Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Auf dem Potsdamer Platz war das Treiben um nichts geringer geworden; im Café Bellevue und bei Josty schien jeder Platz besetzt. Wilfried hatte über dem eiligen Aufbruch der anderen Herren den gewohnten Kaffee eingebüßt, und was sollte er schon zu Hause? Daß er nicht würde schlafen können, wußte er. Also weiter Grillen fangen. Das Geschäft ließ sich auch hier besorgen.

Langsam bei Josty vorübergehend, sah er, wie ein paar Herren, die unmittelbar am Gitter gesessen hatten, sich von dem kleinen runden Tisch erhoben, der für den Augenblick frei blieb. Er trat rasch hinein; es machte ihm niemand den Platz streitig.

Nun saß er bei seinem Kaffee. Der Kaffee war nicht gut, der Cognac positiv schlecht. Aber vielleicht war es die Migräne, die er vorhin geheuchelt und die nun allen Ernstes sich eingefunden zu haben schien. Oder die dicke, schwüle Luft, die sich jetzt um halb elf noch um keinen halben Grad abgekühlt hatte. Oder der ohrenbetäubende Lärm auf dem Platz und das Gewirr der durcheinander irrenden roten, blauen, grünen, weißen Lichter auf Pferdebahnwagen, Omnibussen, Droschken, Equipagen.

Er wußte wohl: es war weder dies, noch das, noch irgend etwas anderes, was ihm da ums Herz herum saß. 24 Nur das dumpfe Weh, das er mit sich schleppte und dem er keinen Namen zu geben wußte. Und das sich nicht wegrauchen, wegtrinken, wegküssen lassen wollte –

Natürlich, wenn die Lebensrechnung nicht stimmt –

Da hielt er einmal wieder auf dem alten Fleck.

Nein! die Rechnung stimmte nicht. Das war völlig zweifellos: die so und so oft angestellte Probe bewies es. Was fehlte ihm nach Menschengedenken zu einem behaglichen, vergnüglichen Leben? Nichts, schlechterdings nichts. Im Gegenteil: hatte er nicht, um was ihn tausende und abertausende beneiden konnten, sicher beneideten? Und hatte er von den Vorteilen, die Geburt, gesellschaftliche Stellung, die ganz exceptionell glückliche materielle Lage, in welcher ihn die Freigebigkeit der Tante erhielt, je einen Gebrauch gemacht, dessen er sich ernstlich hätte schämen müssen? Stand er nicht im Begriff, dies Glücksgebäude zu krönen durch die Verbindung mit dem notorisch schönsten und glänzendsten Mädchen der Gesellschaft? Mußte er da nicht, wenn er an einen Gott glaubte, ihm täglich auf den Knieen danken? Und wenn es mit seinem Gottesglauben nicht zum besten stand, als ein sonst leidlich verständiger Mensch, sich – nicht glücklich vielleicht, lag das nun einmal nicht in seiner Art und seinem Blut – aber doch nicht gerade unglücklich, grenzenlos unglücklich fühlen?

Zum Beispiel, ging er nun nach Hause – ewig konnte er doch hier nicht sitzen bleiben unter den Menschen, die so plebejisch laut sprachen und so gräßlich ordinäre Cigarren qualmten – war er da sicher, er werde einen gewissen braunpolierten, messingbeschlagenen Kasten nicht unten aus dem Gewehrschrank nehmen, auf den Tisch stellen, öffnen, eine halbe Minute die zierlichen Dinger betrachten, sich für eine entscheiden und –

Würden Sie wohl verstatten, mein Herr?

Zwei Mädchen standen vor ihm: übergroße, extravagant aufgeputzte Hüte, künstlich schwarzgeränderte Augenlider – Küchen- oder Stubenmädchen, welche ihr ehrbares Gewerbe 25 mit einem anderen vertauscht hatten. Die ihn angeredet: eine üppige Person, aufgestülpte Nase, dicke, frech sinnliche Lippen, durch die zwei Reihen großer, unregelmäßiger weißer Zähne schimmerten; die andere ein blasses, zierliches, beinahe anmutiges Geschöpf. Es waren inzwischen ein paar Tischchen in der Nähe frei geworden; er hätte die Aufdringlichen dahin weisen können. Wozu? Er hatte ohnedies gehen wollen.

Ich räume Ihnen den Platz, sagte er höflich.

Abgeblitzt! sagte die Freche, der schlanken Gestalt, die sich ohne Hast zwischen den Tischen fortbewegte, nachblickend.

Ein feiner Herr, murmelte die Blasse.

Was kaufe ich mir vor die Feinheit – Kellner! Kellner! Hören Sie denn nich!

* * *


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