Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Zu seiner Verwunderung waren Frau Rehbein und ihre Tochter noch auf: sie hätten nicht zu Bett gehen 435 mögen in der Sorge, es möchte in den beiden Depeschen, die heute vormittag für den Herrn Grafen gekommen, etwas stehen, weshalb er vielleicht noch ihren Dienst bedürfe.

In seinem Zimmer brannte die Lampe bereits. Er meinte nicht anders, als Falko könne seine Ankunft in Karlsbad nicht erwarten und schicke nun Depesche auf Depesche, wie das seine Gewohnheit in dergleichen Fällen war. So öffnete er ruhig die erste, die ihm in die Hand kam:

»Dagobert schwer erkrankt. Bitte sofort kommen.

Margarete.«

Mit zitternder Hand erbrach er die zweite:

»Die Ärzte geben keine Hoffnung. Bitte, bitte, sofort.«

Die tödliche Wendung mußte sehr schnell gekommen sein: das erste Telegramm war um zehn Uhr in Falkenburg expediert, das zweite um elf.

Über zwölf Stunden hatte er verloren, während er auf diesem entsetzlichen Fest war, bei dem ihn kein Mensch vermißt hätte!

Ich muß augenblicklich verreisen, sagte er zu den beiden Frauen, die mit neugierigen Gesichtern vor ihm standen. Sie dürfen die Telegramme lesen. Dagobert ist mein einziger Bruder.

Der Fürst? fragte Frau Rehbein ehrfurchtsvoll.

Wilfried antwortete nicht; er war bereits dabei, die paar nötigen Sachen zusammenzusuchen, welche die Frauen in den schnell vom Boden geholten Koffer packten. Aus den Gesprächen damals mit dem Bruder und der Schwägerin hatte Wilfried die Züge nach Falkenburg gut im Kopf. Es ging einer um ein Uhr zehn Minuten von der Friedrichstraße, sogar ein Kurierzug, wenigstens in den ersten zwei Dritteln der Tour. Wenn er sich sehr beeilte, konnte er den noch erreichen und morgens neun Uhr in Falkenburg sein.

Die Frauen halfen, wie sie nur konnten. Agnes rannte 436 hinab, den Portier zu wecken, der nach einer Droschke laufen sollte.

Inzwischen schrieb Wilfried ein paar Zeilen an Lotte: er müsse auf der Stelle verreisen; warum? sagten die beiden beigefügten Telegramme. In der ersten nur einigermaßen ruhigen Stunde werde er ausführliche Nachricht geben.

Frau Rehbein versprach, das Billet pünktlich zu besorgen; auch Lotten sonst zu sagen, wie alles gekommen war.

Agnes erschien wieder, atemlos: Die Droschke stehe vor der Thür. Der Portier, der mit hinaufgekommen war, trug den Koffer hinab. Wilfried fuhr davon.

Durch die stille Stadt; durch die endlose, mondbeschienene Ebene. Dann ging der Mond unter. Eine kurze graue Zwischenzeit, und die Wolken im Osten fingen an sich zu färben. Heller und heller, bis die Sonne, ein rotglühender Riesenball, im Osten aufging, zitternd in seinem Glanz, während im Westen Wilfrieds blaue Heimatberge sich aus dem Flachland hoben. Zur bestimmten Stunde und Minute hielt der Zug auf dem Bahnhof des Städtchens am Fuße des mäßig ansteigenden Hügels, dessen Höhe das Schloß krönte.

Von einer kleinen Gruppe Menschen, die auf dem Perron standen, löste sich einer ab und kam auf Wilfried zu, eilig, bis er sich ihm auf ein paar Schritte genaht hatte. Plötzlich stand er still und blickte auf den Boden, während sein starker, schon ergrauender Vollbart sonderbar auf- und niederzuckte.

Roßwald – mein Bruder ist –

Der alte Jäger stürzte heran, ergriff seine Hand und küßte sie, schluchzend, ohne ein Wort sprechen zu können.

Dann richtete er sich straff empor und, seine Thränen verschluckend, den Federhut in der Hand, meldete er:

Der Jagdwagen hält auf dem Bahnhof, Herr Graf.

* * *


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