Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Sie trafen sich regelmäßig auf der Terrasse in den Morgenstunden, während Gisela und Irmtraut bei Miß Lionel ihre englische Lektion hatten, die Knaben in der Obhut des Hauslehrers waren, und Margarete ihre Korrespondenz erledigte. Für sie beide waren Briefe eine Seltenheit. Friederike korrespondierte eigentlich nur mit ihrer Mutter, und von Wilfried, seitdem sein socialpolitischer Glaubenswechsel notorisch geworden, hatten sich alle seine früheren zahlreichen Bekannten und Freunde, wie auf 457 gemeinschaftliche Verabredung, zurückgezogen. Seinem Versprechen gemäß hatte er an Lotte von Falkenburg aus in der ersten einigermaßen ruhigen Stunde geschrieben und eine Antwort erhalten, die ihn in ihrer Kürze und Kühle seltsam berührte. Wäre nicht jener leidenschaftlich bewegte, schwunghafte Brief an ihren Bruder gewesen, den er sorgsam aufbewahrte, er hätte glauben müssen, Lotte sei zu ungewandt mit der Feder, und ihre Bitte, auf längere Briefe von ihr nicht rechnen zu wollen, da sie gerade jetzt während der Reisesaison in ihrem Geschäft übermäßig zu thun habe, eine Ausrede.

Die er schließlich gelten lassen mußte, wenn er es freilich nicht begriff, weshalb mit den längeren auch die kürzeren Briefe ausblieben.

Heute morgen hatten sie beide die Anzeige von dem Tode der »Frau Kommerzienrat Antoinette Bielefelder, geborene Freiin von Kesselbrook« erhalten und die obligaten Phrasen der »tiefsten Trauer« um die »inniggeliebte Gattin und Mutter« als eine schmachvollste Heuchelei bitter empfunden. Wenn ihnen der Verlust der gemeinschaftlichen Freundin, für die freilich der Tod eine Erlösung von ihren qualvollen Leiden war, in diesem Augenblicke weniger zu Herzen zu gehen schien, mochten es die Briefe verantworten, die sie zu gleicher Zeit – Friederike von Tante Adele, Wilfried von Frau Pfarrer Römer – erhalten hatten. Frau Römers Brief war derselbe, welchen sie ihm über Elisens trauriges Geschick gleich nach deren Überführung in die maison de santé nach seiner Stadtwohnung geschrieben, und der von Frau Rehbein mit seiner Falkenburger Adresse weiter expediert war.

Da hast Du auch einen zweiten Grund, weshalb Lotte Dir nicht schreibt, sagte Friederike. Was sie noch an freier Zeit hatte, ist in der Pflege der Schwester aufgegangen, und sie hat Dein Herz mit diesem neuen Kummer nicht noch mehr beschweren wollen. Geht es Dir sehr nahe?

Ich weiß nicht, erwiderte Wilfried. Mir ist, als könne 458 ich weder Freud noch Leid recht mehr empfinden. Als sei da etwas tot in mir.

Du hast in der letzten Zeit zu viel durchmachen müssen, sagte Friederike. Der Mensch kann nur ein bestimmtes Maß von Freud und Leid ertragen. Was darüber geht, ist ihm gleichgültig. So weiß ich von vornherein, daß, was mir Tante Adele hier schreibt, nicht das rechte Interesse für Dich haben wird, trotzdem es wahrlich interessant und merkwürdig genug ist.

Um was handelt es sich? Hat ihr Montagskränzchen die Krisis glücklich überstanden und steht in neuem Flor?

Das wäre kaum für mich interessant, geschweige denn für Dich.

Also, was ist es?

Lies selbst!

Der nicht eben lange Brief war ein Jubelhymnus darüber, daß ihr geliebter Wilfried ihr wieder zurückgegeben sei. Keine Rede von der thörichten Buße, die sie ihm auferlegt, wolle er ihre Gunst zurückgewinnen! Er brauche nicht zurückzugewinnen, was er nie verloren! Nur kommen solle er! Sobald als möglich! Ihr Herz stehe ihm offen, wie ihr Haus. Als dessen Herrn er sich jetzt und in alle Zukunft betrachten möge.

Mir scheint, daß Tante Adele auch für die Maison de santé reif ist, sagte Wilfried, den Brief zurückgebend, mit bitterm Lächeln.

Friederikens liebes Gesicht, das, während Wilfried las, in freudiger Erwartung geglänzt hatte, verfärbte sich.

Das war nicht Wilfried, sagte sie traurig.

Verzeihe mir, rief er, ihre Hand ergreifend. Du hast recht: ich bin nicht mehr ich. Meine Gedanken, meine Gefühle – es ist, als wirbelte ein Orkan mit ihnen herum, und nie wieder würde ich Zusammenhang und Ordnung in sie bringen. Dazu ängstigt mich dies. An jähe Stimmungswechsel sind wir ja bei Tante Adele gewöhnt: dieser aber kommt doch zu plötzlich. Vor Gott und aller Welt 459 hat sie erklärt: sie würde mir alles verziehen haben; meine Verlobung mit Lotte habe das Band zwischen uns bis auf das letzte Fäserchen zerschnitten. Was ist denn nun geschehen, daß sie auf einmal so anderen Sinnes ist? Es giebt da nur eines, an das zu denken mich schaudert.

Du siehst Gespenster, Wilfried. Lotte lebt.

Und für sich spann sie den Gedanken weiter: Aber, wohl möglich, Du Ärmster, daß sie für Dich tot ist.

* * *


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