anempfinder und Anempfinderinnen, die den Namen Goethes mißbrauchten; Dilettanten und Dilettantinnen, die in allen möglichen Künsten herumpfuschten; die Tante selbst in ihrer Überschwenglichkeit oft genug bis zum Unerträglichen absurd; in der ganzen eitlen, unwahren, von geschwollenen Phrasen lebenden Clique keine einzige Gerechte, als die köstliche Friederike, der man ihre mehr als unbedeutende Mutter, Tante Adeles immer gehorsames Echo, gern zu gute hielt. Aber das alles wußte er doch längst; hatte den Graus so oft über sich ergehen lassen und – geschwiegen.

Warum mußte er heute sprechen?

Er lächelte still vor sich hin, daran denkend, was er einst von der Rachel gelesen: daß sie sich beim Einstudieren ihrer Rollen mit einem leichten Bande die Hände fesseln ließ, es erst zu sprengen, wenn der Augenblick es gebieterisch forderte. Vorhin – da war für ihn der Augenblick gekommen; es über ihn gekommen mit unwiderstehlicher Gewalt: er dürfe nicht länger schweigen, wie er bisher geschwiegen; nicht länger thun, als falle auf sein Teil auch nicht der Schatten einer Verantwortung für das, was um ihn her geschah; alles gehen lassen, wie's eben ging: gut, oder schlecht; über das Schlechte, wenn's hoch kam, in thatlos-resigniertem Bedauern die Achseln zuckend: Du kannst es ja doch nicht ändern. »Uns kann niemand helfen«, hatte sie gesagt. »Uns will niemand helfen«, hätte sie sagen müssen.

146 Er war in den Lützowplatz eingebogen; als er in die Wichmannstraße kam, verlangsamte er den Schritt. Hier war er gestern in stiller, heller Mondnacht mit dem schönen Mädchen gegangen. Heute zu dieser früheren Stunde stand der Mond noch tief; nur die Laternen warfen ihren zweifelhaften Schein. Die Straße war verhältnismäßig belebt, und bei dem Gedanken, daß er ihr begegnen könne, fühlte er sein Herz klopfen. Aber da war er bereits an dem Hause, in das er gestern mit dem alten schweigsamen Kutscher den verwundeten Knaben getragen. Durch die blauen Rouleaux der beiden Kellerfenster dämmerte das Licht wie gestern. Heute war es still dahinter. Totenstill. Der Doktor hatte der jüngeren Schwester nur noch Stunden zu leben gegeben. War sie inzwischen gestorben? Da unten in der dumpfigen dunklen Spelunke, während er im kerzenhellen duftigen Salon mit anderen Müßiggängern geistreich sein sollende Possen trieb? Es war noch nicht zehn; das Haus mußte noch offen sein. Sollte er hineingehen, nachzufragen? Konnte er auch keine Hilfe bringen, es würde der Ärmsten doch wohl ein Trost sein, daß ein Mensch kam, der es gut mit ihr meinte. Oder würden ihre schlimmen Eltern, würde sie vielleicht selbst es nicht verstehen? es anders deuten? Der Schritt ihm nichts eintragen, als eine verlegene, beschämende Minute?

Er stand im Schatten der Mauer des Gartens auf der andern Seite der Straße. Sein Blick war starr auf die Hausthür gerichtet, aus der sie gestern herausgetreten war, um nach der Apotheke zu gehen. Wenn es eine Magie gab, die in die Ferne wirkte, so mußte sie sich jetzt öffnen und das schöne Mädchen, nach dem sein Herz verlangte, auf der Schwelle erscheinen.

Die Thür that sich auf; eine Dame trat heraus, die sich aber sofort wandte und die Thür offen hielt für jemand, der ihr auf dem Fuße folgen würde. Dann kam sie. Er erkannte sie über die Breite der Straße auf den ersten Blick im Dämmerlichte der Laterne, die ein paar 147 Schritte links von der Hausthür stand. Sie war, wie gestern, im bloßen Kopf; in der Hand trug sie ein kleines Bündel. Die beiden Frauen sprachen noch ein paar Worte und wandten sich nach rechts, der Landgrafenstraße zu. Wilfried zweifelte nicht: die Dame war Frau Doktor Brandt. Wer anders sollte um diese Stunde bei den armen Leuten aus- und eingehen? Durfte er, auf die flüchtige Bekanntschaft von gestern nacht hin, es wagen, ihr zu folgen? sie anzusprechen, ohne zudringlich zu erscheinen? bei dem Mädchen den Verdacht zu erwecken, er habe hier auf der Lauer gestanden?

Während er so ratlos zögerte, hatten die Frauen bereits die Landgrafenstraße passiert, in der Richtung der Keithstraße weiter schreitend. Da wohnten die Doktorleute. Wahrscheinlich sollte Lotte von dort irgend etwas holen, was man für die Kranke brauchte. So war das Kind also noch nicht tot, kam vielleicht durch.

Wieder öffnete sich die Hausthür; ein Herr trat eilfertig heraus, die Richtung einschlagend, in welcher die Frauen gegangen und bereits im Dunkel verschwunden waren. Zweifellos der Arzt: das runde Hütchen, der Gang, die breiten Schultern – alles stimmte. Dem Manne gegenüber empfand Wilfried keine Scheu. Mit langen Schritten hatte er ihn noch vor der Landgrafenstraße eingeholt.

Verzeihen Sie, Herr Doktor!

Ach, Herr Graf! Wie kommen Sie hierher?

Ich war aus einer Gesellschaft auf dem Wege nach Hause. Sah Ihre Frau Gemahlin mit der Lotte Schulz herauskommen; wagte nicht, sie anzusprechen, trotzdem ich, wie Sie sich denken können, gern gewußt hätte, wie es da steht.

Schlecht, Herr Graf. Die kleine Grete ist vor einer Stunde gestorben.

O, mein Gott!

Es war vorauszusehen: die Krankheit schon zu weit 148 vorgeschritten; das bißchen Widerstandskraft total aufgebraucht. Trotzdem habe ich noch zwei Kollegen geholt. Das ist nun 'mal so Comment, obgleich wir wissen, daß nichts dabei herauskommt. Übrigens ist meine Frau beinahe den ganzen Tag dagewesen.

Ihre Frau Gemahlin?

Unsre Kleine ist so weit, daß sie sich zur Not einmal mit der Flasche behelfen kann. Freilich, die Gefahr der Ansteckung bei einem so ganz ungewöhnlich schweren Fall! Doch hat das bei meiner Frau nicht so viel auf sich: sie ist in allem, was zur Behandlung eines Typhuskranken gehört, eine Virtuosin. Zu größerer Vorsicht – ein kolossales Exanthem – überhaupt der reine Schulfall – habe ich nach der obligaten energischen Desinfektion die Wohnung sofort räumen lassen. Der Junge, wissen Sie, ist seit heute morgen in meiner Klinik – glücklicherweise: er wär' sonst unfehlbar auch darangekommen. Die beiden Alten sind in eine leerstehende Bodenkammer hinaufgeschickt – vorläufig. Müssen morgen sehen, wie's weiter wird – die Leiche wird noch heute nacht abgeholt. Die Älteste, die Lotte, nimmt meine Frau mit zu uns. Wir haben ein kleines Logierzimmer. Es läßt sich ganz bequem arrangieren.

Wie gut Sie und Ihre Frau Gemahlin sind!

Danke, es geht. So ein bißchen Herz reserviert sich unser einer doch, wenn's auch Mühe kostet. Es wird zuviel darauf herumgehämmert. A propos, Herr Graf, eh' ich's vergesse: meine Frau erwartet Sie morgen. Sie hatten freundlich zugesagt, mit ihr zu überlegen, was weiter zu thun ist.

Gewiß werde ich kommen. Ich habe eine Menge auf dem Herzen.

Schön, schön! Sie besprechen das mit einander. Meine Frau erwartet Sie um zwölf. Ist es Ihnen recht?

Durchaus.

Ich werde nicht dabei sein können. Das thut nichts. 149 Ich weiß im voraus, daß ich zu allem, was meine Frau thut, nur Ja und Amen zu sagen brauche.

Sie waren bei der Wohnung des Doktors angelangt und reichten einander die Hände.

Also auf demnächstiges Wiedersehen, Herr Graf!

Auf Wiedersehen!

Die Gitterthür zu dem Vorgärtchen fiel hinter dem Eingetretenen ins Schloß; Wilfried ging den kurzen Weg zur Landgrafenstraße zurück.

Gott sei Dank! Gott sei Dank! murmelte er immer wieder vor sich hin. Sie war nicht mehr in der entsetzlichen Spelunke, aus der heute nacht die kleine Leiche »abgeholt« wurde! Da oben in den wohnlichen Räumen bei den prächtigen Doktorleuten in einem kleinen reinlichen Logierzimmer. Gott sei Dank!

Der Abend bei Tante Adele war aus seiner Erinnerung gelöscht, als hätte er nicht stattgefunden; und er da nicht eine Rede gehalten, die aus seinem Munde selbst Wohlwollende befremden, und die, gegen welche sie sich gewandt, mehr oder weniger tief verletzen mußte.

* * *

Daran aber wurde er auf das dringlichste gemahnt durch einen Brief, den er am nächsten Morgen in seiner mit erster Post eingegangenen Korrespondenz fand:

Lieber Freund! Warum haben Sie das gethan? In unser friedliches Lager einen solchen Feuerbrand zu werfen! Mein Gott, ja, ich gebe zu: es geht da manchmal – oft, wenn Sie wollen – gründlich langweilig her; es wird viel unnützes Zeug geredet, und was das schlimmste ist: mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit nimmt man es nicht immer genau. Dennoch: haben uns diese Abende nicht auch manches Gute und Schöne gebracht? Kamen unsre gelehrten Herren immer mit leeren Händen? waren immer beschwerliche Kustoden? haben sie uns in dem 150 unendlichen Palast, der Goethe heißt, nicht diese Kammer, jenen Saal aufgethan, von dessen Vorhandensein wir nichts ahnten? auf dies, auf jenes zierliche Ornament an Wand und Decke aufmerksam gemacht, an dem wir achtlos vorübergegangen waren? Und, mein Freund, Sie selbst sind in dem schönen Gerechtigkeitssinn, der Sie auszeichnet und mir so lieb macht, stets bereit gewesen, das willig anzuerkennen. Was ist geschehen, daß Sie plötzlich so anders denken? Da das Objekt dasselbe geblieben, muß die Veränderung in Ihnen vorgegangen sein. Sie waren so eigen, so ganz ein anderer heute abend. Lieber Freund, was ist mit Ihnen geschehen? Was Ihnen begegnet? Ich ängstige mich um Sie.

Schreiben Sie mir wenigstens das Eine, daß Sie unverzüglich versuchen wollen, Tante Adele wieder gut zu machen. Glauben Sie mir: Sie haben sie schwer gekränkt, empfindlich beleidigt. Mein Gott, wir haben ja alle unsre schwachen Seiten, und die Montagsabende sind ihre Schwäche par excellence. Sie ist überzeugt, daß so etwas trotz der bureaux d'esprit der Herz, der Rahel, Fanny Lewald, und wie die Bas bleus von ehemals alle heißen, noch nicht dagewesen ist und mit ihr der letzte Berliner Salon ins Grab sinken wird. Mein Freund, solcher Wahn will geschont sein! Er ist weitaus nicht so harmlos, wie er scheint! Und daß er so schonungslos zerstört sein soll – denn ich fürchte, fürchte sehr: die Montagsgesellschaft hat einen choc erlitten, der ihr Todesurteil ist – von ihm, auf dessen Liebe, dessen Dankbarkeit sie unter allen und jeden Umständen mit absoluter Sicherheit rechnen zu dürfen glaubte – das träufelt Gift in die Wunde; das ist der Dolchstoß des Brutus. Lachen Sie nicht, mein Freund! Wenn Sie Ihre Tante gesehen, gehört hätten, als die anderen – was sofort geschah – gegangen und Mama und ich allein bei ihr geblieben waren! Ich hätte ja auch lachen mögen, wäre die Sache nicht so sehr ernst; Ihre Tante, bei allen ihren guten, ja vortrefflichen Eigenschaften, in ihren Kaprizen 151 und Launen nicht so völlig unberechenbar. Bei ihr wechselt alles; sie ist, wie Hamlet sagt: ein Spiel von jedem Druck der Luft. Nur eines wandelt sich nicht: das ist ihre ruling passion: ihre krankhafte Eitelkeit. Und gerade an dieser empfindlichsten Stelle haben Sie die Ärmste getroffen. Lieber Freund, wie Sie auch über diese Zeilen denken mögen – Sie wissen, ich habe sie in bester Absicht geschrieben, das Herz voller Sorge für Sie. Sie zu überlesen, habe ich keine Zeit: das Mädchen soll noch mit ihnen zum Briefkasten, damit Sie sie gleich morgen früh haben und Sie Ihren Sühn- und Bußgang in die Viktoriastraße noch im Laufe des Vormittags machen. Thuen Sie's! Bitte! bitte!

Ihre Freundin Friederike.

Wilfried hatte den Brief erst flüchtig, dann immer aufmerksamer, immer langsamer gelesen, und bei ein paar Stellen finster die Stirn gerunzelt. Nun stand er auf, zündete sich eine Zigarre an und begann im Zimmer nachdenklich auf- und abzugehen.

Friederike war sonst ein so verständiges Mädchen; aber dies war doch rein toll. Sie mußte in der Nacht Gespenster gesehen haben. Solch Lamento zu erheben um – nun ja! er würde der Tante ein begütigendes Wort sagen müssen. Aber da von Sühn- und Bußgang zu reden – das war doch einfach lächerlich. Er hatte nichts zurückzunehmen. Schlimm genug, wenn Tante Adele das nicht begriff. Es war ihr dann nicht zu helfen. Und was hatte mit dem allen die Dankbarkeit zu thun, die er ihr schuldete? Die konnte doch nicht so weit gehen, ein sacrificio dell' intelletto von ihm zu verlangen. Vielleicht noch vorgestern. Seit gestern nimmermehr. Seit gestern wußte er, daß wir nicht auf Erden sind, um Narrenspossen zu treiben. Daß es ein furchtbarer Ernst um das Leben ist. Und wem die Erkenntnis aufgegangen, sich 152 nicht dagegen setzen kann, ohne die schlimmste aller Sünden, die einzig unsühnbare auf sich zu laden.

Er ging zum Tisch zurück, wo die andern Postsachen lagen: der obligate Brief von Bielefelder: Wir zahlten zu Ihren Lasten gegen Ihre Quittung und so weiter; die vierteljährige Rechnung von seinem Buchhändler; ein paar Annoncen und Reklamen in Kreuzband, die er sämtlich ungelesen bei Seite schob, um zögernd nach einem Rosa-Billet zu greifen, das aufdringlich nach einem starken modischen Parfüm duftete, welches Ebba in letzter Zeit bevorzugte, trotzdem er ihr gesagt, es verursache ihm Kopfschmerz. Freundliche Rücksicht auf seine bescheidenen Wünsche zu nehmen, war sie ja niemals sehr bereit gewesen. In letzter Zeit nun schon gar nicht.

Aber gelesen mußte es doch werden:

Teuerster Schatz! Willst Du mal ungewöhnlich artig sein, so mache keines Deiner abscheulichen finsteren Gesichter, wenn Du uns heute abend (bitte halb neun! Überrock!) nicht en famille, sondern eine kleine Gesellschaft findest, an die wir gestern noch nicht im entferntesten gedacht haben. Übrigens lauter nette Leute. Hoffe, es wird sehr nett werden. Notabene: wenn Du so bist. Du kannst es ja, wenn Du willst! Also wolle es einmal – ausnahmsweise! Mir zuliebe!

Immer Deine Ebba.

Ein unsäglich bitteres Gefühl war in Wilfrieds Seele aufgestiegen, während er das mit übergroßen, affektiert nach links geneigten Buchstaben, offenbar sehr hastig geschriebene Briefchen überflog. Es fehlte wenig, und er hätte es zerknittert in den Papierkorb geworfen. Doch legte er es ruhig beiseite, nur so, daß es den Brief Friederikens nicht berührte.

Und wie habe ich sie geliebt!

Er stützte den Kopf in die Hand und saß geraume Zeit, versuchend auszudenken, was doch unausdenkbar war: 153 wie der Glutstrom hatte erstarren können, mehr und immer mehr, bis er nun da lag: kalt, tot, wie die Lavakatarakte auf dem Vesuv, die Berghügel hinab ins blühende Gefilde; um Catania her, wo das blaue Meer gegen die schwarzen Felsen schäumt, die einst als Feuerbäche in ihm verzischten.

Nein! es durfte, es konnte nicht sein! jetzt nicht mehr! Aber sie hatte sein Wort: ein ehrlicher Mann hält sein Wort; darf nicht darüber grübeln, wie teuer ihm das Halten zu stehen kommt, wie schwer die Last ihn drücken wird. Vielleicht trägt er sie doch, gedenkend, daß sie immer noch leichter, als der Wortbruch, unter dem er zweifellos zusammenbrechen würde. Und sie bauen ja trotzalledem auf der Lava ihre Hütten aus den Blöcken selbst. Und Sonne, Wind und Regen zerbröckeln die spröde Masse und zermahlen sie zu Staub, in welchem dem Bauer seine Artischocken gedeihen und selbst der Rosenstock, der seine schwarze Hütte überklettert. Hatte sich sein Herz vorgestern dem Mitleid für das verlorene Kind weit geöffnet, wie mochte es jetzt kein Erbarmen kennen mit ihr, der er doch nichts vorwerfen konnte als einen allzuleichten Sinn? Und der es auch wohl nur in seiner Schätzung war, sicherlich nicht in der ihrer Verwandten und Freunde, die sie verwöhnten und vergötterten, wie er selbst sie einst verwöhnt und vergöttert hatte.

In solchen Zweifelsqualen griff er mechanisch nach dem letzten der Briefe mit dem Poststempel Berlin, Adresse von unbekannter Hand. Ein Geschäftsbrief vermutlich; für einen Bettelbrief, deren er viele bekam, war er zu sorgfältig couvertiert. Aber das waren ja Verse! Wer in der Welt konnte ihm Verse schreiben? »Komtesse?« »Komtesse bin ich« – Das scheint ja pikant werden zu wollen –

Komtesse bin ich vom reinsten Blut,
Ich zähle achtzehn der Jahre;
Wie steht so schneidig von Gerson der Hut
Zu meinem rotblonden Haare! 154
Ein flotter Galopp auf der Schnitzeljagd,
Ein Contretanz auf dem Eise
Bei Fackelschein in der klirrenden Nacht –
Das ist nun so meine Weise.

Wilfried mußte wider Willen lächeln: das Portrait war nicht übel und von augenscheinlich geübter Hand! Wer hatte sich den Spaß gemacht?

Und dann ein Hofball im Kaiserschloß
Ma foi! ist nicht zu verachten:
Die Treppen hinauf der Dienertroß,
In den Sälen ein Girren und Schmachten.
Besonders in der Quadrille à la cour
– Hilf Himmel! sprechen Sie leise! –
Die tanz ich mit einer Hoheit nur –
Das ist nun so meine Weise.

Doch ein's, gesteh' ich, gefällt mir schlecht:
Mein Flirten und Reiten und Tanzen,
Dem guten Papa ist es gar nicht recht;
Er brummt so was von »Finanzen«.
C'est vrai: der F . . . . verbraucht zu viel:
Man jeut sehr hoch in dem Kreise;
Dann Wechsel geritten auf kurzes Ziel –
Das ist nun so ihre Weise.

En tout cas soll es mir wahrlich nicht
Das lustige Leben verderben,
So lange mir W . . . . . . . heilig verspricht:
Er werde die Tante beerben.
Ich kann ihn haben, sobald ich will;
Und geht's auf die Hochzeitsreise,
Da giebt's Aventüren, verschwiegen und still –
Das ist nun so meine Weise.

                                          Ein treuer Freund.

Wilfried lächelte nicht mehr: dies war kein harmloser Scherz; war eine blutige Satire, ein hämisches Pasquill, ein vergifteter Pfeil, von jemand abgeschnellt, der die Verhältnisse sehr genau kannte. Stimmte doch so weit alles, selbst die Anspielung auf den Prinzen, mit dem man Ebba vielfach geneckt hatte, weil er auf den beiden Hofbällen, die 155 sie während des Winters mitgemacht, ihr eifrigster Tänzer gewesen war. Und dann den Verdacht, den er noch immer als eine Beleidigung Ebbas von sich gewiesen: ihre Liebe zu ihm gehe so sehr Hand in Hand mit dem weltlichen Interesse, daß sie mit ihm stehe und falle – hier war es mit frechem Cynismus ausgesprochen. Endlich der entsetzliche Schluß, der aus noch immer verzeihlichem Leichtsinn grundmäßige Unsittlichkeit und aus der Kokette eine Hetäre machte!

O, der Gemeinheit, der Feigheit!

Aber die hämische Gesellschaft, zu deren Organ sich der »treue Freund« hergegeben, sollte sich umsonst auf den Skandal gefreut haben.

Mit reinen Händen hatte er das Band, das ihn an Ebba knüpfte, lösen wollen. Jetzt, da so schmutzige Hände hineingegriffen, mochte es, mußte es bleiben, wie es war.

Er zerriß das Blatt und warf die Fetzen in den Papierkorb, vor dem ein Gefühl, das nun doch das richtige gewesen war, Ebbas Billet bewahrt hatte.

Die Klingel an der Flurthür ertönte.

Herr Graf Falkenburg, meldete Zunz.

Bitte, einzutreten!

* * *


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