Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Auf dem Korridor des Seitenflügels kam ihm Frau Lent entgegen, den so gern gesehenen Besuch in ihrer gesetzten Weise begrüßend.

Der Herr Graf haben uns lange nicht die Freude gemacht. Frau Kommerzienrat hat so nach Ihnen verlangt.

Ich war in letzter Zeit ein wenig stark in Anspruch genommen. Es geht der gnädigen Frau doch nicht schlechter?

Nein. Das heißt eigentlich: ja. Die Kräfte nehmen doch sehr ab. Ich fürchte, wir haben sie nicht mehr lange.

303 Das fürchten Sie nun schon seit Jahren, liebe Frau Lent.

Um so begründeter ist meine Furcht. Aber ich darf Sie nicht aufhalten. Sie zählt die Minuten; und, wie leise wir sprechen, sie hört es.

Sie standen vor der Thür; Frau Lent öffnete und trat mit herein. Jener eigentümliche, die Krankenhäuser durchwehende Duft kam Wilfried entgegen; ihm nicht befremdend: das war hier immer so. Und wie immer in den Abendstunden war das große Gemach nur sehr spärlich beleuchtet von einer großen Ständerlampe, deren Schein hell nur über das Tischchen fiel, auf dem Frau Lent ihre Handarbeit liegen hatte und das Buch, aus dem sie gerade der Gebieterin vorlas. Da, wo der Lichtschein bereits in Schatten überging, der Rollstuhl, in welchem Antoinette die paar Stunden des Tages verlebte, die sie nicht im Bett zubrachte.

Während Frau Lent, nachdem sie ein paar Worte mit der Kranken geflüstert, das Gemach nach einem zweiten Zimmer verließ, war Wilfried an den Rollstuhl getreten, aus dessen Kissen sich ihm eine kleine weiße Hand, wie eines Kindes Hand, entgegenstreckte; und ein Stimmchen, dessen ursprünglich süßen Klang der arg verzogene Mund, aus dem es kam, nicht völlig hatte auslöschen können, sagte:

Willkommen, mein lieber, lieber Wilfried!

Er hatte die kleine Hand der zur Zwergin Verkrüppelten mit größerer Ehrfurcht geküßt, als der Knabe von siebzehn Jahren die der zauberisch schönen, anmutvollen schlanken Frau.

Immer galant! Ja, das haben wir so im Blut. Nun setze Dich, lieber Junge!

Wilfried nahm auf dem Sessel Platz, den Frau Lent für ihn an den Rollstuhl gerückt hatte.

Die unaufmerksame Person, sagte Antoinette lächelnd; nicht die mindeste Rücksicht nimmt sie auf meine Eitelkeit! 304 Nun muß ich Dir gerade die minder schöne Hälfte meines Gesichts zukehren.

Das verzerrte Gesichtchen war so klein; mit einer Hand konnte man es bedecken.

Du weißt, daß Du für mich immer schön bist, Tante Antoinette, sagte Wilfried.

Wie das Kind für die Mutter. Ach, Wilfried, wieviel Frauenhaftes ist in Deiner Seele! Viel zu viel für die arge Welt! Dieser Überschwang ist der einzige Fehler, den ich an Dir habe entdecken können.

Weil Du mich eben mit Mutteraugen siehst. Ich kann Dir versichern: andre sehen mich anders.

Du hast Verdruß gehabt mit Tante Adele?

Woher weißt Du es?

Aus einem kuriosen Brief, den ich heute morgen von ihr hatte. Du weißt, sie besucht mich schon längst nicht mehr: die eingeschlossene Luft in meinem Zimmer verursacht ihr immer einen asthmatischen Anfall! Lieber Himmel! schon als wir zusammen Klosterschülerinnen waren, machte sie um den Raum, in dem eine Kranke lag, einen möglichst großen Bogen! Was in dem Briefe steht? Überschwengliche Phrasen untermischt mit Versen, ich glaube, aus der Natürlichen Tochter, von »zum großen Leben gefugten Elementen, die sich nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft umfangen wollen«, und mehr der Art, aus dem ich nur herausgelesen habe, daß zwischen Euch eine starke Differenz entstanden ist. Im ersten Augenblick wollte ich lachen; dann, ich will es Dir gestehen, überkam mich eine große Sorge; eine Sorge, die längst nicht von heute herrührt, die mir Euer Verhältnis von jeher eingeflößt hat. Ihr seid so von Grund aus verschiedene Naturen: Du wahr bis in den innersten Kern Deines Wesens; sie nicht eigentlich falsch, aber in sich bis zur Narretei verliebt, ihre Empfindungen wechselnd, wie eine Komödiantin ihre Rollen, ohne eine Spur von heiliger Ehrfurcht vor der Wahrheit, wie alle, die im Geist immer nur vor sich 305 selbst knieen. Ich habe mir stets gesagt: diese beiden Menschen können keinen Bund auf ewig flechten; es muß einmal zu einem Konflikt kommen, der die Unnatur ihrer Verbindung aufdeckt. Es hat mir keine Ruhe gelassen; und als ich von meiner guten Frau Lent hörte, Du werdest heute abend unten erwartet, konnte ich dem Verlangen nicht widerstehen, Dich zu sehen, zu sprechen. Bitte, Wilfried, sag' mir, was ist das zwischen Euch? Vielleicht sorge ich mich ohne Grund, aber ich fürchte: ich thue es nicht.

Wie schwer es Wilfried ankam, er durfte der gütigen Freundin ihren Wunsch nicht unerfüllt lassen. So schilderte er ihr denn den verhängnisvollen Montag Abend in Tante Adeles Goethekränzchen; teilte ihr den Inhalt des Briefes mit, in welchem sie ihm die Abbitte bei ihrer Gesellschaft zumutete, die er ablehnen mußte; von den warnenden Briefen des Justizrats und Friederikens zu sprechen, konnte er sich nicht überwinden. Und gar über dem, was er eben unten von Arthur erfahren, blieben seine Lippen verschlossen. Als er den jungen Bankier in der Annahme bestärkte, daß es sich dabei um ein Mißverständnis handle, hatte er sich nicht seiner, sondern Tante Adeles geschämt, die eine Sache, welche doch nur sie beide anging, der Diskretion dritter – und welcher dritter! – preisgab. Dafür mußte er wieder die traurige Thatsache seiner Entlobung eingestehen: es war undenkbar, daß in diesem Hause, welches mit tausend Ohren in die Welt hinaushorchte, ein der Skandalsucht so willkommenes Ereignis lange verborgen blieb. Nur von seiner Liebe schwieg er auch jetzt, und von dem Entsetzlichen, das dem geliebten Mädchen drohte. Der Bruder, den sie liebte, zum gemeinen Dieb geworden! Es war nicht auszudenken. Er hatte seine ganze Kraft zusammennehmen müssen, mitten in seiner Erzählung nicht in den Jammer auszubrechen, der sein Herz erfüllte, und ihn die schwere 306 Kränkung, die er von Tante Adele erfahren, kaum empfinden ließ.

Das ist eine böse Zeitung, sagte Antoinette, als er seinen Bericht beendet hatte. Ich weiß von der lieben Friederike, die mich oft besucht, und an der Du eine treue Freundin hast, daß Deine Tante in der letzten Zeit immer mehr unter den Einfluß der Wiepkenhagen geraten ist, das heißt: den schlechtesten, unter den sie geraten konnte, die immer ihre Entschlüsse, Urteile, Gedanken und Empfindungen von anderswo entlehnen mußte, sei es nun von Büchern, oder von Menschen. Im weltlichen Sinne, lieber Wilfried, ist die Lage, in die Du da geraten scheinst, vielleicht schon geraten bist – ich wiederhole es – eine sehr böse; von einem höheren Standpunkt freilich müßte man Dir Glück wünschen. In dem Maße, daß Leben und Schicksal den Menschen auf sich selbst verweisen, auf das, was ihm keine Macht der Welt nehmen kann: den Kern seines Wesens, seine allereigenste Persönlichkeit, sein wirkliches Ich – in dem Maße wird er der freie Mensch, der jeder sein sollte, und doch ach! so wenige sein können. Mir hat das Schicksal alles genommen, was sonst den Menschen an das Leben fesselt, ihm das Leben lebenswert erscheinen läßt. Ich war einst jung, schön, gesund; jetzt bin ich alt, dem Ansehen ein Greuel, von Schmerzen Tag und Nacht gefoltert. Das bißchen Liebe, das mein Gatte für mich übrig hatte, habe ich längst verloren; die Liebe meiner Kinder besaß ich nie. Und doch, böte man mir für den Frieden, zu dem ich mich durchgerungen, eine Welt der Herrlichkeit – ich würde sie heute lächelnd von mir weisen.

Aus den tief in ihre Höhlen gesunkenen Augen leuchtete ein wundersamer Glanz. Sie schwieg ein paar Momente und fuhr, leiser als vorher sprechend, fort:

Die Lehre der Entsagung erscheint Euch jungen Menschen herb; wohl gar unnatürlich. Für Euch Männer ist sie es auch vielleicht, und nur für uns Frauen das 307 rettende Asyl, wenn man uns alle anderen Waffen zum Kampfe mit der Welt geraubt hat. Ich darf Dir nicht wünschen, mein Wilfried, daß Du je in die Lage kommst, zu ihm Deine Zuflucht nehmen zu müssen. Wäre es aber doch der Fall, schäme Dich nicht, es zu betreten. Die Welteroberer sind gewiß ein stolzeres Geschlecht als die Weltentsager; und doch hat er, der der Welt entsagte, die Welt erobert.

So glaubst auch Du, Tante Antoinette, daß kein Heil ist, außer in Christus?

Sie blickte mit ihren glänzenden Augen an ihm vorüber in das Zimmerdunkel und sagte nach einer kleinen Pause:

Das Heil? das wahre? das ist nirgend sonst, nur in Nirwana.

Die Getreue hatte bereits seit einer Minute in der Nähe gestanden. Jetzt war sie vollends herangetreten, rückte an den Kissen, die sich verschoben hatten, und machte Wilfried ein Zeichen.

Wilfried erhob sich.

Schon? sagte die Kranke. Aber freilich: länger gewährt mir die Grausame solche Freude nicht. Nun denn, mein Wilfried, kehre zurück zu Deinem vanity fair! Daß Du über seinem Trubel mich nicht vergessen wirst, weiß ich.

Wilfried küßte die herabhängende zarte Hand. Antoinette winkte ihm noch einmal mit den milden Augen und sank erschöpft in die Kissen zurück. Von Frau Lent bis zur Thür begleitet, verließ er das Gemach.

* * *


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