Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Herr Römer begann sofort mächtig auszuschreiten.

Ich pflege solche Wege sonst zu Fuß zu machen, sagte er; die Zeit ist für mich nicht verloren; ich meditiere unterdessen die Rede, die ich halten will. Heute ist es schon ein wenig spät geworden; ich bin immer auch gern etwas vor dem Anfang da. Wir thuen da wohl besser zu fahren.

Ich überlasse das ganz Ihnen, sagte Wilfried. Offen gestanden, ich habe keine Ahnung, wo die Sophienstraße ist.

Berlin C. Wir können vom Zoologischen Garten den Omnibus nehmen, der uns bis zum Dönhofsplatz bringt. Von da aus ist es eine kleine halbe Stunde. Oder die Stadtbahn, eben von dort aus, bis Bahnhof Börse, von wo wir nur etwa sieben Minuten haben. Wie Sie wollen.

Mir scheint dann Stadtbahn das Praktischste, sagte Wilfried, dem bei dem Wort Omnibus ein gelinder Schauder gekommen war.

Auch sonst war ihm der Mut etwas gesunken. Eine eigentliche Volksversammlung hatte er noch nicht mitgemacht, sich nur immer etwas Unerfreuliches darunter vorgestellt, von dem man lieber fern blieb. Frau Römers Andeutungen gewisser Vorgänge, die dabei stattfinden konnten, waren auch nicht dazu angethan, in ihm den Wunsch zu stärken, seine Kenntnisse nach dieser Seite zu erweitern. Welche Figur würde er dabei machen? Vermutlich eine, die unangenehm aus dem Rahmen herausfiel. Bedenken, die ihm freilich recht kleinlich und erbärmlich erschienen, und die doch nicht von ihm lassen wollten.

Sein Begleiter ließ ihn seinen Betrachtungen ungestört nachhängen; er seinerseits mochte dem Schweigsamen, der über seiner Rede brütete, nicht lästig fallen. So gelangten sie, ohne kaum ein Wort gewechselt zu haben, in die Halle 229 der Station und bis zum Schalter, vor dem sich zufällig eine kleine Queue gebildet hatte.

Ich werde gleich für uns beide nehmen, sagte Pfarrer Römer, sich in die Reihe stellend, über die Schulter gewandt zu Wilfried.

Bitte!

Hier!

Danke!

Wilfried warf einen Blick auf das Billet, das ihm der Pfarrer, vom Schalter zurücktretend, gereicht hatte. Er fuhr nur selten auf der Stadtbahn; in seiner Erinnerung bekam man da grüne Billets; dies war braun: dritte Klasse!

Es geht so in einem hin, sagte er bei sich, während er hinter der schweren Gestalt seines Begleiters die Treppe eilig hinaufstieg. Eben kam ein Zug in die Halle gebraust. Es war eine ungewöhnlich große Menge unterzubringen. Wilfried erhielt im Gedränge einige derbe Stöße. Als der Ruf: Abfahren! ertönte, fand er sich mit vierzehn Personen in einem Coupé, das nach seiner Rechnung höchstens zehn fassen konnte.

Eine böse Fahrt für ihn. Sie waren in ein Rauchcoupé geraten, und mit Ausnahme seiner selbst und des Pfarrers schienen alle zu rauchen. Beide standen: der Pfarrer an der hinteren, er, der zuletzt gekommen, an der vorderen Thür. Die meisten Insassen Arbeiter, die Überstunden gemacht haben mochten, und mit lauten Stimmen ihre Angelegenheiten besprachen. Einer, der in der Ecke neben ihm saß, und dessen Kniee fortwährend in Berührung mit seinen Beinen kamen, murmelte etwas von Leuten, die sich in die Coupés scheren möchten, für die sie bezahlt hätten, anstatt anderen ihr bißchen Platz noch wegzunehmen; verstummte aber, als ihn Wilfried, wie zufällig, sein Billet dritter Klasse sehen ließ. Auf dem Bahnhof Bellevue stiegen ein halbes Dutzend aus, und der Pfarrer und Wilfried bekamen Sitzplätze; aber die Situation schien eher 230 verschlimmert, da ebenso viele wie aus-, auch wieder eingestiegen waren, und seine Nachbarn zur Linken und zur Rechten, fürchterliche Cigarren rauchend, sich über ihn weg unausgesetzt anschrieen, wenn sie nicht, was freilich nur zu oft geschah, zwischen den ausgespreizten Knieen ungeniert auf den Boden spieen.

Wollte denn diese schreckliche Fahrt kein Ende nehmen?

Wilfried warf verzweifelte grollende Blicke auf ihn, der ihm dieses Ungemach bereitet hatte. Der aber empfand offenbar von dem, was ihm bis zum Unerträglichen widerwärtig war, nicht das Mindeste. In der Ecke, ihm schräg gegenüber sitzend, unterhielt er sich mit dem Nachbar, einem winzigen, zappligen, bereits älteren Mann – kleinem Handwerksmeister, oder etwas der Art – der mit fieberhafter Lebhaftigkeit auf ihn einsprach, worauf er von Zeit zu Zeit in seiner bedächtigen Weise antwortete.

Endlich war denn doch der Bahnhof Börse erreicht. Nun noch ein Gedränge am Ausgangsschalter, die Treppen hinab auf die Straße in das lärmende Durcheinander der Pferdebahnwagen, Omnibusse, Lastwagen, Droschken, Fußgänger – nach der gräßlichen Dreiviertelstunde in dem überfüllten Coupé eine Wohlthat für Wilfried. Er war froh, daß wenigstens der Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen war, durch engere, vielfach sich kreuzende Gassen, in die der Abend bereits stark hereindämmerte, so daß es trotz der bereits angezündeten Laternen und des Lichtscheins aus den vielen kleinen Läden nicht eben hell und das Vorwärtskommen auf den überfüllten Trottoirs nicht immer leicht war. Zu Wilfrieds einiger Verwunderung war der kleine Mann aus dem Coupé dem Pfarrer zur Seite geblieben, mit zappelnden Schrittchen neben ihm hertrabend, in derselben überlebhaften Weise zu ihm, der ihn um anderthalb Kopfe überragte, hinaufsprechend. Ein paarmal verlor er im Gedränge das sonderbare Paar aus den Augen, und es überkam ihn dann die Versuchung, die Gelegenheit zu benutzen und in der Menge zu verschwinden. 231 Hatte es doch fast den Anschein, als ob der Pfarrer, präoccupiert, wie er war, ihn nicht vermissen werde!

Und gerade jetzt drehte sich dieser um und sagte: Wir kommen in die Sophienstraße. Es ist wohl besser, daß wir zusammen bleiben. Darf ich die Herren miteinander bekannt machen: Herr Graf Falkenburg, Herr Schneidermeister Gutknecht.

Sehr angenehm, sagte Wilfried, höflich seinen Hut ziehend, worauf Herr Gutknecht ebenfalls sein verknittertes rundes Hütchen lüftete und ein völlig kahles Köpfchen zeigte, das für einen Moment hell erglänzte in dem Lichte der Laternen vor dem Lokal, bei welchem sie jetzt angelangt waren. Inmitten einer schwarzen, sich durcheinanderschiebenden Menge, der ein halbes Dutzend Schutzleute den Zutritt zu der übrigens noch offenen breiten Eingangsthür in das Haus zu wehren schien.

Hatte man dem Pfarrer Platz gemacht, hatte er sich selbst und seinen Begleitern Platz zu machen gewußt – Wilfried fand sich plötzlich auf dem freien Raum hinter der Schutzmannkette vor der Thür, aus der eben ein Polizeileutnant eilig heraus und auf den Pfarrer zutrat:

Höchste Zeit, daß Sie kommen! Lokal bis auf den letzten Platz besetzt, Tische weggeräumt; muß sofort schließen lassen.

Darf ich ein paar Worte zu den Leuten sprechen? Ich verbürge mich, sie werden ohne weiteres die Straße frei geben.

Fehlte noch gerade! Wozu sind wir denn da? Bitte, Herr Pfarrer! Kann keine Minute länger warten.

Hinter den neu Eingetretenen wurde alsbald die Thür geschlossen. Jetzt erst erkannte Wilfried in dem Leutnant einen ehemaligen Offizier von der Garde, Herrn von Gronau, mit dem er früher sich hin und wieder in den Gesellschaften begegnet war. Auch dieser hatte ihn erkannt, höchlichst erstaunt, ihn an diesem Orte zu finden.

Mein Gott, Graf, was zum Kuckuck wollen Sie denn 232 hier? sagte er lachend, während sie sich langsam durch die ebenfalls mit Menschen angefüllte Vorhalle nach dem Versammlungssaal bewegten. Den Rummel auch mal mit ansehen? Na, dies heute abend ist eine zahme und passabel langweilige Sache. Will Sie mal in eine Antisemitenversammlung mitnehmen. Da können Sie was erleben! Da wird manchmal der Teufel ausgetrieben, kann ich Ihnen sagen. – Werden die Herren nun endlich Platz machen, oder nicht?

Die letzten Worte waren denen zugerufen, die aus dem Vestibül nach der Saalthür drängten, an der zwei Schutzleute postiert waren.

Sie lassen jetzt niemand mehr herein, befahl er barsch.

Und dann sich zu denen draußen wendend:

Wenn noch ein einziger versucht, in den Saal hineinzukommen und hier überhaupt nicht absolute Ruhe herrscht, lasse ich auch diese Thür schließen. Bitte, sich das gefälligst hinter die Ohren schreiben zu wollen! – Darf ich Sie ersuchen, Graf, mir zu folgen!

Es war der seltsamste Kontrast in dem Ton, mit welchem der Leutnant zu den andern, selbst dem Pfarrer, und zu ihm sprach. Wilfried hatte keine Muße, sich darüber weitere Gedanken zu machen: das Schauspiel, das sich ihm jetzt bot, fesselte ihn zu sehr.

* * *


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