Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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47 Wilfried machte ein paar Schritte, blieb wieder stehen und kehrte nach der eben verlassenen Hausthür zurück, als ob ihn jemand an den Schultern dahin geschoben hätte.

Und stand nun da, bald zum Monde hinaufblickend, der von der Weite des Himmels, die ein die andere Seite der Straße begrenzender Parkgarten öffnete, hell herniederglänzte; dann die Straße hinauf und hinab, die halb in tiefem Schatten, halb in weißem Lichte lag.

Im Bann einer wunderlichen Empfindung, die er sich nicht zu deuten vermochte, aber als wohlig empfand in Vergleich zu dem tiefen, unaussprechlichen Weh, das ihm, als er da vor einer Stunde bei Josty gesessen, das Herz fast abgedrückt hatte. Nur im Vergleich dazu. Das Glück, nach dem er sich sehnte, das war es nicht. Es war wie in dem Traum, den er oft als Knabe geträumt, wenn er sich so recht in seinen Robinson hineingelesen hatte, dessen einsame Insel mit den Lamas und den bunten Vögeln ihm das Paradies auf Erden schien. Da war er über eine unendliche Wasserwüste geflogen voll sehnsüchtigen Verlangens nach der Zauberinsel, die nicht aus der grauslichen Öde tauchen wollte, trotzdem er sicher war, er werde sein Ziel erreichen. Und die grausliche Öde unter ihm war heller und heller geworden, von dem Lichte, wußte er, das von der Zauberinsel ausging. Und hell und heller in seiner Seele, bis plötzlich ein blauer Streifen sich aus dem Wasser hob – die Zauberinsel, und er einen Jubelruf ausstieß, von dem er erwachte.

War er seinem dunklen Lebensrätsel auf der Spur? Sollte er wirklich erfahren, warum er lebte? Daß es ein Leben gab, wert gelebt zu werden? Dem er bisher aus dem Wege gegangen war, wie die Sibylle gesagt hatte? Vielleicht es auf seinem Wege nicht hatte finden können, weil es der falsche war? Nur, daß die Robinsoninsel, wenn man auf dem rechten zu ihr ist, in dem Moment, 48 in welchem sie auftaucht, auch wieder verschwindet. Und man sich in seinem Bette findet mit dem ersten Gedanken an das lateinische Exercitium, das gestern abend nicht fertig werden wollte. Wie alles, was ich bis jetzt im Leben angefangen habe – alles! alles!

Ein Geräusch vor der Hausthür, vor der er stand.

Er wandte sich:

Nun, das ist ja schneller gegangen –

Es war nicht der Doktor: eine weibliche Gestalt, die die Thür hinter sich abschloß und ihm nun das Gesicht zukehrte:

Fräulein Lotte!

Das Mädchen zuckte mit einem halblauten Ach! zusammen.

Ich habe Sie erschreckt?

Ich glaubte, es wäre ein fremder Mann.

Danke, daß Sie mich als Bekannten gelten lassen. Sie wollen in die Apotheke?

Ja.

Weit von hier?

Ecke der Wichmannstraße am Lützowplatz.

Sie erlauben, daß ich Sie begleite?

Sehr gütig! Obgleich –

Sie auch ohne mich fertig werden würden. Immerhin! Wie steht es mit dem Fritz?

Der Herr Doktor sagt: es sind zwei Zehen gebrochen.

O weh! Und das Schwesterchen?

Grete hat den Typhus.

Großer Gott! Da wird sie in ein Krankenhaus müssen?

Sie kann nicht mehr transportiert werden, sagt der Herr Doktor.

Aber in Ihrer kleinen Wohnung –

Es war da immer noch Raum genug für ein großes Elend.

Wilfried durchschauerte es. Was mochte dies arme Mädchen schon durchgelitten haben! Sie hatte es so ruhig, 49 so resigniert gesagt, als verstünde es sich von selbst. Und, Raum genug für ein großes Elend! – Das war doch nicht die Ausdrucksweise eines ungebildeten Mädchens, wie sie denn in ihrem Sprechen den gräßlichen Jargon des gemeinen Volkes nicht auch nur anklingen ließ. So hatte sie also doppelt und dreifach gelitten.

Sie waren bei der Apotheke angelangt. Lotte stieg die Stufen hinauf; Wilfried blieb auf dem Trottoir. Wohl besser, wenn das Mädchen allein kam anstatt in Begleitung eines Herrn, dessen Vorhandensein sich der Provisor sicher nicht zu Gunsten des Mädchens ausgelegt hätte.

Es dauerte geraume Zeit, bis Lotte die Stufen wieder herabkam. Sie trug ein umfangreiches Paket.

Wir haben so gar nichts im Hause, sagte sie.

Wieder gingen beide, wie vorhin, nebeneinander. In der jetzt völlig stillen Straße hörte er jeden seiner Schritte, während das Mädchen, schattengleich, geräuschlos dahin huschte. Sie hielt sich immer in der Entfernung eines guten Schrittes von ihm. Nur einmal, als ihnen ein Trupp laut sprechender junger Leute begegnete, kam sie dicht an seine Seite, um, sobald jene vorüber waren, wieder seitwärts zu weichen. Das war ihm lieb und unlieb zugleich. Es sagte ihm, daß seine Gutmütigkeit ihn nicht um eines verworfenen Geschöpfes willen nasführte, und doch hätte er ihr am liebsten den Arm geboten; ja, er mußte sich die Lächerlichkeit der Situation, wie er, Graf Falkenburg, mit einem Portiermädchen nachts zwölf Uhr Arm in Arm über die Straße ging, zu Gemüte führen, um es nicht zu thun. Mit einer Gewalt, die ihm ganz rätselhaft war, zog es ihn zu dem Mädchen. Als eben ihr Arm flüchtig den seinen gestreift hatte, war ihm ein wollüstiger Schauer über den Leib gerieselt, wie er ihn bei der Annäherung eines weiblichen Wesens nie im Leben verspürt. Scheu, verstohlen betrachtete er sie von der Seite. Was war denn besonderes an ihr? Die 50 Form des Kopfes. Er konnte sie eben auf dem weißen Hintergrund einer Häuserwand genau nachzeichnen – sehr hübsch mit dem losen, weichen braunen Haar, das seine einzige Bedeckung war. Die mittelgroße Gestalt schlank; das dünne Tuch, das sie um die Schulter geschlungen und auf dem Rücken zusammengeknotet hatte, ließ eine anmutige Büste ahnen; die Bewegungen sehr elastisch – gewiß. Aber das konnte man doch tagsüber auf jeder belebten Straße hundertmal zu sehen bekommen. Oder war es nur, weil diese nicht belebt? weil es Nacht? er mit dem Mädchen allein und sie arm und hilflos und vielleicht die leichte Beute eines, der kein Gewissen hatte und sich ihre Armut und Hilflosigkeit zu Nutzen machte?

Daß mich Gott verdamme, wenn ich das jetzt oder in Zukunft thäte! sprach Wilfried bei sich.

Er hatte auf dem ganzen, freilich kurzen Wege kein Wort mit dem Mädchen gesprochen. Was auch hätte er sagen sollen? Daß er die entschiedene Absicht habe, sich ihrer Familie anzunehmen? Aber diese Seite der Angelegenheit hatte er in des Doktors Hände gelegt. Und, wenn er davon anfing, wie leicht konnte das Mädchen, das gewiß so klug als zartfühlend war, seine Worte mißdeuten! ihnen eine häßliche, ihm ganz abscheuliche Erklärung geben!

Es waren nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Hause. Irgend etwas mußte er doch sagen. Nicht zum ersten Male ging es ihm so: wenn er etwas sagen wollte, was ihm auf dem Herzen lag, konnte er die rechten Worte nicht finden. Endlich brachte er stockend heraus:

Ich – das heißt: der Herr Doktor Brandt und ich: wir werden dafür sorgen, daß Ihnen – Ihrer Familie – in Ihrer augenblicklichen schweren Lage, soweit es uns irgend möglich, geholfen wird.

Sie standen vor der Thür. Lotte hatte den Schlüssel umgedreht, gegen die Thür gedrückt, die sie nun mit der einen Hand offen hielt. Sie wandte sich zu Wilfried. 51 Der Mond schien ihr voll in das Gesicht und in die Augen, die sie zu ihm erhoben hatte.

Ich danke Ihnen, Herr Graf; aber uns kann niemand helfen.

Die Thür war hinter ihr ins Schloß gefallen.

* * *


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