Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Herr Schulz sah das Zerwürfnis zwischen dem Grafen und seiner Tante in freundlicherem Licht, als die Magistratssekretärswitwe. Er hatte dazu seine guten Gründe. Aus seiner Kammerdienererfahrung waren ihm verschiedene Fälle in Erinnerung, in welchen der Zwist zwischen Eltern und rebellischen Kindern stets mit der Unterwerfung der letzteren geendet hatte. Hier durfte er seiner Sache um so sicherer sein, als er durch seinen Freund Mathis über die 402 Stimmung in dem Lager der Geheimrätin genau unterrichtet war. Mathis aber war sehr kleinlaut geworden, seitdem ihn der Justizrat einmal beiseite genommen und ihm gesagt hatte: Wenn Sie mit Ihrem Anschwärzen des Grafen bei der Gnädigen nicht aufhören, dann bekommen Sie es mit mir zu thun. Ich dulde das nicht länger. Und sehen Sie, alter Esel, denn nicht, daß Sie den Ast durchsägen, auf dem Sie sitzen? Glauben Sie, daß der Graf, so gutmütig er ist, Ihnen Ihre Stänkereien nicht nachtragen wird, sobald er mit der Gnädigen wieder seinen Frieden gemacht hat, das heißt: bevor noch vierzehn Tage ins Land gegangen sind?

Herr Schulz war klug genug, das Vertrauen, welches ihm der bekümmerte Mathis schenkte, nicht in demselben Grade zu erwidern. Seitdem er sich in dem Stolz seines Herzens anfänglich etwas zu sehr hatte gehen lassen, hielt er es jetzt für die richtige Politik, nicht zu wissen, »was aus der Geschichte werden solle«. Mathis konnte ihn einmal für einen um das Schicksal seiner Tochter zärtlich besorgten Vater halten; das andere Mal für einen Schelm, der sich kein Gewissen daraus macht, die schöne Tochter an einen vornehmen Galan zu verkuppeln. In den ehelichen geheimen Zwiegesprächen kam er immer wieder darauf zurück, daß man »den Hasen ruhig laufen lassen« und sich um Gottes willen in acht nehmen müsse, »die Bombe zu früh zum Platzen zu bringen«. Der Graf werde schon zur Besinnung kommen und die Alte in der Viktoriastraße auch. Nur keine Überstürzung! Habe er nicht immer gesagt: seine Lotte, sein Goldmädel, werde ihn für alles gebrannte Herzeleid entschädigen, das ihm seine anderen Kinder früher und später angethan hätten? Nun zeige es sich, wie recht er gehabt.

Frau Schulz teilte die Vertrauensseligkeit ihres Mannes nicht ganz. Die Erinnerungen der Jahre, die sie als Kammerjungfer der Fürstin auf Schloß Falkenburg verlebt, wirkten gar zu niederschlagend. Daß ein Sohn der 403 hohen Dame ihre Lotte heiraten, ihre Lotte zur Frau Gräfin Falkenburg machen solle – es wollte ihr nicht recht in den Sinn. Freilich, daß Lotte etwas Besonders sei, habe sie immer so gut wie ihr Alter gesagt, und ihrem Glück im Wege stehen, dürfe und wolle sie auch nicht.

Hatte schon die anständige Situation, in welche sie Wilfrieds Güte gebracht, eine gute Wirkung auf das Verhalten der beiden Leute ausgeübt, so schien die glänzende Aussicht, die sich für ihre Tochter aufthat, sie zu anderen Menschen zu machen. Herr Schulz war aus einem verkommenen Trunkenbold ein nüchterner Mann geworden, der sich darauf besann, daß man ihn früher »den schönen Schulz« genannt hatte; sich auf das sorgfältigste kleidete; des ehrbarsten Betragens befleißigte; kein häßliches Wort mehr in den Mund nahm und sich nur jezuweilen aus einer Flasche, die er vor Frau und Tochter sorgsam versteckte, einen Cognac erlaubte, »um nicht zusammenzuklappen«. Frau Schulz hatte wieder die Manieren hervorgesucht, die sie ehemals ihren vornehmen Damen abgesehen und so gut es ging kopiert hatte. Von der wüsten Unordnung, die Wilfried in der Kellerwohnung angetroffen und gegen die Lotte vergeblich gekämpft, war in den neuen Räumen nichts zu spüren; alles wie bei Leuten, die freilich nur über kleine Mittel verfügen, aber damit hauszuhalten verstehen. Selbst der schwierigsten Aufgabe, gegen Wilfried das schickliche Betragen einzuschlagen, zeigten sie sich bis zu einem gewissen Grade gewachsen. Ein wesentlicher Teil ihrer Taktik bestand darin, daß sie, wenn er zu Besuch kam, nach kurzer Zeit unauffällig verschwanden und ihn so lange als möglich mit Lotte allein ließen.

Für nichts war ihnen Wilfried dankbarer.

* * *

Dann kamen selige Stunden für die Liebenden. Dann hatte Wilfried die Mahnungen der Frau Brandt, 404 die Nörgeleien seines alten Justizrats, die Gehässigkeiten der Frau Rehbein, die Misère seines Lebens ohne Zunz, ohne seinen jetzt verkauften Braunen, sein Flanieren unter den Linden, seine späten Mittage bei Hiller oder Dressel – hatte er alles vergessen, was ihm einst das Dasein verschönt, ganz dem holden Augenblick hingegeben, der ihm eine selige Ewigkeit dünkte ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Seine Liebe für sie war vom ersten Anfang an kein bloßer sinnlicher Rausch gewesen, wie sehr ihn auch ihre Schönheit entzückt hatte: ihre wunderbaren dunklen Augen mit den langen, seidenen Wimpern, das entzückende Oval ihres fast stets bleichen Gesichtes mit den feinen regelmäßigen Zügen und dem schwermutsvollen Zug um die weichen Lippen; ihre schlanke Gestalt mit den doch so gesättigten Formen; die Anmut jeder ihrer Bewegungen; der Wohlklang ihrer tiefen, weichen Stimme. Von Anfang an hatte er das hochgesinnte, edelherzige Mädchen in ihr geahnt; nun erkannte er mit freudigem Stolz und inniger Dankbarkeit gegen ein gütiges Geschick, daß seine Ahnung ihn nicht betrogen; ja, in noch viel herrlichere Erfüllung ging, als es seine enthusiastischsten Träume ihm verheißen. Wie fein, klug und sinnig waren alle ihre Beobachtungen, Äußerungen! Die Sorge, es könne ihrem schönen Munde doch einmal ein unschönes Wort entschlüpfen – wie schämte er sich ihrer jetzt! Die Behauptung der Frau Brandt, es werde ihnen nur zu bald an Gesprächsstoff fehlen, wie thöricht erschien sie ihm! Nun ja, Lotte kannte nur ein paar Schillersche Gedichte, die sie noch auf der Schule gelernt, und von Goethe den Erlkönig, den sie auf einem Volkskonzertprogramm zufällig gefunden. Wallenstein und Don Carlos, Faust und Tasso waren ihr Namen von den Theaterzetteln auf den Litfaßsäulen, ohne daß sie irgend eine bestimmtere Vorstellung damit verband – Wilfried war geneigt, Gott dafür zu danken in schaudernder Erinnerung dessen, was er an Tante Adeles Montagsabenden ausgestanden, wenn die hochgebildeten Herren und 405 Damen ihre ästhetische Weisheit auskramten und die Anempfindelei ihre Orgien feierte. Nein! das hatte er hier nicht zu befahren. Hier war jungfräulicher Boden, auf dem lieblichste Wiesen- und Feldblumen in Fülle sproßten, und auf welchem sich auch für einen Ziergarten, ging es denn ohne den wirklich nicht, Raum genug finden würde. Aber dergleichen Zukunftsperspektiven huschten nur flüchtig an seinem Geist vorüber. In einem Paradiese noch an einen Ziergarten zu denken! Es kam ihm wie eine Profanation vor.

Lotte wurde es nicht so gut, wie dem Geliebten. Wohl kamen auch für sie Stunden, in denen sie sich völlig glücklich fühlte; aber sie waren sehr selten. Die Sorge, deren Schattengestalt, seitdem sie nur aus dem Kindesalter heraus war, ach! nicht bloß auf ihrer Schwelle gekauert, sondern in die kümmerlichen elterlichen Behausungen zuversichtlich eingetreten war, es sich in jeder schmutzigdunklen Ecke bequem gemacht hatte – sie wollte auch jetzt nicht weichen; raunte ihr ins Ohr, wenn sie am Tage in ihrem Atelier zwischen den schwatzenden Mädchen saß, zur Nacht das schlummerlose Haupt auf dem heißen Kissen von dieser zu jener Seite wandte: Du wirst mich nicht los; ich bin Deine Begleiterin durch das Leben; was Dich jetzt zeitweise Dein Elend vergessen läßt, es ist nur ein schöner Traum.

Der Dich nicht täuscht und aus dem auch er erwachen wird – nur zu bald!

Dann erklangen ihr im Geiste die warnenden, mahnenden Worte der Frau Brandt; dann hörte sie so viel deutlicher noch ihre eigene traurige Stimme: Lotte, es kann nicht sein. Du willst doch sein Glück; und dies ist sein Unglück, wenn er es auch jetzt nicht sehen will. Er sieht es darum doch; muß es ja sehen. Wie träumerisch auch seine schönen blauen Augen blicken, er ist doch nicht blind!

Und hundert Momente, die sich wie Nadeln in ihre Seele gebohrt hatten, jagten durch ihre Erinnerung. Wie 406 ironisch es um seine Lippe gezuckt, wenn er seine häuslichen Kalamitäten drüben bei Frau Rehbein schilderte; wie melancholisch er gelächelt, wenn er gelegentlich auf seine Kinderjahre, die er in Schloß und Park, in den Feldern und Wäldern von Falkenburg verspielt, zu sprechen kam; wie sich sein Blick verdüstert, wenn der Vater ihm gegenüber den Mann von Bildung hatte herauskehren wollen; die Mutter die feine Dame! Es war doch undenkbar, er würde jemals zu ihnen Papa und Mama sagen können! Auch wenn er nie etwas erführe von der heimlichen Flasche, deren schreckliche Entdeckung sie zufällig vor ein paar Tagen gemacht und die ihr bewiesen hatte, daß der Vater nur vor den Augen der andern nicht mehr trank! er nie die Mutter sähe und hörte, wie sie sich gab, und welche Reden sie führte, sobald sie »unter sich« waren!

Und Elise! Wer konnte dafür stehen, daß sie den Aufenthalt im ehrbaren Hause der Pfarrersleute nicht satt bekam und ihren Leichtsinn wieder durch die Straßen, die Tingeltangel, die Tanzsäle spazieren führte!

Und Hermann! Wilfried hatte sich so gütig über ihn geäußert: seinen glänzenden Verstand, seine erstaunliche Bildung – wer weiß, ob, wäre er brav geblieben, die beiden nicht Freunde geworden wären! Aber jetzt! Wie konnte er eine zu seiner Gattin machen, deren Bruder man steckbrieflich verfolgte und, fing man ihn, ins Zuchthaus sperrte!

Nein! es war nichts als ein Traum.

Aber so süß! So hold!

Und sie wollte ihn träumen, solange es möglich war. Es würde ja nicht lange sein.

So denn suchte sie alles aus dem Wege zu räumen, wovon sie wußte, daß es seinen feinen Sinn verletzte. Er, der früher aus dem Bureau kam, als sie aus ihrem Atelier, hatte gebeten, sie von dort abholen zu dürfen. Sie gab es nur unter der Bedingung zu, daß er sie in 407 einiger Entfernung von dem Hause erwartete, um ihn nicht in Berührung zu bringen mit dem Liebhaber einer Kollegin, der sein Mädchen regelmäßig gleich an der Thür in Empfang nahm und abküßte. Für den Weg nach Haus wählte sie die einsamsten Straßen, damit er von den Blicken der Vorübergehenden möglichst wenig belästigt wurde. Kam er dann am Abend herüber, durfte ihn keine kleinste Unordnung beleidigen; der Essengeruch vom Mittag her mußte entfernt, das bescheidene Mahl, das er mit ihnen einnahm, bevor sich die Eltern in ein Hinterzimmer zurückzogen, auf das sauberste hergerichtet sein. Die Mutter hatte zu Frau Rehbein hinübergehen müssen, die verabsäumte Visite nachzuholen; sie selbst hatte sich in die Gunst der schieläugigen Agnes durch unentgeltliche Garnierung eines Hutes eingeschmeichelt und den Zorn dieser Damen so weit besänftigt, daß Wilfried zu seiner Verwunderung nicht mehr über sie zu klagen fand. Als sie wieder einmal ein aufgefrischtes Putzstück herüberbrachte, hatte Frau Rehbein sie sogar auf die Seite genommen und sie »mütterlich« vor den Gefahren gewarnt, denen »ein so hübsches junges Mädchen« in dem intimen Verkehr mit einem vornehmen Herrn ausgesetzt sei, dessen ehrliche Absichten sie bezweifeln müsse, solange der Herr Graf »die Kosten für die Verlobungsanzeige zu hoch fände«.

Lotte hatte Frau Rehbein für ihre freundliche Teilnahme gedankt und sie flehentlich gebeten, von dieser Unterredung nichts gegen den Herrn Grafen verlauten zu lassen. Er sei durch seine Lage zu Rücksichten gezwungen, die andere nicht zu nehmen hätten. Sobald er die rechte Zeit gekommen wisse, werde er sicher thun, was Frau Rehbein wünsche.

Frau Rehbein war davon nicht überzeugt. In ihrem plötzlich erwachten Interesse für »das arme Mädchen« hielt sie es für ihre Pflicht, auch den Herrn Grafen gelegentlich »ins Gebet zu nehmen«.

Ganz gegen ihr Erwarten, ließ dieser sie ohne irgend 408 ein Zeichen von Ungeduld oder übler Laune ausreden und erwiderte freundlich:

Sie haben völlig recht: diese Heimlichkeit bringt Lotte Ihnen, den andern Nachbarn und ich weiß nicht wem noch gegenüber in eine schiefe Lage, in der ich sie nicht lassen darf. Ich werde unsere Verlobung anzeigen.

Fräulein Lotte, wie ich sie kenne, sagte Frau Rehbein, ganz gerührt über diese prompte Wirkung ihrer Ermahnungen, wird sich mit Hand und Fuß dagegen wehren. Aber daran dürfen Sie sich um Himmels willen nicht kehren.

Es kam, wie die vielerfahrene Frau Rehbein es vorausgesagt: Lotte wurde totenbleich, als ihr Wilfried seinen Entschluß ankündigte, und bat ihn mit Thränen in den Augen, einen Schritt nicht zu thun, der ihn auf immer von seiner Familie trennen müsse.

Da giebt es nichts mehr zu trennen und zu vertuschen, erwiderte Wilfried. Ich hatte zu wählen zwischen ihr und Dir, mein geliebtes Mädchen. Ich habe gewählt. Habe einer Welt entsagt, in der ich mich namenlos unglücklich fühlte. Nun bist Du meine Welt – und ich bin namenlos glücklich.

Wilfried, thu' es nicht! rief Lotte mit gerungenen Händen.

Seine Miene verdüsterte sich.

Liebst Du mich, Lotte?

Mehr als mein Leben!

Er schloß sie zärtlich in seine Arme.

Dann ist alles gut, mein Liebling. Was kann mir die Welt anhaben, wenn Du mich liebst?

* * *


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