Friedrich Spielhagen
Opfer
Friedrich Spielhagen

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Der Leutnant hatte nicht übertrieben: in dem weiten Saal war jeder Platz besetzt, wenn der Ausdruck freilich auch nur für die zutraf, welche im Saale selbst und auf den breiten Galerien an den beiden Längsseiten und an der Breitseite über der Eingangsthür Stühle gefunden, während an den Wänden hin noch Hunderte Schulter an Schulter standen. Ein Gang, der von der Thür bis zur Plattform am entgegengesetzten Ende des Saales lief, war frei gelassen.

233 Aufmerksam verfolgte Wilfried, der, er wußte nicht recht von wem, auf einen Stuhl in der ersten Reihe unmittelbar vor der Plattform komplimentiert war, die weiteren Vorgänge. Auf der Plattform standen zwei Tische. An dem kleineren, schräg gegen den Saal gerichteten, hatten der Polizeileutnant und ein Wachmeister Platz genommen; während dieser den Helm aufbehielt, hatte jener den seinen ostentativ vor sich hingestellt. Hinter den größeren, dem Saale ganz zugekehrten, war der kleine Schneidermeister getreten, hatte mit einer Glocke laut geschellt, worauf eine verhältnismäßige Stille entstand; die Versammlung für eröffnet erklärt und daß zuerst zur Bildung des Büreau geschritten werden müsse. Wie es dabei zuging, blieb für Wilfried einigermaßen dunkel, da er von den aus der Menge im Saal zur Plattform hinauf oder von den Tribünen herabgerufenen Namen keinen einzigen verstand und geschworen hätte, es seien mindestens zwanzig verschiedene gewesen, während der kleine Schneidermeister nur drei gehört haben wollte, die er nun nannte, und die Betreffenden, falls aus der Versammlung kein Widerspruch erfolge, zum ersten, zweiten Vorsitzenden und Schriftführer erklärte.

Wilfried hatte den Eindruck, als ob das Ganze eine vorhin zwischen dem Pfarrer und Herrn Gutknecht verabredete Sache und der letztere, bereits mit seiner Präsidentenwürde ausgestattet, in den Saal getreten sei.

Und eine seltsame Veränderung war mit dem kleinen Mann vorgegangen. Er, der vorhin die Nervosität selbst schien, kein Wort vorbringen konnte, ohne mit Armen und Beinen zu zappeln, bot jetzt ein Bild vollkommenster Ruhe. Gelassen ordnete er ein paar Papiere vor sich auf dem Tisch, richtete einige Worte an seine Nachbarn rechts und links, erhob sich, schellte wieder – diesmal kurz und energisch – und erteilte Herrn Pfarrer Römer das Wort.

Der Pfarrer stand von einem Stuhl in der ersten Reihe auf, schob seine schwere Gestalt auf das 234 Rednerpult, das unmittelbar vor der Plattform aufgerichtet war, und wurde, wie er sich nun verbeugte, mit einem donnernden Applaus begrüßt, der sich zum zweitenmale, womöglich noch lärmender erhob, als hinter dem ersten her, von einer Seite, wo eine Schar von Studenten in weißen Mützen dicht gedrängt stand, sich ein kräftiges Zischen hatte vernehmen lassen.

Dann lautlose Stille.

Dann die Stimme eines Redenden, die Wilfried bekannt und doch wieder ganz fremd war: eine tiefe, wohllautende Stimme, dem gleichmäßigen und doch in jedem Moment nüancierten Rauschen des Windes in einem mächtigen Hochwalde vergleichbar, das, leiser, sanfter werdend, sich in der Tiefe des Forstes verlieren zu wollen scheint; dann, wieder näher kommend, allmählich schwillt und schwillt, um mit majestätischem Donner über das Haupt des Wanderers dahinzurollen.

Wieder und wieder fragte sich Wilfried: ist dies der Mann, der seine wenigen Worte zu zählen schien? dem man ein bedeutendes kaum zutraute? der dem Besucher den Rohrstuhl mit naiver Ungeschicklichkeit mitten ins Zimmer stellt? dem sein zehnjähriges Töchterchen helfen muß, weil er mit dem Anknöpfen eines Kragens allein nicht fertig wird?

Und: nein, antwortete er sich, das ist er nicht. Dies hier ist ein Denker und Dichter und Prophet, der ein stolzes Recht hat, nach dem Schnickschnack der Höflichkeit und der Fratzenkomödie der Gesellschaftsmanieren nicht zu fragen; keine Verpflichtung, als das heilige Feuer zu hüten, das in seinem Busen brennt.

In seinem ästhetischen Rausch wurde es Wilfried anfangs schwer, dem Gedankengange des Redners zu folgen, bis es ihm allmählich doch gelang. Und sich ihm das Bild, das jener von den aktuellen Zuständen entwarf, nach und nach aus einzelnen Zügen immer mehr zu einem Ganzen gestaltete. Aus voller Seele mußte er ihm 235 zustimmen, wenn er von der ungeheuren Schwierigkeit sprach, die selbst der wohlgesinnte Besitzende und Reiche zu überwinden hat, den Wünschen, Ansprüchen, Forderungen des Socialismus gerecht zu werden; und wie diese Schwierigkeiten mit der steigenden Kultur nur immer gewachsen sind. Und dabei keineswegs schlechthin von bösem Willen zu reden sei, sondern eben von der jähen Kluft, welche die historische Entwicklung, für die man keinen einzelnen verantwortlich machen könne, zwischen den an der Fülle des Wohlstandes, der ästhetischen und intellektuellen Bildung participierenden besitzenden Klassen und den besitzlosen, aller dieser Vorzüge baren und entbehrenden, aufgerissen habe, das Verständnis und die Verständigung hinüber und herüber unendlich erschwerend.

Wieder einmal erhob sich die Rede zu pathetischer Kraft!

Dennoch, o, des Übermaßes der Leichtfertigkeit und Gedankenlosigkeit, wenn nicht fühlloser Herzenshärtigkeit, hier von einer Unüberbrückbarkeit zu reden und zu dekretieren, so sei es immer gewesen und so müsse es bleiben in Ewigkeit! Freilich, der alte Germane, er hätte wohl dem ins Gesicht gelacht, der zu ihm gesagt: es werde eine Zeit kommen, in welcher an der Stelle der unermeßlichen Wälder, die er auf der Jagd nach Ur und Bär durchstreifte, goldene Kornfelder wogen und prangende Städte mit tausenden und tausenden friedlicher Bewohner sich erheben würden. Spottete doch selbst ein Alexander von Humboldt über die ersten Versuche der Telegraphie und nannte sie ein artig Stubenspielzeug, dem er jede größere Bedeutung absprechen müsse. Heute giebt es keine Urwälder mit ihrem wilden Getier in Deutschland mehr, und Telegraphendrähte überspannen die Erde. Gewiß hat eine sociale Frage zu allen Zeiten existiert; aber – eine Folge der Errungenschaften der Wissenschaften, welche sofort allen gleicherweise zu gute kommt, und zum Gemeingut macht, was vormals der exklusive Besitz einiger wenigen Glücklichen war – die 236 von heute gleicht denen von früher wie der Ocean einem Landsee. Wenn im Altertum Tausende von entwürdigten Sklaven lieber den Schlachtentod starben als die Peitsche des Treibers länger zu erdulden; am Ausgang des Mittelalters Hunderttausende in Armut, Unbildung und Roheit verkommene Hintersassen und Hörige an die Paläste und Schlösser der Herren und Gebieter fürchterlich klopften – heute handelt es sich um Millionen. Millionen bringt man nicht so leicht, bringt man nun und nimmer zum Schweigen. Und fällt die sociale Frage heute quantitativ so unendlich viel schwerer ins Gewicht, als jemals vorher, so ist sie auch qualitativ eine andre geworden: eine gedanklich vertiefte, den ganzen Bestand der Gesellschaft durch- und unterwühlende, mit dem ganzen gewaltigen Apparat der Wissenschaft arbeitende; die zu ihren ungeheuren Problemen spricht, wie Jakob zu dem Engel: ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn.

Hier zerriß die andächtige Stille, mit welcher die Hörer solchen Worten lauschten, ein gellender Pfiff, wie es schien, aus der Gruppe der Studenten, der eine fieberhafte Aufregung hervorrief. Hunderte von Stimmen zugleich schrieen, brüllten: Hinaus! hinaus! Ein heftiges Drängen nach der Seite, von der der ominöse Laut gekommen schien; den Tumult kaum übertönend, die Glocke, die der kleine Vorsitzende unablässig schwang. Dann hatte er sich doch so weit Ruhe verschafft, um mit einer Stimme, die etwas von dem scharfen Klang seiner Glocke hatte, in den Saal hineinrufen zu können:

Es wird nicht verlangt noch erwartet, daß die Worte des Redners allen gefallen; aber ein Mißfallen, das sich so pöbelhaft äußert; ein Widerspruch, der keine besseren Argumente vorzubringen weiß – die verurteilen sich selbst. Ich bitte den Redner, fortzufahren.

Großer Beifall lohnte dem energischen Mann, und Pfarrer Römer, der während der ganzen Zeit mit über der Brust verschränkten Armen, ohne eine Miene zu 237 verändern, ruhig in den Aufruhr geblickt hatte, nahm seine Rede wieder auf:

Nachdem ich Ihnen so unsre Aufgabe in großen Umrissen vorgeführt habe, bitte ich nun, in die Einzelheiten gehen zu dürfen, für die ich freilich Ihre Geduld und Aufmerksamkeit in erhöhtem Maße in Anspruch nehmen muß.

Es konnte nicht ausbleiben, daß der nun folgende, weitaus längere Teil des Vortrags nicht mehr die Beifallsstürme entfesselte, wie der erste; dazu wurde zu viel socialwissenschaftliches Material aufgehäuft. Es schien Wilfried mehr als zweifelhaft, daß hier alle zu folgen vermochten, besonders die in nicht geringer Zahl anwesenden Frauen. Auch die Socialdemokraten, meinte er, würden nicht eben erbaut sein, wenn der Redner ihnen zwar die Berechtigung eines großen, ja, des größten Teils ihrer Forderungen willig zugab; aber dafür hielt, daß ihr Staat der Zukunft ein Utopien sei und bleiben werde, weil sie ihn nicht hervorwachsen ließen aus der Realität der historisch gewordenen Verhältnisse, sondern aus Schulsätzen, über deren Richtigkeit, oder Unrichtigkeit man sich in Ewigkeit streiten könnte, ohne einen praktischen Schritt weiter zu kommen.

Was dazu wohl Frau Brandt sagen würde, dachte Wilfried bei sich.

Aber da war etwas anderes, woran er selbst entschiedenen Anstoß nahm und was ihn zweifeln ließ, ob denn der Zukunftsbau, wie ihn sich der Redner dachte, auf einem festeren Grunde ruhen werde. Der denn kein anderer sei, noch sein könne, als der Glaube an Jesu Christ. Wobei ihm doch, wie bereits bei der Lektüre einiger Broschüren des Pfarrers, völlig unklar bleiben wollte, was oder wen man sich nun unter Christus zu denken habe: die Personifikation des Humanitätsbegriffs, die sich auch die vorgeschrittene Philosophie wohl gefallen lassen mochte, oder den eingeborenen Sohn Gottes der Evangelien, an dem die Orthodoxie festhält. Er hatte gehofft, die Rede 238 werde über einen Punkt, der ihm von einschneidendster Wichtigkeit schien, keinen Zweifel lassen, und war verstimmt, sich darin getäuscht zu sehen. So verstimmt, daß er den vielen bedeutenden Stellen, an denen auch jetzt in der Rede kein Mangel war, den rechten Geschmack nicht mehr abzugewinnen vermochte, und es nicht ungern sah, als der Pfarrer seine anderthalbstündige Rede mit einem herrlichen Appell an die Gewissen der Reichen und Mächtigen schloß und vom Rednerpulte herabstieg, begleitet von dem tosenden, lang anhaltenden Beifall seiner Gemeinde.

Was zunächst kam, war für Wilfried mehr peinlich als interessant.

Ein unbärtiger Jüngling hatte den Platz des Pfarrers eingenommen, nach seiner weißen Mütze zu schließen, einer jener oppositionslustigen Studenten; in seiner dürftigen Erscheinung ein seltsamer Gegensatz zu dem hünenhaften Vorredner. Und nicht minder in seiner Sprechweise, die eigentlich nur ein krähendes Schreien war, das in den heftigsten Ausdrücken mit dem religiösen Standpunkt des Pfarrers ins Gericht gehen zu wollen schien. Aber es war nicht viel zu verstehen vor der Unruhe im Saal, die immer größer wurde, wie wacker sich auch der kleine Vorsitzende des Redners annahm. Der nun mochte nach einiger Zeit selbst einsehen, daß er vergeblich wider den Strom zu schwimmen versuchte, und verließ die Rednerbühne, dann auch den Saal, mit ihm die Schar der Kommilitonen unter Anstimmen des ersten Verses des Lutherliedes.

Dann war ein anderer aufgetreten, ebenfalls ein junger Mensch, ein Handwerker, wie es schien, der sich als zielbewußter Socialdemokrat ankündigte, und, obgleich er es mit der Grammatik nichts weniger als genau nahm, durch die Gewandtheit seiner Rede und die eindringliche Weise, in der er sprach, die Aufmerksamkeit der Hörer zu erregen und festzuhalten verstand. Was er vorbrachte, war freilich nach Wilfrieds Dafürhalten, nur ein Auszug der Marxschen Lehre, aber so gut disponiert, mit so viel drastischen 239 Beispielen aus dem praktischen Leben illustriert – Wilfried staunte, wie es möglich sei, daß ein so junger Mann, der offenbar nur die Bildung einer Volksschule genossen, ein so großes, schwieriges Material so sicher beherrschen könne. Dabei verstand er es durchaus, seine Auseinandersetzungen so zu gestalten, daß ihre Beziehung zur Rede des Pfarrers wohl sichtbar blieb, ja, immer deutlicher hervortrat, sich immer schärfer zuspitzte zum Mißvergnügen der Anhänger jenes, die dann auch nicht zögerten, in Murren, zornigen, höhnenden Zwischenrufen laut und lauter sich kund zu geben. Wieder und wieder mußte die Präsidentenglocke ihre Schuldigkeit thun, bis der Redner, nun seinerseits mit offenem Hohn, als sein letztes Wort in den Saal hineinschmetterte:

Sie wollen nicht hören! Gut! Sie werden zu fühlen bekommen, was Sie nicht hören wollen!

Und vom Pulte herabstieg.

Wilfried war dem Redner in immer wachsender Erregung gefolgt. Das war nicht seine Sprache, die da oben gesprochen wurde, aber seine Gedanken waren es, die er oft und oft gehegt, als falsch verworfen, als richtig wieder aufgenommen; die ihn als immer stärker hervorklingende Grundmelodie durch die letzten Jahre seines Lebens begleitet hatten. Bis sie in diesen Tagen eine Gewalt über ihn gewannen, vor der die abmahnenden Stimmen von früher verstummen mußten. Die Reichen und die Mächtigen, an deren Gewissen der Pfarrer appelliert – jetzt erst glaubte er sie kennen gelernt zu haben; die Armen und Elenden – zum erstenmale hatte er ihnen in die verzweifelten Augen geblickt. Ihnen, die in dumpfer Resignation von sich selber sagten, daß ihnen niemand helfen könne. Und doch eines helfen konnte, helfen würde, helfen mußte –

Und dann stand er auf der Rednerbühne. Hätte es sein Leben gekostet, er würde nicht zu sagen gewußt haben, wie er dahingekommen.

Sie wollen nicht hören, hat er gesagt. Er irrt sich. 240 Sie wollen es wohl. Nur das rechte Wort muß es sein. Wissen Sie, wie es heißt? Es heißt Gerechtigkeit. Sie soll geschafft werden und walten auf Erden. Und sie kann und wird es. Denn, ist sie gleich die herrlichste und die Quintessenz aller Tugenden, sie ist darum nicht weniger rein menschlich, ja, das ganz eigentlich Menschliche. Das Tier weiß nichts von Gerechtigkeit, nur der Mensch, und um so mehr, je mehr er Mensch ist. Ihn auf diese höchste Stufe seiner Entwickelung zu heben, dazu bedarf es keiner unter- und auch keiner überirdischen Mächte. Die wollen wir aus dem Spiel lassen: sie haben keine andere Wirkung, als es zu verwirren. Die Stimme einer mystischen Autorität mag laut genug gesprochen haben in der dumpfen Stille einer wissensarmen, glaubensreichen Zeit – in dem Gerassel der Maschinen, dem Rollen der Lokomotiven, dem Geheul der Dampfpfeife verhallt sie ungehört. Aber nicht von all dem Lärmen übertönt – nein! lauter nur und lauter – aus den Sälen der Fabriken, aus den dunklen Gassen, drin die Armut wohnt, aus der Brust jedes Menschen – erschallt das hehre Wort: Gerechtigkeit. Ich sagte absichtlich nicht: jedes fühlenden Menschen. Es klänge zu sehr an jene geheimnisvollen Mächte an, die ihren Dienst ebensowohl versagen, wie gewähren können. Das ist es ja, was der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen wird, daß der Mensch sie denken muß, sich in sie hineindenken muß, er mag mit seinem Gefühl dabei sein oder nicht. Das Gefühl mag stumpf an dem Elend vorübergehen; das Denken kann es nicht. Es kann nicht in des Elends hohle Augen sehen, ohne sich bewußt zu werden, daß eben dies Elend auch starke, riesenstarke Glieder hat, die es einmal ausrecken wird, wie der gefangene Simson seine Arme. Und unter dem Druck zusammenbrechen werden die Säulen, und mit ihnen das Haus, das sie trugen, und –

Im Namen des Gesetzes! Die Versammlung ist aufgelöst!

241 In der lautlosen Stille, mit der man seinen Worten gelauscht hatte, wie aus einem Traum erwachend, blickte sich Wilfried um nach der scharfen Stimme, die hinter ihm diese Worte gerufen. Es war die des Polizeileutnants gewesen, der, hoch aufgerichtet, den Helm auf dem Kopfe, hinter seinem Tisch stand und jetzt, den Wachtmeister an der Seite, auf ihn zutrat mit den in geschäftsmäßig gleichgültigem Ton gesprochenen Worten:

Sie wollen die Güte haben, Herr Graf, mir Ihre Adresse anzugeben.

Wilfried that es.

Also Wachtmeister, schreiben Sie: Graf – Ihr Vorname, wenn ich bitten darf! – also: Graf Wilfried von Falkenburg, Berlin, Landgrafenstraße Nummer sechzehn. – Und nun sorgen Sie, daß der Saal ohne Aufenthalt sich leert, und auch draußen alles in gehöriger Ordnung verläuft!

Mit kurzem, kaum merklichen Griff an seinen Helm hatte er sich abgewandt, die Stufen von der Plattform in den Saal hinabsteigend. Wilfried hatte keinen Blick für ihn. Seine Augen waren starr zur Tribüne emporgerichtet, wo er eben jetzt erst zwei Frauen bemerkt hatte, von denen die eine grüßend mit beiden Händen winkte: Frau Brandt. Und neben ihr, die regungslose, deren Kopf ein schwarzes Tuch umhüllte, so daß man von dem eingerahmten bleichen Gesicht nur wenig sah, und die er doch sogleich an den großen, dunklen, in dem Schein des Kronleuchters schimmernden Augen erkannte: Lotte.

Großer Gott! Wenn er es recht bedachte, ohne zu ahnen, daß sie zugegen waren – er hatte ja nur für diese beiden gesprochen; ohne sie, die Luft und Licht in sein dumpfes, dunkles Leben gebracht, gar nicht sprechen können.

Er mußte sie sehen, ihnen danken; er konnte das Ende einer Verhandlung, die der Pfarrer, der ihm eben den Rücken wandte, mit dem Wachtmeister und dem kleinen 242 Vorsitzenden hatte, nicht abwarten, und stürzte sich in den Saal. Aber obgleich da kein ungeberdiges Drängen und Schieben war, vermochte er doch nicht, die dichten Scharen zu durchbrechen; es mochten zehn Minuten vergangen sein, bis er zu der Ausgangsthür und auf den großen Flur gelangte. Vielleicht, daß man auf ihn gewartet hatte. Aber es war nicht wohl möglich: die Schutzleute duldeten kein Stehenbleiben. So denn auf der Straße. Hier derselbe Vorgang; nur daß die Schutzleute vollends keine Umstände mehr machten und etwa Zögernde barsch ihrer Wege wiesen.

Es blieb ihm nichts andres übrig, als ebenfalls den Heimweg anzutreten.

* * *


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