Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Es war bereits dämmerig geworden, als Wilfried Frau Rehbein zur Thür begleitet hatte, wo sie sich mit einem tiefen Knix verabschiedete, hoffend, der Herr Graf werde sie der zukünftigen Frau Gemahlin zu gelegentlicher gütiger Berücksichtigung empfehlen.

Er drückte auf den Knopf für die elektrischen Lampen, setzte sich in den Fauteuil, in welchem sein Bruder die Unterredung an jenem Abend mit ihm gehabt hatte, und nahm von dem Tisch den Brief. Vorhin hatte er auf der ausländischen Marke Barcelona zu lesen geglaubt. Seine Ahnung, daß der Schreiber Lottes Bruder sei, hatte ihn nicht betrogen: die Unterschrift lautete: Hermann Schulz.

Sollte er den Brief lesen? Ein neues Blatt in dem schmerzenreichsten Kapitel seines Lebens, das für ihn abgeschlossen war? Aber vielleicht hatte den Mann die Reue gepackt; er wollte wieder gut machen, was er gethan, und rief jetzt seine Vermittelung an. Da wäre diese schwere Sorge wenigstens von Lotte genommen.

Barcelona, 15. August 92.

Vorbemerkung.

Der Polizei, sollte dieser Brief in ihre Hände fallen, sei gesagt, daß der Adressat, Herr Graf Wilfried von Falkenburg, in irgend einer Verbindung mit mir nicht steht, niemals gestanden hat. Und ich diese Zeilen nur an ihn richte, weil er der einzige Aristokrat ist, dem ich eine Art von Verständnis unsrer Sache zutraue: ich ihm überdies für die große Güte, mit der er sich meiner Familie angenommen, eine Aufmerksamkeit schuldig zu sein glaube.

482 Verehrter Herr Graf!

Ich weiß aus Spinoza, der mein Meister war, bevor ich zu Nietzsche kam, daß Reue eine Dummheit ist, die Sie mir hoffentlich nicht zutrauen. Jedenfalls weiß ich mich völlig frei davon. Als ich mir die Million aus den Kassen von Bielefelder und Sohn aneignete, nahm ich nur, was sie uns, den Proleten, so oder so, gestohlen, und den Proleten soll es auch zu gute kommen. Mir nur insofern, als ich mir so eine Machtsphäre schaffe, wie mein Ehrgeiz sie sich längst gewünscht hat. Nur mein Ehrgeiz. Ich selbst habe mein lebelang fast nur von trocknem Brot gelebt; daran wird sich nichts ändern. Aber gerade in dieser meiner völligen Bedürfnislosigkeit und der obligaten Nüchternheit meines Denkens bin ich der geborene Chef der anarchistischen Partei, der einzigen socialen, deren Programm sich wissenschaftlich begründen läßt und die praktische Erfolge haben muß, wenn sie richtig geführt wird, wie ich sie zu führen gedenke. Die Socialdemokratie hat abgewirtschaftet, wie ihrer Zeit der Feudalismus und die Bourgeoisie; sie ist besten Falls jetzt nichts weiter als der verschämte linkeste Flügel der kapitalistischen Wirtschaft. Wir müssen über sie weg, wie über Euch. Daß dabei auch Sie, Herr Graf, und die paar andern weißen Raben Ihres Standes übel fahren werden, thut mir leid, steht aber nicht zu ändern. Ihr könnt beim besten Willen nicht aus Eurer Haut; werdet niemals die Praxis der »Gerechtigkeit« wahrhaft üben können. So denn seid Ihr wie jene Generation der Juden, die in der Wüste umkommen mußte, damit die folgende Kanaan erreichte.

Sollte ich, wie wohl möglich, sogar wahrscheinlich, bei meinem Unternehmen zu Grunde gehen, so ist dafür gesorgt, daß von meiner Million auch nicht ein Pfennig in die Hände fällt, denen sie entrissen zu haben, mein Stolz ist.

So denn, mein Herr Graf, auf Nimmerwiedersehen!

Hermann Schulz.

483 Wilfried ließ den Brief auf den Tisch sinken.

In seines Geistes Aug' sah er den hochgewachsenen, hageren jungen Mann, wie er hinter dem Zahltisch im Comptoir von Bielefelder und Sohn stand, mit immer denselben abgemessenen Bewegungen Goldrollen, Kassenscheine entgegennehmend, Goldrollen, Kassenscheine ausliefernd, während die dunkeln Wimpern vor den schwarzen Augen sich nur auf Momente hoben und von den feinen, festen Lippen die spärlichen Worte tonlos fielen – kein lebendiger Mensch, eine Rechenmaschine, die sich niemals irrt.

Und dann denselben jungen Mann, wie er mit ihm durch die nächtlichen Gassen gestrichen war, als sie aus der Versammlung von Pfarrer Römer kamen; den jungen Mann, der sich zu Nietzsches Lehre bekannte, voll bitterer Verachtung der Herdenmenschen, die nur für den Übermenschen da sind, damit sie ihm als Folie dienen seiner Herrlichkeit und als Instrument, auf dem er seine souveränen Phantasien sich ausrasen lassen kann.

Und in dem Rechenmenschen, dem Übermenschen, hatte ein Herz für die Armen, seine Brüder, so heiß geklopft, daß er Ehre und Leben für sie in die Schanze schlug. Es mochte Wahnwitz sein; aber es war Methode darin. Der Mann war zum Verbrecher geworden; aber nicht um irdisch' Gut, nicht, seiner Wollust zu fröhnen – er, der sein Leben lang von trocknem Brot gelebt und es auch fürder so halten wollte.

Er, Lottes Bruder fürwahr! beide sie Kinder des Volkes, das noch an seine Ideale glaubt, für seine Ideale sich opfern kann! Wenn ich morgen auf dem Platze bleibe, wofür bin ich gestorben? Glaubte ich ehrlich an mein sociales Programm, was wäre mir der Hohn eines frechen Junkers? Aber der Frechling hat recht: Zum Volke gehöre ich nicht – das verbieten mir die verwöhnten Nerven; zu den Aristokraten nicht – das geht gegen mein besseres Gewissen. So läuft der Riß, der in der Gesellschaft klafft, mitten durch meine arme Seele, wie durch mein 484 wankelmütiges Herz, das die holde Gisela lieben müßte, und die köstliche Lotte nie vergessen könnte.

Er entzündete ein Licht und verbrannte den Brief. Dann nahm er aus der Hotelmappe einen Briefbogen und schrieb:

Von den sechzigtausend Mark, die für mich auf der Reichsbank liegen, soll ein Drittel an Frau Doktor Brandt gegeben werden, damit sie es nach ihrem Gutdünken für die Armen verwende; ein zweites an Herrn Pfarrer Römer zu demselben Zweck; das letzte soll mein Diener Zunz haben, der mir seit meinen Studentenjahren mit unwandelbarer Treue ergeben gewesen ist. Für Elise Schulz in der Maison de santé wird meine liebe Tante Adele Sorge tragen; ebenso für mein Begräbnis, das sie ganz nach ihrem Gutdünken anordnen mag. Sie, mein verehrter, alter Freund, bitte ich, über die Ausführung dieses meines letzten Willens zu wachen.

Er kuvertierte das Blatt und schrieb die Adresse an den Justizrat.

Zunz kam herein, zu fragen, ob der Herr Graf denn nicht zur Nacht essen wolle?

Nein, Zunz, ich habe vor lauter Müdigkeit keinen Hunger. Sie werden auch müde sein. Dazu müssen Sie morgen sehr früh heraus: um halb fünf. Ich habe mit meinem Vetter eine Partie in den Grunewald vor. Er wird mich abholen.

Werde ich den Herrn Grafen begleiten?

Ich glaube nicht, Zunz; aber Sie können sich immerhin darauf einrichten.

Sehr wohl, Herr Graf. Soll ich den Rosen nicht noch frisches Wasser geben? Sie sind sonst morgen verwelkt; und der Herr Graf hatten heute so große Freude daran.

Ja, Zunz, die hatte ich: große, große Freude. Aber lassen Sie sie nur, wie sie sind. Sie haben doch nur geblüht, um zu verwelken.

485 Das kam so sonderbar, als ob der Herr Graf weinte, während er es sagte. Zunz konnte sein Gesicht nicht sehen: er hatte es in den Rosenstrauß gedrückt.

* * *


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