Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Zu Hause angelangt, fand Wilfried einen Brief seines Bruders vor. Briefe von ihm waren ihm immer willkommen, und heute hatte er eine so große Sehnsucht nach einem brüderlich warmen Wort. Er las, während er sich umzog und Johann in dem kleinen Speisezimmer nebenan die letzten Vorbereitungen zu dem Frühstück traf.

Schloß Neu-Falkenburg, Juni 1892.

Lieber Wilfried!

Nun wird es doch nicht bis zur Einberufung des Reichstages mit unserm Wiedersehen dauern, auch wenn Du, was ich in Deinem Bräutigamsstande begreiflich finde, Dich vorläufig nicht von Berlin trennen magst. Kommt der störrische Berg nicht zum Propheten, muß der höfliche Prophet wohl zum Berge kommen. Und nicht bloß er, sondern seine ganze Bagage mit ihm. Wäre nur die Veranlassung eine erfreulichere! Denke Dir, seit einiger Zeit glaubten wir zu bemerken, daß unsere Gisela das linke Bein ein wenig nachschleppte. Wir hielten es anfangs für eine temporäre Schwäche, infolge der Überanstrengung eines Muskels oder einer Sehne beim Springen oder Laufen, bis uns die Sache doch bedenklich wurde und wir – auf unsern alten guten Müller ist ja wenig Verlaß – von Braunschweig einen Specialisten kommen ließen. Er glaubte die ersten Anfänge eines Hüftleidens konstatieren zu sollen. Unsern Schrecken kannst Du Dir denken: das liebliche Kind lahm, vielleicht ein Krüppel für Zeit ihres Lebens! Ich telegraphierte sofort an Geheimrat von Bergmann; er zurück: vor Sonntag unmöglich, da verreisen muß. Also Sonntag. Das heißt: wir kommen 64 natürlich bereits Sonnabend und zwar mit sämtlichen vier Kindern, da Margarete, die durch diesen Unfall ganz eingeschüchtert ist, sich von keinem trennen will. Zimmer im Hotel Bristol sind bestellt; Hotelwagen am Bahnhof. Du sollst keine andere Unbequemlichkeit davon haben, als daß Du Dich Sonnabend abend 9 Uhr noch auf eine Stunde im Hotel einfindest, was Dir hoffentlich Deine Braut gnädigst gestatten wird.

Nun eine wichtige Nachricht für Dich.

Das Rügensche Gut, das ich nach den von mir eingezogenen Nachrichten ganz Deinen Absichten, Zwecken und Neigungen entsprechend erachten muß, kommt nun sicher noch im Laufe des Monats zur Subhastation. Es ist gewiß betrübend, daß wieder einmal eine altadelige Familie – das sind die Polzows – abgehaust wird. Aber gegen die großen wirtschaftlichen Gesetze ist nichts zu machen, am wenigsten mit sentimentalen Klagen; und hier ist noch das Gute, daß der Besitz nicht, wie so oft, in bürgerliche Hände gelangt, sondern wieder in Adelshände. Nun bin ich freilich über die ökonomische Seite der Angelegenheit ziemlich gut orientiert und einem prosaischen Menschen würde ich ohne Bedenken raten, zuzugreifen. Mit Dir ist das anders. Du mit Deinem exquisiten Schönheitssinn, all den berechtigten Eigenheiten Deiner Künstlernatur würdest Dich in einer Landschaft, die der Phantasie nichts böte, immer unglücklich – mindestens nicht glücklich fühlen, wie ich wünschen muß als Dein Bruder, der Dich liebt und mit seiner völlig verdienstlosen Erstgeburt Dich nicht nur um den Fürstentitel – an dem wenig genug gelegen ist – sondern auch um das gebracht hat, was nach unserm Familiengesetz drum und dran hängt und leider auf keine Weise von ihm losgelöst werden kann. Und dann müssen wir doch auch an Ebba denken. Ich zweifle nicht, daß sie sich Dir zuliebe alle Mühe geben wird, sich aus einer Stadtdame in eine Landfrau zu metamorphosieren; aber allzuschwer darf man ihr die Sache auch nicht machen.

65 Alles übrige mündlich.

Margarete und die großmündigen Kinder grüßen bestens. Es freut sich sehr auf unser Wiedersehen

Dein treuer Bruder Dagobert.

Wilfried hatte den Brief mit zum Frühstückstisch genommen und ihn dort zum zweitenmal gelesen, trotzdem die schöne, überaus klare Handschrift und der Inhalt dem Verständnis gewiß keine besonderen Schwierigkeiten boten. Er wollte sogar, nachdem er hastig ein paar Bissen gegessen, zum drittenmal beginnen, legte ihn dann aber doch neben seinen Teller, trank langsam den Rest Madeira aus dem Glase, zündete sich eine Zigarre an und rauchte nachdenklich vor sich hin.

Wie durchsichtig, vernunftsgemäß, zum mindesten allen einschlägigen Verhältnissen völlig angepaßt waren ihm noch, als er sich vor vier Wochen verlobte, seine Verhältnisse erschienen. Er hatte eine Stellung aufgegeben, die er, ohne Neigung und Beruf, nur ambitioniert hatte, der Welt, vor allem sich selbst, den Beweis zu liefern, daß er, wenn es sein mußte, auf den eigenen Füßen stehen, sich den Weg durch das Leben mit eigener Kraft bahnen könne. Sich dem Beruf zu widmen, der ihm vom Knabenalter an als der herrlichste, menschenwürdigste erschienen war: ein freier Mann auf eigenem Grund und Boden zu leben, zu wirken, zu schaffen, im Kleinen, wie sein geliebter Bruder im Großen. Wie sein Bruder, aus dem Getriebe der individuellen Wirtschaft hinübergreifend in die der Gemeinde, der Provinz, des Staates; wandelnd auf der Bahn, die der eiserne Kanzler gegangen war, wenn auch nicht mit seinen Riesenschritten. An seiner Seite sie, die er liebte, von der er sich wieder geliebt glaubte, und die ihm mit der Zeit eine verständnisinnige Freundin werden würde, wie verstrickt sie auch vor der Hand in die Eitelkeiten des Lebens sein mochte. Was lernt der Mensch nicht, wenn Liebe seine Lehrmeisterin ist!

66 Und gestern Abend, als er bei Josty saß? und an den braunen Kasten da nebenan im Gewehrschrank dachte? Glücklichen Leuten pflegen dergleichen grausliche Phantasien nicht zu kommen. Aber solchen, die sich in ein Glück hineingeträumt haben und sich bewußt werden, daß es eben ein Traum war; eine Fata Morgana, die dem Wanderer Palmen und blaue Seen vorgaukelt, während doch da nichts ist als Wüstensand. Der gelbe, grauenhafte Wüstensand, durch den er nun schon so lange sich geschleppt hat neben der Karawane schwatzender, vergnügter Menschen her, die nichts von dem Staub zu spüren schienen, nichts von entnervender Hitze und dem brennenden, rasenden Durst. Dem Durst nach einem Glück, das die Seele füllt. Nach einem Leben, wert, gelebt zu werden.

Dem großen Ziel hatte er damals nahe zu sein, es fast schon mit den Händen zu berühren geglaubt.

Die Freude hatte nicht lange gedauert.

Nicht vierundzwanzig Stunden.

Da war der Zweifel an ihn herangekrochen, ob seine Verlobung mit Ebba nicht ein Thorenstreich sei; er Verliebtheit in ein Mädchen, das alle Männer toll machte, mit Liebe verwechselt habe. Und wenn, was er empfand, immerhin noch Liebe genannt werden mochte, Ebba ihn liebe? Mehr noch, schlimmer noch: überhaupt lieben könne, nicht in Eitelkeit und Selbstliebe aufgehe?

Eine dunkle Empfindung, die er wohl schon früher gehabt. Aber es waren solche Augenblicke doch nur Schatten gewesen, über eine sonnige Landschaft jagend. Dann, nach seiner Verlobung, hatten die Schatten länger verweilt, sich vertieft, ausgebreitet, zuletzt nicht mehr weichen wollen. Einzelne ihrer Worte, Wendungen, Blicke, Gesten – als wären ihm plötzlich Ohren und Augen aufgethan, um, was ihm früher so reizend, so entzückend erschienen, in seiner wahren Bedeutung zu fassen, seinem rechten Lichte zu sehen.

67 Mein Gott, wie weit war es gekommen, wenn jetzt schon ihr Kuß ihn kalt ließ! Gestern abend –

Freilich heute, als sie ihm entgegentrat in ihrer strahlenden Anmut, da war der alte Zauber wieder kräftig gewesen, wie vor sechs Jahren, als sie mit den Eltern nach Falkenburg zum Besuch kam – ein zwölfjähriges Ding, schön, wie der junge Morgen, schön, daß Byrons Janthe, der er seinen Childe Harold in den trunkenen Ottaverime des Proömiums widmete, nicht schöner gewesen sein konnte. Und er, versunken in ihren Anblick, vor Wonne und Entzücken nicht mehr essen und trinken mochte. Und den ersten Spazierritt mit ihr gemacht hatte – er auf einem Pferde, das einst besser gewesen war, sie auf einem übermütigen Pony in ihrem halblangen Kleide, ahnungslos, wie hoch es an ihrem schlanken Bein hinaufrutschte, während sie, ihn auf seinem trägen Gaul zu necken, den Pony zu immer wilderem Galopp antrieb – und er sich mit dem heiligsten aller Studenteneide zuschwor: die oder keine wird deine Frau!

Der alte Zauber! Warum hielt er nicht mehr? War es ihre Schuld? Zweifellos nein. Sie war dieselbe geblieben. Also die seine. Also hatte er sich verändert. Aber kann das ein Mensch? Wird er nicht in den Sarg gelegt, wie er in der Wiege lag? Hatte er nicht schon als kleiner Knabe die wühlende Sehnsucht in sich gespürt nach etwas, dem er keinen Namen zu geben wußte; nur wußte, daß es höher, herrlicher sei, als alles, was er in den Büchern las? ihm das Leben zeigte? Sich nicht schmerzlichste Gewissensbisse gemacht, wenn er gegen das Gebot der Nächstenliebe gefehlt zu haben glaubte? Nicht mit aller leidenden Kreatur innige Sympathie empfunden, die in ihm, dem Scheuen, Zaghaften, zu rasendem Zorn aufflammte, so oft er Zeuge einer an Mensch oder Tier verübten Grausamkeit wurde? Nein, er hatte sich so wenig verändert, wie sie. Nur die Verschiedenheit ihrer Naturen war schärfer hervorgetreten in dem Maße, in welchem sie 68 sich, jedes in seiner Weise, zu ihrem vollen Wesen entwickelten. Und in dem Augenblicke, als ihm das beinahe zur vollen traurigen Gewißheit geworden war, hatte er sich mit ihr verlobt! Weil er, mit seinen Sinnen wenigstens, noch immer im Banne des alten Liebeszaubers stand; seit Jahren nicht anders wußte, als daß sie sein Weib werden müsse; alle Welt – seine Verwandten und Bekannten, ihre Eltern, die Freunde ihres Hauses – in ihrer Verbindung nur eine Zeitfrage sah; Ebba selbst die offizielle Verlobung eine Konzession nannte, die man schließlich der Welt machen müsse.

Und wenn sie, die durch Männerhuldigung bis zum Übermaß Verwöhnte, sich denn doch für ihn entschieden hatte, der wahrlich von seinen Vorzügen bescheiden genug dachte, so mußte sie doch etwas für ihn empfinden, ihn in ihrer Weise lieben. Dennoch, wie sollte es werden, wenn sie sich so gar keine Mühe gab, sich in seine Seele hineinzudenken? ihrer krausen Lebenslust weiter so den Zügel schießen ließ, wie damals dem übermütigen Pony? an dem Programm, das sie ihm vorhin entwickelt hatte, festhielt mit der zähen Hartnäckigkeit, die trotz ihres spielerischen Wesens der Grundzug ihrer Natur war? Sie die Mondaine sein und bleiben wollte, die ohne Umschweif erklärte, sich auf dem Lande zu Tode zu langweilen; nur in dem Wirbel großstädtischen Lebens sich wohl fühlen zu können?

Da mochte er doch seine Zukunftspläne nur in den Windfang hängen und zuerst dem Bruder schreiben, daß er sich in Sache des Gutskaufs um Himmelswillen nicht weiter bemühen solle: Ebba habe einen unüberwindlichen Abscheu vor Kuhstallgeruch und finde die Zumutung, in eine Armeleutewohnung den schmalen Fuß setzen zu sollen, abgeschmackt und empörend.

Es würde für Dagobert keine Offenbarung sein. Sicher hatte der Klare, Kluge tiefer als er jemals selbst in Ebba's Charakter gelesen. »Allzu schwer darf man ihr 69 die Sache auch nicht machen.« Jawohl! Und deshalb – nicht seinethalben – mußte das betreffende Gut »der Phantasie etwas bieten.« Womöglich ein landschaftliches Paradies sein wie ein englischer Lordsitz: mit weiten Lawns, auf denen Damwild friedlich äst, uralte Buchen und Eichen in majestätischen Gruppen stehen. Schattigen Wäldern, die bis an den Rand der hohen Kreideklippen sich drängen, von denen der Blick über ein unermeßliches Meer schweift –

Und das große Herrenhaus während der paar Wochen, welche man da zu leben geruht, selbstverständlich voller Gäste, mit denen man Promenaden zu Wagen und zu Pferde – die Segelpartieen nicht zu vergessen – machen kann, um am Abend in strahlend hell erleuchteten Salons das tagsüber eifrig betriebene Geschäft des Flirtens mit Grazie bis tief in die Nacht fortzusetzen. Und die Gäste? Damen tadellos toilettiert, in der Hofetiquette gedrillte Puppen, übrigens jeden Augenblick bereit, die Kappe über die Dächer zu werfen; Herren, die lieber sterben, als sich eine gesellschaftliche Unschicklichkeit zu Schulden kommen lassen, oder einen Verstoß gegen den Ehrencodex, dafür aber sich das Recht vindizieren, allen noblen Passionen zu huldigen, sollten sie auch gelegentlich ein Menschenopfer kosten –

Er brauchte nur seine gesellschaftlichen Erinnerungen der letzten Jahre wachzurufen. Der Name Leßberg tauchte da wiederholt unter andern auf. Der Graf war vor seiner Verlobung ein oft und gern gesehener Gast in Ebbas elterlichem Hause gewesen. Daß er mit der Familie scheinbar gebrochen, war mindestens ebenso auffällig, wie die ganz augenscheinliche Freude, mit der Ebba vorhin seine erste Wiederannäherung begrüßt hatte –

* * *


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